
Judy Garlands Kult-Konzert "Wir bleiben die ganze Nacht!"
Sie war so gut wie tot. Ihre Leber zerfressen von Alkohol und Pillen, ihr Körper grotesk aufgedunsen, ihre Karriere am Ende. Die Ärzte hatten sie längst aufgegeben. Doch Judy Garland, damals 37 Jahre alt, hielt durch. "Sie hatte die Konstitution einer Armee", erinnerte sich ihre Tochter Lorna Luft vor kurzem in "Vanity Fair". "Sie wusste, sie musste weitermachen."
November 1959: Judy Garland, erst Kinderstar ("Der Zauberer von Oz"), dann MGM-Legende, schließlich Hollywood-Wrack, lag im Doctors Hospital auf der East Side Manhattans. Offizieller Grund: Hepatitis. Aber jeder wusste, dass sie süchtig war, kaputt, arbeitsunfähig. MGM hatte sie 1950 gefeuert, mit erst 28. Ihr letzter Kinofilm war fünf Jahre her. Selbst wenn sie sich erholte, so die Diagnose von Branchenkennern, würde sie nie mehr auftreten.
Und dann schaffte sie es doch, buchstäblich wiederaufzuerstehen: 17 Monate später legte Garland ein sensationelles Comeback hin, das bis heute nachhallt. Ihr Galakonzert am 23. April 1961 in der New Yorker Carnegie Hall, jenem Tempel der Tonkunst, gilt nicht nur bei Fans als "großartigster Abend in der Geschichte des Showbusiness". Als Messlatte für alles, was danach kam. Es belebte Garlands Karriere neu, ein allerletztes Mal - bevor sie acht Jahre danach doch noch ihrer Sucht erliegen würde.
"In der Carnegie Hall gewann sie Größe, wahre Größe", schrieb ihr Biograf Gerald Clarke. "Sie erklomm Höhen, die keiner ihrer Zeitgenossen jemals erreicht hatte... Judy in excelsis!"
Partys, Prügel, Alkohol
Das Carnegie-Konzert war der Zenit ihrer turbulenten Laufbahn. Ein Erlebnis ohnegleichen, so beben die Garland-Vasallen. Auf jeden Fall war es eines jener Ereignisse, von dem die Leute Jahrzehnte später noch sprechen würden, ob sie nun dabei gewesen waren oder nicht - auch dank der Tonaufzeichnung, die wochenlang die Charts anführte, Garlands bestverkaufte Schallplatte wurde und in die Sammlung der Library of Congress einging, dem Staatsarchiv der USA.
Es war ein warmer Abend in Manhattan. Trotz Nieselregen standen die Menschen schon Stunden vorher Schlange vor der Carnegie Hall, von der Seventh Avenue bis zur West 56th Street. Das Konzert mit dem schlichten Titel "Just Judy" ("Einfach nur Judy"), war binnen Stunden ausverkauft gewesen, alle 3165 Karten - ein Rekord in der Zeit vor dem Internet.
Als Garland in ihrer Limousine am Bühneneingang anrollte, Lockenwickler im Haar, begann die Menge zu kreischen. Für ihre Fans war sie da längst der Star aller Stars. Geborene Frances Ethel Gumm, als Kleinkind von ihren Theater-Eltern auf die Bühne geschubst, dann in die MGM-Mühle geworfen, als Teenager weltberühmt, durch den "Zauberer von Oz" (1939), in dem sie "Over the Rainbow" trällerte, den berühmtesten Filmsong des 20. Jahrhunderts. Schon damals gehörten Aufputschpillen zu ihrem Alltag.
Es folgten Filme, Platten, Auftritte, TV-Shows, Partys ohne Ende. Ihre Ehen mit dem Musiker David Rose und dem Regisseur Vincente Minnelli zerbrachen. Sid Luft, ihr dritter Mann, managte und prügelte sie. Garland ertränkte Stress und Kummer in Alkohol. MGM feuerte sie. Danach ging es steil abwärts - bis ins Doctors Hospital, wo sie sechs Wochen lang mit dem Tod rang.
"Fuck 'em! Fuck 'em! Fuck 'em!"
Eine Tournee sollte sie zurück ins Rampenlicht hieven. "Gebt ihr nur eine Bühne", forderte ihr Agent Freddie Fields. Sie begann langsam, in Kleinstädten, war halbwegs ausgenüchtert, nahm Ritalin, um die Abende zu überstehen. Das Publikum und die Kritiker liebten sie. John F. Kennedy, ein alter Freund, empfing sie im Oval Office.
Zur Krönung dann die Carnegie Hall mit ihrer perfekten Akustik, Traum und Horror jedes Musikers. Lauren Bacall, Richard Burton, Henry Fonda, Julie Andrews, Leonard Bernstein, Rock Hudson, Benny Goodman: Alle waren sie gekommen - aus Bewunderung oder Neugier, manche mit dem makaberen Wunsch, den Absturz einer Mit-Göttin aus ihrem Olymp mitzuerleben.
