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»John Maynard« – Dichtung und Wahrheit Noch zehn Minuten bis Buffalo

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Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch »Helden: Die mutigsten Geschichten von See«, unlängst erschienen im Ankerherz Verlag.
Es soll immer wieder Touristen gegeben haben, die in Buffalo an den Eriesee gepilgert sind, um am Ufer des großen amerikanischen Binnenmeers nach einem Denkmal für John Maynard zu suchen. »John who?«, fragten die Einheimischen verdutzt zurück, wenn sich Besucher nach dem Weg erkundigten. Denn der Name war ihnen völlig unbekannt.
An vielen deutschen Schulen ist das Schicksal von John Maynard Pflichtlektüre; an der Hauptfigur, heißt es in Unterrichtsmaterialien zur Ballade von Theodor Fontane, können die Schüler die Begriffe »Held« und »Heldentum« reflektieren. Was macht einen Helden aus? Er leistet Außergewöhnliches, er ragt aus dem Kreis seiner Mitmenschen heraus, weil er sein eigenes Leben in ihren Dienst stellt, auch wenn es von ihm selbst ein großes Opfer verlangt. Wie im Fall von John Maynard.
Der Schaufelraddampfer »Schwalbe« fliegt über den Eriesee, dass die Gischt nur so schäumt, auf seiner Strecke von Detroit ganz im Westen nach Buffalo am anderen Ende des Binnenmeers.
Da bricht Feuer aus, Qualm dringt aus den Luken. Kapitän und Steuermann erkennen: Das Ufer von Buffalo ist nah, Maynard hält darauf zu. Crew und Passagiere flüchten aufs Vorschiff, der Steuermann verschwindet hinter einer Flammenwand. Doch er hält durch, setzt das Schiff auf die Felsen am Ufer, Crew und Passagiere retten sich an Land. Maynard kommt um.
So weit Fontane. Im echten Leben fährt der Dampfer in umgekehrter Richtung, er legt am Nachmittag des 9. August 1841 in Buffalo ab und nimmt Kurs auf Detroit. Das Schiff heißt »Erie«, knapp 500 Tonnen schwer, als Antrieb dienen zwei große Seitenschaufelräder, aber wie bei den meisten Dampfern dieser Ära stehen an Deck auch noch zwei Masten, an denen Segel gesetzt werden können.
An Bord: etwa 30 Mann Besatzung und zwischen 200 und 300 Passagiere, genauer lässt sich das nicht sagen. Die »Erie« befördert an diesem Tag viele Auswanderer, Deutsche und Schweizer.
Dann, etwa vier Stunden nach dem Ablegen, die Explosion. Die Ursache wird nie endgültig geklärt, möglicherweise entzündet sich frisch aufgetragene Farbe, die wiederum eine Ladung von Terpentin in Brand setzt. Das Feuer breitet sich rasend schnell aus, Löschversuche scheitern. Der Maschinenraum ist nicht mehr erreichbar, und so lässt sich das Schiff nicht mehr stoppen, was alles noch schlimmer macht. Denn wie soll man in voller Fahrt Rettungsboote aussetzen?
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Die Boote kentern, sie werden zerschlagen, Menschen stürzen ins Wasser. Noch funktioniert das Ruder. Der Kapitän gibt seinem Steuermann Luther Fuller die Order, direkt auf die acht Meilen entfernte Küste zuzuhalten. Und Fuller harrt tatsächlich auf seinem Posten aus, während die Crew verzweifelt versucht, die Maschine zu stoppen und Passagiere sicher von Bord zu bekommen.
Der Kapitän sagt später aus, sein Steuermann sei in heldenhafter Verrichtung seiner Pflicht umgekommen. Andere Augenzeugen sagen, Fuller habe sich, als auch das Ruder nicht mehr zu bedienen war, schwer verletzt ins Wasser fallen lassen.
Die »Erie« brennt aus und sinkt. Zwei andere Dampfer, die schnell an der Unglücksstelle sind, können nichts mehr ausrichten. Nur 29 Menschen überleben die Katastrophe. Warum Fontane in der Fiktion alle rettet? Klar: weil es Maynards Opfer noch einmal größer erscheinen lässt.
