
Jan Josef Liefers DDR-Kindheit: "Na, Juchendfreund"
Jugend in der DDR Abkürzung nach oben
In der DDR stand Individualität nicht besonders hoch im Kurs. Am liebsten sollten alle gleich sein. Das Kollektiv war wichtig, nicht der Einzelne. Wir erziehen hier sozialistische Schülerpersönlichkeiten, keine Individualisten wurde meiner Mutter klargemacht, als sie mal wieder in der Schule für mich die Kartoffeln aus dem Feuer holen musste. Ob sie sich dieser Herausforderung in Bezug auf mich gewachsen fühle, wurde sie gefragt. Sie wurde einige Male einbestellt. Klar, eine alleinerziehende, junge Frau und dann auch noch Schauspielerin, was kann man da anderes erwarten.
Das war nicht angenehm für meine Mutter, aber sie ließ sich nichts gefallen. Der Vorwurf an sie war immer derselbe. Mir fehle konsequente Erziehung und ich hätte zu viele Freiheiten. Daher kämen meine Probleme, Autoritäten anzuerkennen und mich entsprechend zu verhalten. Meine Mutter meinte dazu, dann hätte sie ja alles richtig gemacht. Damit war das Gespräch beendet, jeder hatte gesagt, was er zu sagen hatte, meine Mutter gab nicht klein bei, und resigniert verabschiedete man sich voneinander. Man ließ es gut sein, bis zum nächsten Mal.
So problematisch die Existenz für nicht wenige Menschen in der DDR auch wurde, im Alltag lief es doch meistens nach dem Prinzip "Leben und leben lassen". Eigentlich gab es die DDR dreimal. Eine, in der man jeden Tag lebte, die zweite, die in der Zeitung stand, und die dritte, die so war, wie man sie sich gewünscht hätte. Es gab auch zwei Wahrheiten, eine für zu Hause, die Familie und Freunde, und eine für draußen, für die Schule, die Arbeit, die Partei und die Stasi. Das war dann nur die halbe, eine Wahrheit light.
Leg dich nur nicht mit den falschen Leuten an
Wenn man einige einfache Regeln beachtete, konnte man unbehelligt leben. Fall nicht auf. Überleg dir, wem du was sagst. Leg dich nicht mit den falschen Leuten an. Mach das Nötigste mit und denk dir deinen Teil, die Gedanken sind frei. Weitgehende äußerliche Anpassung im Tausch gegen maximale Ruhe. Je kleiner die Amplituden des eigenen Ehrgeizes, desto besser. Das Konzept funktionierte aber nicht für jeden. Je höher man hinaus wollte, desto komplizierter wurde es. Wollte jemand studieren, war es von Vorteil, wenn er der SED beitrat oder sich freiwillig drei Jahre zur Armee meldete. Je weiter es auf der Karriereleiter nach oben ging, desto unausweichlicher wurde die Frage nach dem Eintritt in die Partei. Oder desto höher stiegen die Anforderungen an den eigenen Erfindungsreichtum, wenn man der Vereinnahmung entgehen wollte.
Ich behaupte, man musste weder für die Stasi arbeiten, noch musste man in die SED eintreten. Wer sich entzog, durfte nicht auf Erleichterungen hoffen, sondern hatte im Gegenteil mit Hindernissen und zusätzlichen Schwierigkeiten zu rechen, aber es war möglich, Nein zu sagen.
Etwa in der achten Klasse machte ich Bekanntschaft mit der NVA, der Nationalen Volksarmee. Lange vor der Musterung. In dieser Zeit wurden die ersten Weichen gestellt, denn die Schule entschied, wer Abitur machen durfte, indem sie die Auserwählten an eine Erweiterte Oberschule delegierte. Die Quoten, wie viele Schüler dorthin geschickt wurden, gab der Staat vor. Sie richteten sich nach dem Bedarf. Man ging davon aus, dass jeder Abiturient auch studieren würde und lenkte alles planmäßig und frühzeitig. Viele bekamen bei Antritt des Studiums schon mitgeteilt, an welchen Ort sie nach dem Abschluss zu gehen hatten, um dort zu leben und zu arbeiten. Dahin, wo der der Staat sie haben wollte. Das musste zum Zeichen des Einverständnisses unterschrieben werden und war Teil des Deals. Auch gab es Quoten für die Zusammensetzung der Abiturienten nach ihrer sozialen Herkunft. Arbeiter- und Bauernkinder wurden bevorzugt, der Anteil aus Familien, die zur Schicht der Intelligenz zählten, war geringer und musste sich außerdem als besonders würdig erweisen.
