
Jazzlegende Coco Schumann "Dass ich hier sitze, habe ich der Musik zu verdanken"

Der junge Mann mit dem vollen, dunklen Haar trägt eine schwarze Krawatte und ein weißes Hemd mit Davidstern. Würdevoll, fast ein wenig trotzig sitzt er hinter seinem Schlagzeug, den Blick auf den Boden gerichtet. Das Schwarz-Weiß-Foto hängt im Arbeitszimmer von Coco Schumann, im Obergeschoss eines bescheidenen Reihenhäuschens im Berliner Westen.
"Sehen Sie, so schön war ich mal", sagt der 90-jährige Mann mit der großen Narbe auf der Glatze, seine Augen blinzeln schelmisch. Über dem Foto hängt eine Postkarte mit dem Spruch von Charlie Chaplin: "Jeder Tag, an dem du nicht gelächelt hast, ist ein verlorener Tag." Coco Schumann ist ein Mann, dem nichts und niemand die Lebensfreude zu rauben vermochte.
Das Porträt des hübschen Schlagzeugers stammt aus einem Film, der vor 70 Jahren entstand - und eine der perfidesten Lügen verkörpert, zu denen die Nationalsozialisten fähig waren. Es handelt sich um "Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet". Von der SS in Auftrag gegeben, stellte der Propagandafilm das Konzentrationslager nahe Prag als heiteres Ferienidyll dar: als Ort der Muße und Erholung, an dem jüdische "Siedler" in der Sonne saßen, sich im Kaffeehaus vergnügten und miteinander Fußball spielten.
Dass Theresienstadt in Wahrheit nichts weiter war als eine Zwischenstation auf dem Weg in die Vernichtungslager im Osten, verschweigt der Film ebenso wie den Umstand, dass die Menschen dort in Dreck und Elend hausten, hungerten, schwer arbeiteten - und permanent mit der Angst leben mussten, am nächsten Tag nach Auschwitz deportiert zu werden. Coco Schumann war einer der Lagerinsassen, die von der SS gezwungen worden waren, an dem Propagandafilm mitzuwirken. Fürs Ausland produziert, sollte der 90-Minüter dem Zuschauer suggerieren, wie gut es den Juden in den deutschen Konzentrationslagern doch ergehe.
"Man hat uns fürs Mitmachen die Freiheit versprochen. Und ich habe es geglaubt", sagt Schumann, nachdenklich zuckt der kleine Mann in Jeans und Wildlederjacke mit den Achseln. Der gebürtige Berliner wurde im März 1943 nach Theresienstadt deportiert, weil er als Minderjähriger und Jude in diversen Tanzklubs verbotene Swing-Musik gespielt hatte. Damals war er gerade einmal 18 Jahre alt. Und erst einmal erleichtert, nicht sofort in einem Vernichtungslager gelandet zu sein. Die Insassen von Theresienstadt trugen keine Häftlingskleidung und bekamen ab und zu Pakete von ihrer Familie geschickt, erzählt er.
Gleich am ersten Tag in Theresienstadt entdeckte Schumann ein Kaffeehaus, aus dem Jazzklänge drangen. Der Musiker eilte hin und wurde vom Fleck weg von der Lagerkapelle namens "Ghetto Swingers" engagiert - der alte Schlagzeuger der Band war vor wenigen Tagen nach Auschwitz transportiert worden. "Unsere Erkennungsmusik war 'I Got Rhythm' von Gershwin. Eine fabelhafte Band. Ich war so glücklich, endlich wieder Musik machen zu dürfen", sagt Schumann.
Wenn er musizierte, blendete Schumann all das Elend, die Demütigungen, das Ausgeliefertsein aus. Und auch die groß angelegte Propagandalüge von Theresienstadt: Schumann ließ sie nicht an sich heran. Ab Ende 1943 ließ die SS das Lager in großem Stil verschönern, um eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes zu täuschen. Rosen wurden gepflanzt, Spielplätze angelegt, Häuserfassaden gestrichen. Die Häftlinge mussten Theaterstücke und Lieder einstudieren, die Ghetto Swingers bekamen "schicke, weiße Hemden", erinnert sich Schumann. Und um die dramatische Überfüllung des Gettos zu verschleiern, wurden im Mai 1944 kurzerhand 7500 Juden nach Auschwitz transportiert.
