
Jean-Michel Jarre: "Kraftwerk sind die Beach Boys des Techno"
Elektronik-Pionier Jean-Michel Jarre "Aliens? Mit denen musiziere ich schon"

Jean-Michel Jarre wurde am 24. August 1948 in Lyon geboren. Sein Vater, Filmkomponist Maurice Jarre, verließ die Familie früh. Jean-Michel schuf vor allem Kompositionen für den Synthesizer und wurde 1977 mit dem Album "Oxygène" weltbekannt. Als Pionier der elektronischen Musik verkaufte er über 80 Millionen Tonträger und veröffentlicht zu seinem 70. Geburtstag jetzt das Werk "Planet Jarre - 50 Years of Music".
einestages: Sie stehen mehrfach im Guinnessbuch für die größten Konzerte aller Zeiten, in Paris, Moskau und Peking, vor den Pyramiden von Gizeh, am Toten Meer. Unter einer Million Zuschauer machen Sie's ja fast nicht. Ist das Größenwahn?
Jarre: Auf Rekorde war ich nie aus. Nicht ich suche mir die Riesenkonzerte aus, ich werde dazu eingeladen. So war's schon 1979 bei meiner ersten Performance in Paris. Da ich gern Neues ausprobiere, sage ich zu. Im Vorfeld weiß man das oft gar nicht: In Moskau 1997 rechnete man mit 30.000, es kamen über drei Millionen. Eine gewisse Größe brauchen meine Konzerte wegen der visuellen Effekte. Ich mag Projektionen auf Häuserwänden, Lasereffekte, Feuerwerk. Eine Show muss spektakulär sein, sonst kann man auch zu Hause bleiben und eine Platte anhören.
einestages: Pünktlich zum 70. Geburtstag veröffentlichen Sie das Album "Planet Jarre - 50 Years of Music". Ihr Vermächtnis?
Jarre: Vielleicht. Ich habe in Ruhe auf mein Werk geblickt, wollte aber keine öde Best-of-Scheibe. Für mich muss hinter einem Album ein Konzept stecken. Mir fiel auf, dass ich auf vier Arten komponiere. Mit 41 Songs stelle ich meine vier Welten dar.
einestages: Was sind das für Welten?
Jarre: Die "Soundscapes" sind visuelle, atmosphärische Stücke im Ambientstil, mit klassischem Background. Die Musik von "Oxygène 1" oder "Equinoxe 2" ist nicht strukturiert wie ein langes Stück, nicht wie ein Song. Teil 2, "Themes", klingt sehr melodiös. Melodien sind das Wichtigste in der Musik. Oft fange ich mit einer simplen Melodie auf Piano oder Keyboard an, arrangiere drum herum die Musik. Part 3 sind "Sequences", rhythmische, hypnotische Sounds, die sich wiederholen, beeinflusst von Terry Riley und Steve Reich. Die US-Komponisten gelten als Erfinder der Minimal Music und haben damit einen Teil der DNA elektronischer Musik erschaffen.

Jean-Michel Jarre: "Kraftwerk sind die Beach Boys des Techno"
einestages: Und die vierte Welt im Jarre-Kosmos?
Jarre: In den "Explorations & Early Works" geht's um meine musikalischen Wurzeln. Als ich Ende der Sechzigerjahre mit elektro-akustischer Musik anfing, gab es noch keine Samples. Ich benutzte nur Mikrophone und einen Taperekorder, per Schere zerschnippelte ich das Band und klebte es wieder zusammen, um neue Sounds zu kreieren. Dazu gehört ein Demo meines Albums "Music for Supermarkets", davon ließ ich 1983 nur ein einziges Exemplar pressen. Eine Rarität.
einestages: Hocken Sie im abgedunkelten Studio hinter Computern und Synthesizern, als Eremit?
Jarre: Da ist was dran. Nach 50 Jahren Musik habe ich wohl mehr Zeit meines Lebens mit Maschinen verbracht als mit Menschen (lacht). Allein im Studio fühle ich mich wie ein Schriftsteller oder Maler im Atelier. Ich mag es aber auch, meine Werke mit Musikern auf einer Bühne zu präsentieren. Es ist paradox: hier die einsame Studioarbeit, dort die Live-Performance vor großem Publikum.
einestages: Als einflussreiche Elektronik-Pioniere gelten Kraftwerk, neben Tangerine Dream die wichtigste deutsche Band in Ihrem Genre.
