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Verschollener Jazz-Star: "Was ist los, Miller, wollen Sie ewig leben?"

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Verschollener Swingmusiker Glenn Miller "Hey, wo sind die verdammten Fallschirme?"

Jazzidol Glenn Miller hielt US-Soldaten in Europa mit seiner Musik bei Laune. Für Weihnachten 1944 plante er ein pompöses Konzert in Paris - aber plötzlich war der umjubelte Weltstar spurlos verschwunden.

Die US-Soldaten jubeln, klatschen, trampeln. Die altehrwürdige Pariser Konzerthalle Olympia gleicht am 25. Dezember 1944 einem Hexenkessel, als rund 50 Jazzmusiker der Glenn Miller Army Air Force Band auftreten. An eine "absolut elektrisierende Atmosphäre" erinnerte sich Posaunist Nat Peck Jahrzehnte später in der ZDF-Doku "Weihnachten 1944", an "nichts als wilden Enthusiasmus" im Olympia.

Die Begeisterung ist verständlich. Paris feiert sein erstes Weihnachten nach der Befreiung von den Nazis. Der Krieg scheint gewonnen, auch wenn die Wehrmacht mit ihrer Ardennenoffensive unerwartet Erfolge hat. Die in Paris stationierten und durchreisenden US-Soldaten gieren nach Ablenkung. Um die Truppe bei Laune zu halten, sind Dutzende Musiker in der Stadt. Die Idee stammt vom Namensgeber und Star der Band: Glenn Miller, berühmt durch Welthits wie "In the Mood" und "Moonlight Serenade" .

Nur: Miller fehlt an diesem 25. Dezember - wie schon bei einem ähnlich umjubelten Konzert vier Tage zuvor. Am 15. Dezember war der Bandleader bei schlechtem Wetter in einer kleinen Maschine von England Richtung Paris geflogen. Seitdem gilt er als vermisst. Seine Band steht unter Schock und tritt dennoch tapfer weiter auf - "in gewohnter Routine", so Peck.

Auch Helen Miller in den USA hört am Weihnachtsabend einen Ausschnitt des Konzerts im Radio. Am Ende werden alle Musiker aufgezählt - nur ihr Mann nicht. Dabei ließ er ihr noch kurz zuvor einen teuren Phonographen zustellen, eine lange arrangierte Weihnachtsüberraschung. Trotzig schreibt Helen Miller am Weihnachtsabend an Don Haynes, den Bandmanager in Paris: "Es braucht schon mehr als eine Vermisstenmeldung, um mich in die Knie zu zwingen."

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Heute weiß man etwas mehr über das Verschwinden von Glenn Miller. Damals weigerten sich viele Menschen zu glauben, einer der größten Musiker der Swing-Ära könnte bei einem banalen Flugzeugunglück gestorben sein. Bald kursierten die wildesten Theorien: Wurde Millers Flugzeug abgeschossen, fristete er danach im Verborgenen ein Leben als Krüppel? Hat man ihn gezielt ermordet? Auch in Paris soll Miller noch gesehen worden sein - erschlug ihn dort jemand im Streit in einem Bordell?

Das Drama vor 75 Jahren hätte Miller leicht vermeiden können. Nach seinen Erfolgen in den Dreißigern stand er vor einer großen Zukunft. Seine Musik schaffte es nach Hollywood, 1942 spielte er im Musicalfilm "Orchestra Wives" selbst die Hauptrolle und erhielt eine Goldene Schallplatte für den Nummer-1-Hit "Chattanooga Choo Choo" . Millers Musik war so populär, dass Jazz-Puristen sie schon als zu kommerziell kritisierten.

Mit Swing gegen die Nazis

Miller hätte in der sicheren Heimat Millionen verdienen können. Niemand zwang ihn in den Krieg - außer sein ausgeprägter Patriotismus.