Am 23. Juni 1944 besuchte das Rote Kreuz Theresienstadt - und fiel auf den Schwindel herein. Sieben Wochen später begannen die Dreharbeiten für den SS-Propagandastreifen. Dass der Theresienstadt-Film die Opfer aufs Zynischste verhöhnte, erkannte Schumann damals gar nicht, im Gegenteil. "Ich war ein unbefangener Jüngling, stolz und froh, dass ich den Film machen durfte. Er war eine willkommene Ablenkung vom tristen Lageralltag, außerdem gab es Sonderrationen zur Belohnung", sagt er.
Schumann war nicht in der Lage, die wahren Dimensionen jener SS-Farce zu begreifen - genauso wenig wie all die Kinder, die vor der Kamera posieren mussten. In den erhaltenen Filmfragmenten beißen sie mit strahlenden Gesichtern in Butterbrote und buddeln im Sandkasten. Sie schlagen Rad, wippen und schieben Spielzeugautos hin und her, während eine Stimme aus dem Off Lügen verbreitet wie etwa: "Die Gestaltung der Freizeit ist jedem einzelnen überlassen" oder: "Auch ein Dampfbad steht der Bevölkerung zur Verfügung."
Anders als den Kindern, anders als Schumann und seinen Ghetto Swingers, gelang es den älteren Menschen nur notdürftig, fürs Filmteam zu schauspielern. Vielfach vermieden sie den Blick in die Kamera, ihr gezwungenes Lachen wirkt fratzenhaft, die vorgetäuschte Ausgelassenheit künstlich. "Die Alten haben alles begriffen, sie haben die Wahrheit gerochen", sagt Schumann. Er selbst erkannte die Wahrheit erst, als er auf dem Boden des stinkenden Güterwaggons kauerte: "Unser Lohn für den Film war die Deportation nach Auschwitz-Birkenau."
Kaum waren die letzten Klappen des Propagandafilms "Theresienstadt" gefallen, begann die SS ab Ende September 1944 mit den Liquidierungstransporten Richtung Osten. Woche für Woche wurden Tausende Theresienstädter Häftlinge deportiert. Allein zwischen dem 28. September und dem 31. Oktober 1944 wurden 18.413 Menschen in das Vernichtungslager geschickt. Allen voran: Regisseur Kurt Gerron. "Auf dem Bahnhof ging er vor dem Lagerkommandanten auf die Knie und bettelte ihn an: ,Ich habe doch euren Film gemacht!' Genutzt hat es nichts", sagt Schumann. Am 28. Oktober 1944 wurden Gerron und seine Ehefrau ermordet.
Coco Schumann überlebte den Holocaust - dank der Musik. Der alte Mann tut sich schwer, über die Gräuel im Vernichtungslager zu sprechen. "Lieber erzähle ich Ihnen das Schönste, was mir dort passiert ist: Gleich am ersten Tag wurde ich von einem Berliner erkannt, einem Fan aus der Rosita Bar", sagt er. Dieser Mann, ein politischer Häftling namens Heinz Herrig, stellte Schumann den KZ-Oberen als Musiker vor.
Fortan spielte Schumann zur Unterhaltung der Lagerältesten - "gewöhnliche arische Berufsverbrecher, die sich jeweils eine Band hielten und miteinander konkurrierten", wie er sagt. Nach und nach kamen die Mitglieder der Theresienstädter Ghetto Swingers in Auschwitz an, unter ihnen Musikgrößen wie der tschechische Jazztrompeter Eric Vogel und der deutsche Starpianist Martin Roman.
Die Häftlinge spielten auf Kommando um ihr Leben - was auch immer die Nazi-Schergen sich wünschten. "Gassenhauer wie 'Rosamunde', aber auch Foxtrott, Arien oder Zigeunermusik: Wir mussten alles draufhaben. Wer einen bestimmten Song nicht spielen konnte, kam zur Selektion", sagt Schumann. Um nicht selbst zu sterben, lieferte Schumann den Soundtrack zu den Gräueltaten: Er musizierte zur Unterhaltung der NS-Verbrecher beim Tätowieren der Neuankömmlinge und spielte abends bei Saufgelagen der SS auf.
