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Gewalt und Erziehung: Jugend im 20. Jahrhundert

Jugendgewalt im 20. Jahrhundert Das Gespenst der wilden Cliquen

Disziplinierung, Drill, Dressur: Der Ruf nach Strenge im Umgang mit gewalttätigen Jugendlichen durchzieht das 20. Jahrhundert wie ein roter Faden. Die Historikerin Barbara Stambolis analysiert den Wandel in der Erziehungspolitik - und erklärt, wieso wir wohl immer wieder dieselben Fehler machen werden wie unsere Eltern.

"Dieser Junge ist durch und durch verdorben, heimtückisch, trotzig, feig - ihm ist gar nicht mehr zu helfen." So schrieb ein Hamburger Sozialarbeiter - damals Jugendpfleger oder Fürsorger genannt - 1906 über einen seiner Zöglinge. "Ungehorsam" und "roh" sei der, bringe "die Volksjugend in unverdient schlechten Ruf". Die Schuld sah der Fachmann allerdings nicht so sehr bei dem Jungen, als in den "Sünden der Eltern, der Schule, der Polizei, der Gesellschaft an ihm". Auch sei Hopfen und Malz nicht in jedem Fall verloren - wer "Zeit und Geschick" investiere, dem offenbare der "grobe Junge wahrscheinlich ein goldenes Herz".

Die Diskussion um den richtigen Umgang mit jungen Männern, der jetzt wieder die Titelseiten und die Wahlkämpfe beherrscht, tobte schon an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Auf der einen Seite blickten erschreckte Bürger um 1900 beunruhigt und verunsichert auf eine "zuchtlose" und "verwahrloste" Jugend. "Der 'Halbstarke'", hieß es damals über junge Männer zwischen 15 und 22 Jahren, sei "der geschworene Feind der Ordnung. Alles Schöne und Geordnete ärgert ihn; es reißt ihn direkt zur Sünde, löst in ihm die Freude am Zerstören aus, und wenn es auch nur jener Vandalismus wäre, der zerstört, um zu zerstören, ohne den geringsten Vorteil zu haben."

Welle von Schülerselbstmorden

Auf der anderen Seite spürten hellsichtige Zeitgenossen bereits damals, wie wenig hilfreich der Ruf nach Strafe und Strenge ist. Sie kritisierten die höheren Schulen, denen es vorrangig um Dressur mit dem Ziel der Erzeugung unterwürfiger Untertanen ging. Dass zahlreiche Jugendliche daran zerbrachen, zeigt eine Welle von Schülerselbstmorden, zu denen 1908 ein Buch des Pädagogen Ludwig Gurlitt erschien, der maßgeblich die Entstehung und geistige Ausrichtung des Wandervogels mit begleitete. Für Sigmund Freud war die Selbstmordwelle Anlass, 1910 zu einem Kongress nach Wien einzuladen, um das grassierende Suizidproblem psychologisch zu analysieren.

Der Ruf nach strenger Erziehung, Kasernierung und harter Disziplinierung einerseits und neuen Ansätzen für eine Erziehung zu Selbständigkeit und Verantwortung durch Einsicht und freie Entscheidungen andererseits durchzieht die Geschichte der folgenden Jahrzehnte in Deutschland. Mit dem Untergang des Kaiserreichs verwarf man zunächst auch Drill, Disziplinierung und Dressur; die Entwicklung eines verantwortungsbewussten, demokratischen und sozial denkenden Staatsbürgertums galt nach 1918 als wesentliche Voraussetzung für eine neue Gesellschaft.

Dass Jugendliche mit anderen Maßstäben zu messen seien als Erwachsene und auf besondere Weise geschützt werden müssten, wurde nun zum breiten Konsens, der auch Eingang in juristische und sozialreformerische Diskussionen um die Einführung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes und die Reform des Jugendstrafvollzugs fand. Als am 1. Juli 1923 das neue Jugendstrafrecht in Kraft trat, wurde es als bahnbrechende Innovation des Rechtswesens und als Beginn einer "sozialen Revolution des gesamten Strafrechts" gefeiert.

Märtyrer der Straßenschlachten

Die Bildungspolitik nach 1918 wollte der nachwachsenden Jugend eine "republikanische" Erziehung angedeihen lassen. Zu "Staatsbürgerliche Bildung" hieß es in Artikel 148 der Weimarer Verfassung: "In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben. Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, dass die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden."

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Die Belastungen der ersten deutschen Republik waren indes zu groß, um diese Reformen Wirklichkeit werden zu lassen. Schüler beteiligten sich offen an antirepublikanischen militanten Kundgebungen. Alarmierend wirkte beispielsweise die Verwicklung von Gymnasiasten in die Vorgänge um die Ermordung des Zentrumspolitikers Matthias Erzberger 1921 und von Außenminister Walther Rathenau 1922. Der Boykott von Verfassungsfeiern durch antirepublikanische Schülergruppen, beispielsweise aus dem "Jungstahlhelm", gehörte zu den wiederkehrenden, beunruhigenden Zeichen, dass die Demokratie bei Teilen Jugendlicher nicht hoch im Kurs stand. Solche Vorgänge machten auch deutlich, dass Politik mehr und mehr mit gewaltsamen Mitteln auf der Straße ausgetragen wurde. Kommunisten und Nationalisten nahmen die jugendlichen Märtyrer dieser Straßenschlachten für sich in Anspruch.