1942 trat er mit 38 Jahren und als Vater zweier adoptierter Kinder in die US-Armee ein und leitete bei den Luftstreitkräften bald das Army Air Forces Orchestra. Erst in London, dann etwas nördlich in Bedford verbrachte er Monate mit Konzerten für die britischen Truppen.

In der BBC wetterte Miller mit einer deutschsprachigen Moderatorin, die ihn als "schneidigen Major" vorstellte, in einer "Wehrmacht Hour"  gegen die Nazis: In seinem Orchester, sagt er, spielten Musiker mit Wurzeln aus vielen Ländern, auch aus Deutschland, als "wahre Amerikaner" zusammen: "Das ist ein Symbol für die Einheit und den Kampf für Freiheit und Frieden."

Auftritt vor britischen Truppen 1943

Auftritt vor britischen Truppen 1943

Foto: The Granger Collection/ ullstein bild

So rückte Miller dem Krieg immer näher - und der Krieg gelegentlich ihm: Im November 1944 explodierte eine V2-Rakete neben seinem Hotel und zerfetzte mehrere Zivilisten.

Das schien Wirkung zu zeigen. Auf Bandmitglieder wie den Cellisten Bob Ripley wirkte ihr sonst oft ziemlich herrischer Chef mitunter "sehr depressiv". Miller habe "stark getrunken" und nicht geglaubt, jemals wieder nach Hause zurückzukehren.

Dem Tod immer näher

Trotzdem plante er im Dezember 1944 ungeduldig den Umzug nach Paris. Penibel erstellte Miller eine persönliche Packliste für 36 Kisten und Koffer: Platz für Trommeln, Verstärker, Notenständer, Reparaturwerkzeuge. Ein Orchester im Krieg über den Kanal zu fliegen, war eine logistische Herausforderung. Die Ausrüstung der Band wog 2500 Kilo. Miller wollte vor seinen Musikern in Paris sein, um alles zu organisieren.

"Ich bin mir sicher, Sie werden auch in Paris großartige Arbeit leisten", schrieb ihm zum Abschied ein BBC-Mitarbeiter, der auf eine Übertragung des Weihnachtskonzerts hoffte. Der britische König dankte dem US-Musiker im Namen der Truppen, offenbarte sich als "großer Fan" - und erinnerte an den "donnernden Applaus" der Soldaten bei all den Konzerten. Ein letztes Foto vom 12. Dezember 1944 zeigt Miller lächelnd in weißer, akkurat gebügelter Hose neben seinem Manager Don Haynes.

Das letzte Foto von Glenn Miller (Mitte; mit Paul Dudley und Don Haynes)

Das letzte Foto von Glenn Miller (Mitte; mit Paul Dudley und Don Haynes)

Foto: Granger Historical Picture Archive/ Alamy Stock Photo

Am nächsten Tag wollte er nach Paris, doch das Wetter spielte nicht mit. "Ich habe noch nie so dichten Nebel erlebt", notiert Haynes in seinem Tagebuch; Bussen habe man per Taschenlampe den Weg weisen müssen. Am nächsten Tag sah es nicht besser aus. Millers Ungeduld wuchs. Sein Flug wurde auf den 15. Dezember geschoben.

"Nicht einmal die Vögel fliegen heute"

Wieder war der Nebel so dicht, dass Miller laut Haynes noch auf dem kleinen Flugplatz bei Bedford grummelte: "Nicht einmal die Vögel fliegen heute." Sein Pilot, erfahrener Kampfflieger, landete verspätet und schob es lakonisch auf "schlimme Böen" unterwegs. Seine kleine, einmotorige Propellermaschine hatte keine Enteisungsvorrichtung und war schlecht für den Notfall ausgerüstet.

Beunruhigt soll Miller an Bord der Maschine gerufen haben: "Hey, wo sind die gottverdammten Fallschirme?" Daraufhin habe der einzige ihn begleitende Offizier gescherzt: "Was ist los, Miller, wollen Sie ewig leben?"