Regelmäßig standen Schumann und die anderen Häftlinge mit ihren Instrumenten am Lagertor und intonierten "La Paloma", während die Selektierten an ihnen vorbei zur Arbeit getrieben wurden. Eines Abends, so ist es auch in Schumanns Biografie "Der Ghetto-Swinger" nachzulesen, mussten sie bei einem besonders makaberen Besäufnis auftreten: Die Lagerältesten vergnügten sich in Frauenkleidern der vergasten Jüdinnen und zwangen die Musiker, gemeinsam mit ihnen Sekt aus Damenschuhen zu trinken.
Als Gage durften sie sich in den "Kanada" genannten Effektenkammern, wo all die Brillen, Schuhe und anderen Habseligkeiten der Ermordeten lagerten, das beste Instrument aussuchen. "Man hatte den Häftlingen bei der Ankunft ja alles abgenommen", erzählt Schumann.
Zweifellos: Schumann und die anderen waren privilegiert, bekamen Sonderrationen sowie maßgefertigte dunkelblaue Blazer, auf dem Revers eine goldene Lyra - antikes Saiteninstrument und Symbol der Harmonie. Gleichzeitig unterlagen auch die Lagermusiker der grausamen Willkür der SS-Männer: Sie wurden gedemütigt, mussten morgens um fünf zum Appell antreten und stundenlang im eiskalten Schlamm ausharren. Wie kann ein Mensch all das verkraften? "Das Denken hatte ich mir längst abgewöhnt. Ich wurde dirigiert. Abends war ich froh, dass ich noch am Leben war", sagt Schumann leise.
Anfang 1945 kam der Musiker mit einem Transport ins KZ-Außenlager Kaufering, unweit von Landsberg. Wie durch ein Wunder überlebte Schumann auch dieses Lager, ebenso wie den Todesmarsch in Richtung Innsbruck und das Fleckfieber. Ende April 1945, zwei Wochen vor seinem 21. Geburtstag, wurde Schumann bei Wolfratshausen von amerikanischen Truppen befreit. Er kehrte nach Berlin zu seiner Familie zurück. Zurück ins einstige Zentrum der NS-Diktatur. "Was kann die Stadt dafür?", fragt er.
Auch "La Paloma", das Lieblingslied der SS-Männer in Auschwitz, bereitet ihm heute keine Schmerzen mehr. "Was kann die Musik dafür, dass sie missbraucht worden ist?", so Schumann. Er überlebte die Hölle - und spielte in einem Film mit, der es wagte, die Hölle als Paradies zu verhöhnen. Aber der Musiker lässt es nicht zu, sich davon umwerfen zu lassen. "Wenn ich jedes Mal darüber trauern würde, wäre ich ein kaputter Mensch", sagt Schumann.
Im August 1945 traf er Gertraud Goldschmidt, seine große Liebe und spätere Frau: Sie erkannte den einstigen Ghetto-Swinger aus Theresienstadt auf dem Berliner Ku'damm wieder. Schumann blieb in Berlin, spielte in verschiedenen Bands und fuhr viele Jahre als Gitarrist auf Passagierschiffen zur See. Was ihm in der NS-Zeit passiert war, erzählte er dabei niemandem. "Ich wollte nicht, dass die Menschen nur aus Mitleid klatschen", sagt er.
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Erst auf Drängen eines Journalisten gab Schumann nach und offenbarte 1986 seine Geschichte. Energisch verwahrt er sich dagegen, nur als Opfer wahrgenommen zu werden. "Ich bin kein Überlebender, der auch Musik macht. Ich bin ein Musiker, der überlebt hat": So lautet das Mantra der Jazzlegende Schumann.
Auch mit 90 Jahren bemüht er sich, jeden Tag ein wenig die Saiten zu zupfen. Seine Gitarren stehen überall - im Wohnzimmer, im Arbeitszimmer, im Flur. Zwar musste er sich wegen eines Hirntumors mehreren Operationen unterziehen und schmerzen seine Finger seit einem Sturz im Sommer 2014, weshalb er deshalb derzeit keine öffentlichen Auftritte mehr wahrnimmt. Ans Aufhören denkt Coco Schumann jedoch noch lange nicht: "Musik ist mein Leben. Ich bin Musik. Dass ich hier sitze, habe ich der Musik zu verdanken."