Wie hat nun der deutsche Dichter von dem Unglück erfahren? 1845 erscheint in den USA eine Kurzgeschichte, deren Autor nicht mehr zu ermitteln ist. Da wird aus Luther Fuller plötzlich ein Mann namens John Maynard. Andere Schriftsteller greifen das Thema auf, der Brite John Bartholomew Gough erfindet den dramatischen Dialog zwischen Kapitän und Steuermann; beim Groschenromanschreiber Horatio Alger aus Massachusetts bringt der Steuermann, von den Flammen bereits schwer gezeichnet, alle in Sicherheit.
Dann schafft die Legende vom Eriesee den Sprung über den Atlantik. Emil Rittershaus erzählt die Geschichte noch einmal anders: Bei ihm kämpfen die Menschen im Wasser um ihr Leben. Ein Mann, kurz vor dem Ertrinken, greift nach einer Planke vom Wrack – und überlässt sie dann doch einer Mutter und ihrem Kind. Einen John Maynard gibt es bei Rittershaus nicht, aber dafür einen Dampfer mit dem Namen »Schwalbe«.
Wo hat Theodor Fontane vom Untergang der »Erie« gehört? Die Parallelen sind unübersehbar, ein Zufall ist ausgeschlossen. John Maynard, die »Schwalbe«, der Kapitän und das Sprachrohr, und noch zehn Minuten bis Buffalo – Fontane gelingt mit diesen angelesenen Details die dichteste Schilderung des Untergangs, die eindrucksvollste Feier der selbstlosen Tat.
Buffalo hat 1999 schließlich eine Gedenktafel anbringen lassen, die einen Mann ehrt, den es nie gegeben hat. An einer Kaimauer am Eriesee heißt es jetzt, nicht in Marmor gemeißelt, sondern in Bronze gegossen: »Hier ruht John Maynard!« Es folgen die letzten Zeilen der Ballade von Theodor Fontane als Epitaph.
John Maynard!
»Wer ist John Maynard?«
»John Maynard war unser Steuermann,
aus hielt er, bis er das Ufer gewann,
er hat uns gerettet, er trägt die Kron',
er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard.«
Die »Schwalbe« fliegt über den Erie-See,
Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee;
von Detroit fliegt sie nach Buffalo –
die Herzen aber sind frei und froh,
und die Passagiere mit Kindern und Frau'n
im Dämmerlicht schon das Ufer schau'n,
und plaudernd an John Maynard heran
tritt alles: »Wie weit noch, Steuermann?«
Der schaut nach vorn und schaut in die Rund:
»Noch dreißig Minuten ... Halbe Stund.«
Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei –
da klingt's aus dem Schiffsraum her wie Schrei,
»Feuer!« war es, was da klang,
ein Qualm aus Kajüt und Luke drang,
ein Qualm, dann Flammen lichterloh,
und noch zwanzig Minuten bis Buffalo.
Und die Passagiere, bunt gemengt,
am Bugspriet stehn sie zusammengedrängt,
am Bugspriet vorn ist noch Luft und Licht,
am Steuer aber lagert sich's dicht,
und ein Jammern wird laut: »Wo sind wir? Wo?«
Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo.
Der Zugwind wächst, doch die Qualmwolke steht,
der Kapitän nach dem Steuer späht,
er sieht nicht mehr seinen Steuermann,
aber durchs Sprachrohr fragt er an:
»Noch da, John Maynard?«
»Ja, Herr. Ich bin.«
»Auf den Strand! In die Brandung!«
»Ich halte drauf hin.«
Und das Schiffsvolk jubelt: »Halt aus! Hallo!«
Und noch zehn Minuten bis Buffalo.
»Noch da, John Maynard?« Und Antwort schallt's
mit ersterbender Stimme: »Ja, Herr, ich halt's!«
Und in die Brandung, was Klippe, was Stein,
jagt er die »Schwalbe« mitten hinein.
Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so.
Rettung: der Strand von Buffalo!
Das Schiff geborsten. Das Feuer verschwelt.
Gerettet alle. Nur einer fehlt!
Alle Glocken gehn; ihre Töne schwell'n
himmelan aus Kirchen und Kapell'n,
ein Klingen und Läuten, sonst schweigt die Stadt,
ein Dienst nur, den sie heute hat:
Zehntausend folgen oder mehr,
und kein Aug' im Zuge, das tränenleer.