Dann hob die C-64-Norseman ab - und verschwand für immer.

Was genau geschah, lässt sich nicht im Detail rekonstruieren. Ein Wrack wurde nie gefunden. Als gesichert gilt, dass Millers Maschine bei dichtem Nebel in den Ärmelkanal stürzte; womöglich vereisten die Tragflächen. Denkbar ist auch, dass sein Flugzeug von Bomben höherfliegender Maschinen getroffen wurde, die ungenutzte Bombenlast über den Kanal abwarfen, um sicher landen zu können. 138 britische Lancaster kehrten an diesem 15. Dezember zurück, nachdem ihr Angriff auf Siegen wegen schlechten Wetters abgebrochen wurde.

Das Unglück blieb zunächst unbemerkt. Drei Tage nach Millers Abflug landete seine Band bei wolkenlosem Himmel in Paris. Die Musiker wunderten sich, dass ihr Chef sie nicht abholte und entgegen seiner Gewohnheit nichts organisiert hatte. Einige erinnerten sich später an "völliges Chaos". Erst nach fünf Stunden war das Orchester in einem kleinen Hotel im Montmartre untergebracht - und weiter ohne Nachricht von Miller.

"Zunächst sagten sich die meisten: Na ja, der wird halt noch irgendwo einen draufmachen und eine schöne Zeit verbringen", erzählte der 2015 verstorbene Nat Peck. Tage später rief Manager Haynes alle Musiker zusammen und verkündet, es gebe seit dem 15. Dezember keine Spur von Miller. "Das waren ziemlich heftige Nachrichten für uns", so Peck. "Der Mann fehlte, der alles organisierte, sich um uns kümmerte und sehr um unser Wohlergehen bemüht war. Was würde passieren?"

Die Unsicherheit wuchs, als Gerüchten kursierten, alle Soldaten müssten an die Ardennenfront, um die plötzlichen Erfolge der Deutschen zu stoppen. Die Musiker wussten: Ihr bester Schutz dagegen waren erfolgreiche Auftritte. Am 21. Dezember trat das Orchester erstmals ohne Miller auf. Bei Eiseskälte spielten selbst die Streicher in Handschuhen. Der tosende Applaus beruhigte sie.

The Show must go on

An Heiligabend berichtete die BBC offiziell über Millers Verschwinden. In Paris fand ein Gedenkgottesdienst statt. Schon vor dem Krieg hatte die Stadt eine blühende Jazz-Szene. Auch wenn die Konzerte der Miller-Band sich überwiegend an US-Soldaten richteten, war die Betroffenheit der Franzosen groß. Denn allein dass Millers Musik überhaupt in Paris gespielt wurde, empfanden viele als Symbol der wiedererlangten Freiheit.

Somit geriet das Weihnachtskonzert am folgenden Tag ungewollt zur Hommage auf den Bandleader - auch ohne dass jemand an diesem Abend ein Wort über ihn verlor. Alle wussten, wer fehlt.

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Glenn Miller. Sein Leben, seine Musik

Verlag: Hannibal
Seitenzahl: 474
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Am 1. März 1945, dem 41. Geburtstag ihres Mannes, schrieb Helen Miller noch immer kämpferisch an Don Haynes: "Ich warte geduldig auf Nachrichten von Glenn und bin sicher, ich werde bald von ihm hören." Zwei Monate danach war der Krieg gewonnen, gegen den Miller musikalisch zu Felde zog. Sein Orchester tourte noch ein halbes Jahr durch Europa und gab Hunderte Konzerte.

Die Glenn Miller Band hatte sich längst daran gewöhnt, ohne Glenn Miller aufzutreten, unter neuer Leitung. Helen Miller hingegen, so erzählte es später ihr Sohn, bezog noch jahrelang Glenns Bett.

Für den Fall, dass ihr Ehemann plötzlich doch vor der Tür steht.

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