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Jubeln statt jammern: Der Gitarrist Coco Schumann während eines Konzerts in Berlin (Aufnahme von 2005). "Ich jammere nicht, dass ich im KZ war. Ich jubele, dass ich rausgekommen bin", sagte der 90-jährige Musiker im einestages-Interview.
Tagsüber Klempner, nachts Swing-Star: 1936 bekam Coco Schumann (hier bei einer Gedenkveranstaltung im Jahr 2013) seine erste Gitarre geschenkt - und mauserte sich schnell zum talentierten Musiker. Auf Betreiben seiner Eltern hatte er als junger Mann zwar den Klempner-Beruf erlernt - seine Passion jedoch galt dem Swing und Jazz.
Dreimal illegal: Seit den späten Dreißigerjahren verbrachte Coco Schumann seine Nächte regelmäßig in Berliner Kneipen wie der Rosita-Bar und Arndts Bierbar, wo er mit Musikern wie Tullio Mobiglia (Foto von 1942) auftrat. Dass der Swing von den Nationalsozialisten verboten worden war, störte ihn nicht. "Ich befand mich damals sozusagen in der dreifachen Illegalität: Ich war Jude, minderjährig - und spielte Swing!", sagte Schumann im einestages-Interview.
Deportation nach Theresienstadt: Im März 1943 flog Coco Schumanns illegales musikalisches Engagement auf. Sein Vater, der im Ersten Weltkrieg als Soldat gedient hatte, konnte verhindern, dass der damals 18-jährige Schumann sofort nach Auschwitz deportiert wurde: Schumann kam zunächst nach Theresienstadt. Hier schloss er sich der Lagerband Ghetto Swingers an.
Als Statisten missbraucht: Coco Schumann und andere Häftlinge mussten in einem SS-Propagandafilm mitwirken, der im Sommer 1944 in Theresienstadt gedreht wurde - und das Getto als vermeintliches Idyll verklärte. Das Szenenbild zeigt gut gekleidete Häftlinge, die durch die herausgeputzten Straßen des Lagers bummeln. Die Wahrheit hinter dieser perfiden Lüge jedoch sah anders aus: Von den 141.000 Juden, die nach Theresienstadt deportiert worden waren, starben etwa 33.500 Menschen vor Ort - und 88.000 Häftlinge wurden in Vernichtungslager im Osten deportiert.
Szene aus dem SS-Propagandafilm "Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet" von 1944/45
"Ich wurde dirigiert": Ende September 1944 wurde Coco Schumann ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Wie bereits in Theresienstadt musizierte Schumann auch hier - seine Virtuosität und Chuzpe retteten ihm das Leben. Über die Gräuel sagt er im einestages-Interview: "Das Denken hatte ich mir längst abgewöhnt. Ich wurde dirigiert. Abends war ich froh, dass ich noch am Leben war."
Stationen des Schreckens: Anfang 1945 kam Coco Schumann mit einem Transport nach Kaufering, in ein Nebenlager des KZ Dachau (Foto). Der junge Mann überlebte auch diese Station des Schreckens. Völlig ausgezehrt und vom Fleckfieber befallen, wurde er im April 1945 auf einem Todesmarsch Richtung Innsbruck von US-Soldaten befreit.
Prominente Musikerkollegen: Coco Schumann, der mehrfach zum besten deutschen Jazz-Gitarristen gewählt wurde, spielte mit zahlreichen internationalen Größen, darunter Louis Armstrong, Ella Fitzgerald und Dizzy Gillespie. Zudem fuhr er mehrere Jahre lang auf Passagierschiffen, etwa der "Hanseatic", als Musiker mit.
Der Ghetto-Swinger: 2012 brachte der Schauspieler und Autor Kai Ivo Baulitz das Leben des Coco Schumann als Schauspiel auf die Bühne. Das Bühnenbild aus dem Rennaissance-Theater Berlin zeigt eine Szene mit Konstantin Moreth (l.) und Christoph Tomanek (Aufnahme von 2014). Titel des Theaterstücks: "Der Ghetto-Swinger". Den gleichen Titel trägt die Biografie über Coco Schumann, die 1996 erschien.
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