Konzertbeginn war um 20.30 Uhr. Doch auch um 20.45 Uhr - keine Spur von Garland. Die hockte hinter der Bühne, beruhigt von ihrem Jugendfreund Roddy McDowall, ebenfalls ein Ex-Kinderstar. Sie schrie sich selbst Mut zu: "Fuck 'em! Fuck 'em! Fuck 'em!" Das Orchester begann eine rauschende Ouvertüre, Garland erschien, und der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte.
Zwei Stunden sang sie, plauderte sie, juxte sie. Manchmal brach ihre Stimme, wie von der sentimentalen Wucht der Erinnerung. Keine der alten Hits ließ sie aus: "Puttin' On the Ritz", "The Man That Got Away", "That's Entertainment!", "Come Rain or Come Shine", "Stormy Weather", "Over the Rainbow". 26 Songs: Gershwin, Lerner, Loewe, all die großen Komponisten waren vertreten. Harold Arlen, der die meisten der Hits komponiert hatte, saß in der ersten Reihe.
"Wir bleiben die ganze Nacht!"
Die Zuschauer jubelten, sprangen aufs Gestühl, einer schwenkte ein Ölgemälde seiner Göttin. Garland sog den Beifall auf, riss Witze, nahm sich selbst auf die Schippe. Am Ende schrien sie nach Zugaben. "Ich weiß!", antwortete Garland heiser, doch beglückt. "Wir bleiben die ganze Nacht!"
Da rannten sie von den billigen Plätzen im Balkon bis zur Bühne herunter - darunter viele Schwule, die sich mit Garlands Odyssee am meisten identifizierten. Ihr Idol bat sie, sich auf den Boden zu setzen, damit die VIPs vorne sehen konnten. Nach "Chicago" - dem letzten Song, für den das Orchester Noten hatte - regnete es Blumen. Rock Hudson hob Garlands Kinder Joey, 6, Lorna, 8, und Liza, 15, auf die Bühne hoch, und alle vier verbeugten sich.
Die Kritiker überschlugen sich. "So was habe ich in meinem Leben noch nie erlebt", gurrte die sonst so giftige Klatsch-Queen Hedda Hopper. Die Aufzeichnung, zum Doppelalbum gepresst, hielt sich 73 Wochen in den Charts, davon 13 Wochen auf Platz 1. "Judy At Carnegie Hall" gewann vier Grammys, allen voran "Album of the Year" - zum ersten Mal ging dieser Preis an eine Frau.
Garlands Karriere bekam neuen Auftrieb. 1962 wurde sie erneut für einen Oscar nominiert, für eine Nebenrolle im Holocaust-Drama "Das Urteil von Nürnberg". Das TV-Network CBS, das sie einst verstoßen hatte, nahm sie für 24 Millionen Dollar unter Vertrag. Doch die "Judy Garland Show" wurde nach nur 26 Folgen wieder abgesetzt. Die Konkurrenz war zu stark - namentlich die Serie "Bonanza".
Leblos im Badezimmer
Von diesem emotionalen und finanziellen Rückschlag erholte sich Garland - die hochverschuldet war - nie wieder. Am 22. Juni 1969 fand sie ihr fünfter Gatte Mickey Deans leblos im Badezimmer ihrer Mietwohnung in London auf. Todesursache: eine Überdosis Barbiturate.
Mehr als 20.000 Menschen pilgerten auf Manhattans Upper East Side, um Garlands Sarg zu huldigen. Am Abend darauf platzte das Schwulenviertel Greenwich Village aus allen Nähten, und als die Polizei im "Stonewall Inn" zur Razzia anrückte, leisteten die aufgewühlten Kneipengänger erstmals Widerstand. Seither sind Judy Garland und der Beginn der US-Schwulenbewegung untrennbar verknüpft.
Der Kult geht weiter. 2009 sang Rufus Wainwright das gesamte Carnegie-Konzert Garlands nach: Lied für Lied, Strophe für Strophe - in der Carnegie Hall, begleitet von einem 40-köpfigen Orchester. Puristen waren entsetzt, andere empfanden es als Sakrileg. Garlands Tochter Liza Minnelli hasste es. Im März gab es in der Carnegie Hall eine Jubiläumsgala, bei der Broadway-Stars das Konzert von 1961 interpretierten, auch Lorna Luft war dabei. Ein neuer Dokumentarfilm soll den Abend außerdem anhand von Augenzeugen rekonstruieren.
Judy Garland wurde 47. Sie drehte 32 Filme und 30 TV-Shows, gab 1100 Konzerte, nahm 100 Singles und ein Dutzend Alben auf, gewann zwei Golden Globes, fünf Grammys (einen posthum) und einen Tony, wurde für zwei Oscars nominiert und heiratete fünfmal. Geblieben sind am Ende nur "Over the Rainbow", "Der Zauberer von Oz" - und jener Abend in der Carnegie Hall, dieses letzte Aufflackern eines tragischen Stars.