Jarre: Als ich ihr Album "Autobahn" von 1974 entdeckte, hielt ich Kraftwerk spontan für eine US-Band, die Deutsch zu singen versucht. Für mich sind sie die Beach Boys des Techno - ein Kompliment.
einestages: Kraftwerk hat kürzlich bei einem Konzert live mit Astronaut Alexander Gerst auf der ISS-Raumstation musiziert. Die Idee hatten Sie schon 1986.
Jarre: Als das Space Center der Nasa in Houston 25-jähriges Bestehen feierte, wollte ich mit Ron McNair, Challenger-Astronaut und Saxofonist, bei seiner Mission die Nummer "Rendezvous" spielen. Er oben im All, ich unten auf der Erde.
einestages: Dazu kam es nicht mehr.
Jarre: Kurz zuvor explodierte im Januar 1986 die Challenger-Raumfähre Sekunden nach dem Start in Cape Canaveral, alle sieben Astronauten starben. Eine unsagbare Tragödie. Kurz zuvor hatte ich noch mit Ron telefoniert. Wir freuten uns auf das Abenteuer. Aus Trauer wollte ich alles absagen, seine Freunde bestärkten mich, die Performance durchzuziehen. Ich habe dann mit dem Saxofonisten Kirk Whalum gespielt, nannte den Song "Last Rendezvous" und widmete ihn Ron. Dazu gab es eine Lasershow und Projektionen auf die Skyline von Houston. Ein Tribut an alle toten Astronauten.
einestages: Als Space-Experte - glauben Sie an außerirdisches Leben?
Jarre: Definitiv! Es ist arrogant zu denken, der Mensch sei das einzige Lebewesen im Universum. Die Erde ist darin doch nichts weiter als ein winziges Staubpartikel. Natürlich gibt es irgendwo da draußen noch Leben.
einestages: Stimmt es Sie traurig, dass Sie bei den gigantischen Entfernungen wohl nie mit einem Alien Musik machen werden?
Jarre: Wenn ich mir einige meiner Gastmusiker anschaue, denke ich schon, dass ich mit Aliens musiziere (lacht). Gerade bei meinem "Electronica"-Projekt und Leuten wie Edgar Froese von Tangerine Dream, Robert Del Naja von Massive Attack oder Vince Clark. Deren Talent ist nicht von dieser Welt. Ein interessanter Künstler ist immer eine Art Alien, weil er außerhalb der Norm denkt.
einestages: Wie war der junge Jean-Michel, damals in Lyon?
Jarre: Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich fünf war. In meiner Jugend hatte ich gar keinen Kontakt mehr zu meinem Vater. Auf Kinderbildern entdeckt man Melancholie in meinem Blick. Meine starke, liebende Mutter hat den Verlust aber wettgemacht. Obwohl ich sehr gern allein war, hatte ich in der Schule Freunde. Kontakt zu Menschen herzustellen, fällt mir bis heute leicht.
einestages: Ihre Mutter Francette Pejot war im Zweiten Weltkrieg im Widerstand aktiv, wurde verhaftet und überlebte die Konzentrationslager Ravensbrück und Mauthausen. Hat Sie mit Ihnen darüber gesprochen?
Jarre: Nicht en détail. Meine Mutter war eine Heldin, ich habe sie bewundert. Gerade hat die Stadt Lyon beschlossen, ihr zu Ehren eine Straße zu benennen: Avenue France Pejot ! Das macht mich stolz. Maman war einzigartig.
einestages: Welche Werte hat sie Ihnen mitgegeben?
Jarre: Toleranz und Respekt. Und dass man zwischen einer Ideologie und Menschen unterscheiden muss. Kurz: Nicht alle Deutsche waren Nazis. Diese Einstellung war im Nachkriegsfrankreich eher die Ausnahme. Ihrer Worte wegen habe ich nie Groll gegen Deutsche gehegt. Einige haben mich inspiriert, Komponist Karlheinz Stockhausen etwa.
einestages: Wie entdeckten Sie als Musikstudent die Faszination elektronischer Musik?
Jarre: Durch meine Lehrmeister Pierre Schaeffer und Pierre Henry, Erfinder der "musique concrète". Für sie war jedes Geräusch auf der Welt Musik. Sie besaßen diesen Zauberkasten, den EMS VCS3-Synthesizer. Nachts brach ich sogar mal ins Studio ein, um ungestört daran rumzudoktern.
einestages: Und in London haben Sie sich so einen Synthesizer zugelegt.