Gute Noten, schlechtes Benehmen
Meine Schulnoten waren ziemlich gut, bis auf eine vier in Betragen. In Kombination mit meiner Herkunft kam ich als Künstlerkind fürs Abitur damit nicht in Frage. Das wurde meiner Mutter und mir genauso zu verstehen gegeben. Es war keine einzelne Person, die mir diesen Weg verbaute, es war das System. Mein Schulkamerad Andreas hatte das beste Zeugnis der Klasse und träumte davon, Physiker zu werden. Es gab nichts anderes für ihn. Wenn einem von uns das Abitur hätte gewährt werden müssen, war er es. Aber auch er hatte keine Chance und wurde abgelehnt - sein Vater war Akademiker.

Jan Josef Liefers DDR-Kindheit: "Na, Juchendfreund"
Zum ersten Mal dachte ich ernsthaft darüber nach, was ich später machen wollte. Wegen meiner Eltern hörte ich von anderen Leuten immer wieder, dass ich bestimmt auch mal Schauspieler werden würde. Das klang ein bisschen, als sei bei mir sowieso Hopfen und Malz verloren, als bliebe mir am Ende gar nichts anderes übrig. Das ärgerte mich und ich antwortete stereotyp: "Nie! Niemals werde ich Schauspieler!" Tierpfleger, Kameramann oder Fotograf, sogar Stuntman stand mal auf meiner Liste der Berufswünsche. Auch Arzt wollte ich werden, Gynäkologe. Aber das war illusorisch ohne Abitur. Am liebsten wäre ich Musiker geworden. Gitarrist in einer Band. So richtig glaubte ich daran aber nicht, denn der einzige für mich erkennbare Weg zur Rockmusik lief über Talentwettbewerbe und die FDJ-Singebewegung. Und das fand ich schrecklich.
Trotzdem machte ich mir keine Sorgen über die Zukunft. Die Schule hing mir zum Hals raus, mit Abitur hätte sie nur noch zwei Jahre länger gedauert. Und dann wurde ich eines Tages in die Direktion bestellt, zu einem Gespräch.
Über die Armee zum Abitur
Da saß ein fremder Mann und schwitzte Perlen durch großporige Haut. Er war zivil gekleidet und machte einen auf Kumpel. "Na, Juchendfreund? Was willsd'n ma wehrn? Weeste das schonn?" Ich sagte, ich wüsste es noch nicht. "Nu unn wassis mid schtudiern? Willsde nimmawas ordntlisches lern? Wasn midd Spord oder Deschnigg?" Ich sagte, dass ich nichts studieren könne, weil ich kein Abitur bekäme, weil ich eine vier in Betragen hätte. Er sagte "Nu das is dorr gans ehfach, hier gugge ma, das underschreibste hier unden, kommste zu uns, machsde drei Jahre, oder dlei schön Bubb, un dann Abiduhr un dann schduddiersde! Globste du wärsd der erschde Idiod, den mir zum Aggadehmigger machn?"
Was er vorschlug war, dass ich eine Verpflichtungserklärung unterschreibe, in der ich den Ehrendienst bei der NVA freiwillig von eineinhalb Jahren auf drei Jahre verlängerte. Dann wäre ich nicht bloß Soldat oder Gefreiter geworden, sondern Unteroffizier. Oder warum nicht gleich Bubb, das war die Abkürzung für Berufs-Unteroffiziersbewerber - BUB. Und schließlich gab es auch noch BOB, die Berufs-Offiziersbewerber. Was der Mann nicht wissen konnte, war, dass sogar eine Geschlechtsumwandlung wahrscheinlicher gewesen wäre, als meine freiwillige Verpflichtung zu drei Jahren Armeedienst. Ich hatte von älteren Jungs gehört, man könne zum Schein unterschreiben, denn man sei ja noch minderjährig und die Unterschrift daher nicht rechtsgültig. Später brauchte man nur zu sagen, man habe es sich anders überlegt. Allerdings könnte es dann auch richtig ungemütlich werden, wenn die einen in die Zange nähmen. So leicht ließen die einen nicht wieder aus den Klauen.