So sah sich die deutsche Gesellschaft um 1930 wiederum Jugendlichen gegenüber, die sich zu Gangs zusammenschlossen und Furcht verbreiteten: "Ein Gespenst, unfassbar, unentlarvbar, lauert im Hintergrund fast aller Berliner Strafprozesse, die gegen Jugendliche geführt werden: das Gespenst der wilden Cliquen", hieß es in einem zeitgenössischen Bericht aus dem Jahre 1931. Die Gangs, die es insbesondere in Großstädten wie Berlin gab, wurden zum Inbegriff einer verrohten, von den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen zerrütteten Jugend. Es kam zu regelrechten Aufständen in Erziehungsanstalten, die Furore machten und breite Wirkung zeigten. So griff der Pädagoge Peter Martin Lampel 1928 die Vorfälle in seinem Schauspiel "Revolte im Erziehungshaus" auf und präsentierte dem schockierten bürgerlichen Publikum eine jugendliche Lebenswirklichkeit geprägt von Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung und Kriminalität. Breit in der Presse diskutiert wurde um 1930 eine neue Selbstmordwelle Jugendlicher, die über das Land hereinbrach und sogleich Fragen nach einer Krise der Gesellschaft auslöste.

Arbeitsdienst gegen Jugendarbeitslosigkeit

In der Endphase der Weimarer Republik, in der militante Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum an der Tagesordnung waren, wurden einmal mehr Rufe nach Disziplinierung der Jugend laut, um die Halbstarken zu bändigen. Zahlreiche Politiker forderten die Einführung von Arbeitsdienst oder Lagererziehung für schwierige Jugendliche. Dass die radikalen Parteien, nicht zuletzt die Nationalsozialisten, von der Verunsicherung profitierten, steht außer Frage. Bereits in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre hatte es Pläne für einen Arbeitsdienst unter Hinweis auf die bedenklichen Folgen von Erwerbslosigkeit für Jugendliche gegeben. Um 1930 nahm der öffentliche Druck zu, eine solche Maßnahme umzusetzen.

Die NS-Diktatur schließlich perfektionierte nach 1933 mit ihren Jugendorganisationen, der "Hitler-Jugend" (HJ) und dem "Bund Deutscher Mädel" (BDM), das System des Drills und Schleifens. Auch der Alltag im sogenannten Landerziehungsjahr wurde im Sinne nationalsozialistischer Lagererziehung mit Uniformierung, weltanschaulichem Unterricht, Paraden und Lagerappellen ausgefüllt.

Der Dienst in der HJ diente zunehmend der vormilitärischen Ausbildung und der Vorbereitung auf den Kriegs- oder Kriegshilfsdienst. Schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, erst recht dann im Krieg diente die Organisation der Erziehung für den Kriegseinsatz von Kindern und Jugendlichen an der "Heimatfront". Kinder und Jugendliche wurden mit kriegsnotwendigen Aufgaben vertraut gemacht und dabei intensiv zu Gehorsam, Ein- und Unterordnung erzogen - weit weniger spielerisch, als manche Zeitzeugen es heute schildern.

Texashosen, Lederjacken, bunt gestreifte Rollkragenpullover

Die Grundgedanken einer freiheitlichen Erziehung lebten aber auch nach 1933 weiter fort. Sie finden sich etwa in Plänen des deutschen Widerstands gegen Hitler zur Neuordnung Deutschlands wider. Bewusst wurde dabei an die Jugendwohlfahrtsgesetzgebung und das Jugendstrafrecht der zwanziger Jahre angeknüpft - etwa den Artikel 122 a der Weimarer Verfassung, nach dem die Jugend "gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige und körperliche Verwahrlosung zu schützen" sei.

"Arbeitserziehung" blieb allerdings nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein probates Mittel der Fürsorgepädagogik. Und: Härte sowie Disziplin lebten in der Erziehung in den Schulen und Familien auch nach 1945 noch lange fort. Nicht zuletzt, weil die "Halbstarken" der fünfziger Jahre mit Aufsehen erregenden Massenkrawalle und Schlägereien das Thema Jugendgewalt neu aufbrachten. Jugendliche Gangs belästigten Passanten, randalierten oder demolierten öffentliche Anlagen.

Ihr großes Vorbild: Der Film "Die Halbstarken" mit Horst Buchholz, der 1956 für Furore sorgte und Zeitungsberichten zufolge zu wahren Gewaltorgien führte: "Nach den Kinovorstellungen strömten die Jugendlichen - fast alle im genormten Dress von genieteten Texashosen, Lederjacken oder bunt gestreiften Rollkragenpullovern - zu Hunderten in die Innenstadt" berichtete etwa die "Westdeutsche Allgemeine Zeitung" vom 12. Dezember 1956, "Sobald die Polizei auftauchte, begann ein vielstimmiges Gejohle. Dann feierte die blinde Zerstörungswut Triumphe. Man warf Verkehrsschilder um, riss Weihnachtsgirlanden von den Geschäften und zertrümmerte Scheiben."

Schlendern, schlurfen, hängenlassen

Und doch: Nach 1945 fand Erziehung in Form von Dressur zwar noch statt, aber nicht mehr in dem früher verbreiteten Maß. Ein Grund war auch der Wandel des Männerbildes in den fünfziger Jahren. "Hart, gerade, frei stehen, marschieren, kurze Hose, Kleidung korrekt, Augen geradeaus" - so charakterisierte der Volkskundler Kaspar Maase die männliche Haltung der Zeit vor 1950; für die Zeit danach vermerkte er: "Sich hängen lassen, anlehnen, schlendern, schlurfen, lange Hose, Kleidung formlos, locker, verdeckter und gesenkter Blick."

Wer mit Drill groß geworden ist, kann sich allerdings nur schwer davon verabschieden - Angehörige der Altersgruppe, die im Krieg und in den Nachkriegsjahren groß geworden sind, bestätigen das. Sie sind mit erzieherischen Leitsätzen wie "Was mich nicht umbringt, macht mich stark" oder "Disziplin muss sein" aufgewachsen und haben diese an die eigenen Kinder weitergegeben - ob sie wollten oder nicht.

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