Jarre: Dafür hatte ich meine E-Gitarre, meinen Verstärker und, schweren Herzens, meine alte deutsche Märklin-Eisenbahn aus Kindertagen verkauft. Für den Synthi ging alles drauf, aber das war er mir wert.
einestages: Damit schufen Sie um 1976 ein Werk, wie es die Welt noch nicht gehört hatte.
Jarre: "Oxygène" war ein Meilenstein für mich. Und ein Risiko. Wer will schon Acht-Minuten-Stücke ohne Gesang? Meine Plattenfirma war beunruhigt.
einestages: Es hat funktioniert - die Platte war visionär, auch das Covermotiv.
Jarre: Mutter Erde, aus der ein Totenschädel ragt. Eine Warnung! Charlotte Rampling, meine damalige Frau, hatte das Gemälde in einer Pariser Galerie erstanden. Ich dachte sofort: starkes Motiv für mein Album. Der Maler hatte nichts dagegen.

Jean-Michel Jarre: Oxygène
einestages: Jarre - ein Grüner, bevor es die Grünen gab?
Jarre: Mit Ökologie, damals kein großes Thema, befasse ich mich schon lange. Denkanstöße kann man schon liefern. Aber ich bin kein Politiker, sondern Künstler. Meine Shows sollen keine politischen Großkundgebungen sein, wie bei manchen prominenten Kollegen.
einestages: Zeitgleich mit Ihrem Bombastsound startete in London die radikale Punk-Bewegung...
Jarre: ... deren Motto war: No Future! Meines: Yes, Future! (lacht)
einestages: War Punkrock für Sie als Soundästhet nicht grausamer Lärm?
Jarre: Keineswegs. Ich fand's spannend und habe großen Respekt für Punk, weil es auch eine sozialpolitische Bewegung war, eine Rebellion. Prinzipiell höre ich alles, Heavy Metal, Jazz, Hip-Hop, Hauptsache, gut gemacht. Ich bin aber auch froh, dass elektronische Popmusik in Internet-Zeiten mehr beachtet wird denn je. Den computeraffinen Kids scheint Elektro-Sound zugänglicher zu sein als Rock'n'Roll.
einestages: Wie konnten Sie vor zwei Jahren Whistleblower Edward Snowden für einen Track gewinnen?
Jarre: Es war abenteuerlich. Über Mittelsmänner traf ich ihn an einem geheimen Ort in seinem Moskauer Exil. Dort entstand das Stück "Exit". Als ich Snowden erstmals wahrnahm in der NSA-Affäre, erinnerte er mich an meine Mutter. Sie nahm auch nie ein Blatt vor den Mund. In "Exit" spricht Snowden einen Text, der beschreibt, wie Technologie gläserne Menschen aus uns macht. Mit jedem Klick im Netz geht ein Stück Privatheit verloren. Dagegen müssen wir aufbegehren. Für mich ist Snowden kein Verräter. Ich bin überzeugt, er wollte die Menschen aufrütteln, indem er diese Geheimnisse offenlegte.
einestages: Wie fühlen Sie sich mit 70?
Jarre: Gut. Im Leben geht es um Geschichten, die man erlebt, und um ein Vermächtnis, das man am Ende hinterlässt. Das Wichtigste ist immer die Familie. Dazu zählen für mich auch Freunde. Denn meine echte Familie ist nicht mehr groß, ich habe nur noch meine beiden Kinder David und Émilie.
einestages: Haben Sie einen besonderen Geburtstagswunsch?
Jarre: Ich mach' kein großes Ding daraus. Im Hochsommer sind ja alle in Ferien, meine Kinder schwirren irgendwo in der Weltgeschichte rum. Die Party läuft also erst später. Ich erinnere mich noch, als ich meine erste eigene Bude hatte und meine Mutter nicht anrief, um mir zum Geburtstag zu gratulieren. Als ich mich beschwerte, sagte sie: Du solltest mich anrufen und mir gratulieren - ohne mich hättest du gar keinen Geburtstag. Ja, so war sie (lacht). Aber ich habe mich revanchiert und sie nicht zum Muttertag angerufen. Da hat sie auch blöd geguckt.