Sie lassen den Sarg in Blumen hinab,
mit Blumen schließen sie das Grab,
und mit goldner Schrift in den Marmorstein
schreibt die Stadt ihren Dankspruch ein:
»Hier ruht John Maynard! In Qualm und Brand
hielt er das Steuer fest in der Hand,
er hat uns gerettet, er trägt die Kron,
er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard.«
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Der Held auf dem Eriesee: In der berühmten Ballade von Theodor Fontane ist der Schaufelraddampfer »Schwalbe« auf dem Weg nach Buffalo im Bundesstaat New York. Auf dem lichterloh brennenden Schiff hält John Maynard das Steuer bis zuletzt und opfert sein eigenes Leben, um Passagiere und Crew zu retten (Stich von 1884).
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Die wahre Geschichte dahinter: Am 9. August 1841 kam es zu einer Explosion an Bord des Dampfschiffs »Erie«, das auf dem Weg von Buffalo nach Detroit (also in umgekehrter Richtung) war und rasch Feuer fing. Steuermann Luther Fuller harrte lange auf seinem Posten aus, dann sank die »Erie«, nur 29 Menschen überlebten. In Fontanes Ballade dagegen werden alle gerettet, bis auf den Steuermann, der bei ihm John Maynard heißt.
Eleganter Schaufelraddampfer: Das Ölgemälde zeigt die »Erie« um 1837 in voller Fahrt, einige Jahre vor der Katastrophe.
Untergang der »Swallow«: Ein ähnliches Unglück gab es 1845, als ein Dampfer am 7. April an einem großen Felsen auf dem Hudson River zerschellte, in zwei Teile zerbrach und Feuer fing. Mindestens 200 von etwa 300 Passagieren konnten von anderen Dampfern gerettet werden. Dieses sehr schnelle Schiff hieß »Swallow« – und dieser Name tauchte dann bei Emil Rittershaus auf: Der seinerzeit beliebte Dichter aus Barmen veröffentlichte eine Eriesee-Ballade mit dem Titel »Ein deutsches Herz«. Sie erschien 1871 in der Illustrierten »Die Gartenlaube«; das untergehende Schiff darin war die »Schwalbe« – wie auch in einer weiteren Ballade der Volksschullehrerin und Dichterin Luise Förster, besser bekannt als Ada Linden, mit dem Titel »John Maynard«. In der letzten Strophe heißt es, dass am »glühenden Steuer ein Toter steht«. Fontane-Forscher gehen davon aus, dass mindestens eine oder beide der Balladen, die von Rittershaus und die von Förster, Theodor Fontane zu seinem Werk inspirierten.
Transatlantische Dichtkunst: »John Maynard« zählt zu den berühmtesten Balladen von Theodor Fontane (1819-1898), neben »Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland«. An deutschen Schulen haben sie viele Generationen von Schülern kennen- oder gleich auswendig gelernt.
Fontane schrieb »John Maynard« wahrscheinlich in den 1880er-Jahren. Dieser Druck zeigt eine Veröffentlichung der Ballade in der »Berliner Bunten Mappe« von 1886. Die Dichter Fontane und Rittershaus kannten einander.
Die Geschichte vom Steuermann, der auf dem See heldenhaft dem Feuer trotzt und das Schiff ans Ufer bringt (Zeichnung von 1868), hatte zuvor schon mehrere Autoren zu Erzählungen oder Gedichten angeregt, darunter der Brite John Bartholomew Gough.
Der Held auf dem Eriesee: In der berühmten Ballade von Theodor Fontane ist der Schaufelraddampfer »Schwalbe« auf dem Weg nach Buffalo im Bundesstaat New York. Auf dem lichterloh brennenden Schiff hält John Maynard das Steuer bis zuletzt und opfert sein eigenes Leben, um Passagiere und Crew zu retten (Stich von 1884).
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Die wahre Geschichte dahinter: Am 9. August 1841 kam es zu einer Explosion an Bord des Dampfschiffs »Erie«, das auf dem Weg von Buffalo nach Detroit (also in umgekehrter Richtung) war und rasch Feuer fing. Steuermann Luther Fuller harrte lange auf seinem Posten aus, dann sank die »Erie«, nur 29 Menschen überlebten. In Fontanes Ballade dagegen werden alle gerettet, bis auf den Steuermann, der bei ihm John Maynard heißt.