So eine Scheinunterschrift stand für mich nicht zur Debatte. Ich hatte Lust auf eine ganz andere Antwort, und die gab ich auch. Zwar hatte ich einen ziemlichen Kloß im Hals, fühlte mich aber geradezu heldenhaft, als ich sagte: "Nein danke, ich bin nicht interessiert". Das hat sich gelohnt. Das Gesicht vom Perlenschwitzer war die Sache wert. Dem rutschte kurz mal alles nach unten. Dann meinte er nur noch: "Du gönndest hier grade en mäschdischn Fähler gemachd hamm, das issder schonn dlar, Juchenfreund", und ließ mich abtreten.
Gefährlicher Strippenzieher im Hintergrund
Auf dem Heimweg bekam ich Zweifel. Einerseits hatte ich den Typen abblitzen lassen, darauf war ich ziemlich stolz, andererseits wurde mir klar, dass ich mir eben richtig was verbaut haben könnte. Was, wenn Schwitzefinger jetzt im Hintergrund ein paar Fäden zieht, von denen ich gar nichts weiß, und ich irgendwann ganz dumm dastehe. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand sich auf die Art in Schwierigkeiten gebracht hätte. Für mich stimmte die Welt nicht mehr.
Die Band "Lift" hatte mit der Ballade "Am Abend mancher Tage" einen Nummer-Eins-Hit. Der Text stammte von Joachim Krause. Der Sohn eines Pfarres aus Thüringen schrieb Gedichte und Texte für verschiedene Bands, während er in Dresden Chemie studierte. Dann arbeitete er für die Kirche und wurde einer der ersten Umweltaktivisten in der DDR. Klar, dass das Stasi und Partei solchen Kandidaten eine ganz besondere Behandlung angedeihen ließen. 1989 gehörte er zu den Gründern des "Demokratischen Aufbruchs" in Berlin.
Für "Lift" war der Titel die Verarbeitung eines Autounfalls während einer Tour, bei dem zwei Bandmitglieder ums Leben kamen. Aber von all dem wusste ich nichts. Jemand sagte mal, man dürfe von Musik nicht erwarten, dass sie die Welt verbessert, es genüge schon, wenn sie einem ab und zu das Leben rettet.
Ich war nie in Lebensgefahr und bin auch kein Opfer des Regimes geworden. Aber dass ich meinen Weg ohne große Umwege gehen konnte, verdanke ich nicht den Bemühungen des Arbeiter- und Bauernstaates. Und wenn ich daran denke, wie viele großartige, hoffnungsvolle Lebenswege im Sande verliefen, auf Abstellgleisen endeten, nur weil irgend so ein hirnloser Strammsteher es so wollte, dann kann ich nur sagen, ich mache drei Kreuze, dass es diesen Staat nicht mehr gibt.
Am Abend mancher Tage
da stimmt die Welt nicht mehr
Irgendetwas ist zerbrochen
wiegt so schwer
Und man kann das nicht begreifen
will nichts mehr sehn
und doch muss man weiter gehen
Am Abend mancher Tage
da wirft man alles hin
Nun scheint alles was gewesen
ohne Sinn
Und man lässt sich einfach treiben
starrt an die Wand
nirgendwo ist festes Land
Gib nicht auf
denn das kriegst du wieder hin
eine Tür schlug zu
doch schon morgen wirst du weitersehn
Manchmal ist eine Liebe
erfroren über Nacht
Manchmal will man hin zur Sonne
und stürzt ab
Manchmal steht man ganz allein da
ringsum ist Eis
alles dreht sich nur im Kreis
Gib nicht auf ...
Am Abend mancher Tage
da stimmt die Welt nicht mehr
Irgendetwas ist zerbrochen
wiegt so schwer
Und man kann das nicht begreifen
will nichts mehr sehn
und doch muss man weitergehn
Und man lässt sich einfach treiben
will nichts mehr sehn
und doch wird man weitergehn
Zum Weiterlesen:
Jan Josef Liefers: "Soundtrack meiner Kindheit". Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009, 333 Seiten.
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