Foto: Library of CongressUntergang der »Swallow«: Ein ähnliches Unglück gab es 1845, als ein Dampfer am 7. April an einem großen Felsen auf dem Hudson River zerschellte, in zwei Teile zerbrach und Feuer fing. Mindestens 200 von etwa 300 Passagieren konnten von anderen Dampfern gerettet werden. Dieses sehr schnelle Schiff hieß »Swallow« – und dieser Name tauchte dann bei Emil Rittershaus auf: Der seinerzeit beliebte Dichter aus Barmen veröffentlichte eine Eriesee-Ballade mit dem Titel »Ein deutsches Herz«. Sie erschien 1871 in der Illustrierten »Die Gartenlaube«; das untergehende Schiff darin war die »Schwalbe« – wie auch in einer weiteren Ballade der Volksschullehrerin und Dichterin Luise Förster, besser bekannt als Ada Linden, mit dem Titel »John Maynard«. In der letzten Strophe heißt es, dass am »glühenden Steuer ein Toter steht«. Fontane-Forscher gehen davon aus, dass mindestens eine oder beide der Balladen, die von Rittershaus und die von Förster, Theodor Fontane zu seinem Werk inspirierten.
Foto: National Maritime Museum, Greenwich, LondonTransatlantische Dichtkunst: »John Maynard« zählt zu den berühmtesten Balladen von Theodor Fontane (1819-1898), neben »Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland«. An deutschen Schulen haben sie viele Generationen von Schülern kennen- oder gleich auswendig gelernt.
Foto: Bildagentur für Kunst, Kultur und GeschichteFontane schrieb »John Maynard« wahrscheinlich in den 1880er-Jahren. Dieser Druck zeigt eine Veröffentlichung der Ballade in der »Berliner Bunten Mappe« von 1886. Die Dichter Fontane und Rittershaus kannten einander.
Foto: Staatsbibliothek zu Berlin / Dietmar Katz / Bildagentur für Kunst, Kultur und GeschichteDer Held auf dem Eriesee: In der berühmten Ballade von Theodor Fontane ist der Schaufelraddampfer »Schwalbe« auf dem Weg nach Buffalo im Bundesstaat New York. Auf dem lichterloh brennenden Schiff hält John Maynard das Steuer bis zuletzt und opfert sein eigenes Leben, um Passagiere und Crew zu retten (Stich von 1884).
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Die wahre Geschichte dahinter: Am 9. August 1841 kam es zu einer Explosion an Bord des Dampfschiffs »Erie«, das auf dem Weg von Buffalo nach Detroit (also in umgekehrter Richtung) war und rasch Feuer fing. Steuermann Luther Fuller harrte lange auf seinem Posten aus, dann sank die »Erie«, nur 29 Menschen überlebten. In Fontanes Ballade dagegen werden alle gerettet, bis auf den Steuermann, der bei ihm John Maynard heißt.
Foto: Library of CongressUntergang der »Swallow«: Ein ähnliches Unglück gab es 1845, als ein Dampfer am 7. April an einem großen Felsen auf dem Hudson River zerschellte, in zwei Teile zerbrach und Feuer fing. Mindestens 200 von etwa 300 Passagieren konnten von anderen Dampfern gerettet werden. Dieses sehr schnelle Schiff hieß »Swallow« – und dieser Name tauchte dann bei Emil Rittershaus auf: Der seinerzeit beliebte Dichter aus Barmen veröffentlichte eine Eriesee-Ballade mit dem Titel »Ein deutsches Herz«. Sie erschien 1871 in der Illustrierten »Die Gartenlaube«; das untergehende Schiff darin war die »Schwalbe« – wie auch in einer weiteren Ballade der Volksschullehrerin und Dichterin Luise Förster, besser bekannt als Ada Linden, mit dem Titel »John Maynard«. In der letzten Strophe heißt es, dass am »glühenden Steuer ein Toter steht«. Fontane-Forscher gehen davon aus, dass mindestens eine oder beide der Balladen, die von Rittershaus und die von Förster, Theodor Fontane zu seinem Werk inspirierten.
Foto: National Maritime Museum, Greenwich, LondonTransatlantische Dichtkunst: »John Maynard« zählt zu den berühmtesten Balladen von Theodor Fontane (1819-1898), neben »Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland«. An deutschen Schulen haben sie viele Generationen von Schülern kennen- oder gleich auswendig gelernt.
Foto: Bildagentur für Kunst, Kultur und GeschichteFontane schrieb »John Maynard« wahrscheinlich in den 1880er-Jahren. Dieser Druck zeigt eine Veröffentlichung der Ballade in der »Berliner Bunten Mappe« von 1886. Die Dichter Fontane und Rittershaus kannten einander.
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