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Disziplinierung von Jugendlichen in der DDR: "Ich halte das nicht mehr aus"

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Umerziehungsheime in der DDR Geprügelt, weggesperrt, gedemütigt

Zu "vollwertigen Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft" sollten sie werden - rebellische Jugendliche in der DDR wurden in speziellen Heimen darauf gedrillt, sich ins Kollektiv einzufügen. Besonders gefürchtet: der Jugendwerkhof in Torgau.

Mit einem dumpfen Schlag fällt die Metalltür zu. Jetzt ist es finster. Die Wände der winzigen Zelle scheinen noch näher zu rücken. Die Decke ist ohnehin so niedrig, dass selbst kleine Leute sie mit ausgestrecktem Arm erreichen, die Längsseite kaum lang genug, dass ein Erwachsener sich auf der kargen Holzpritsche ausstrecken kann. Nur durch ein paar Glasbausteine neben der Tür fällt schummriges Licht herein. Andreas Freund atmet tief durch, mehrmals, dann sagt er: "So hell war es damals nicht. Damals war es ganz dunkel."

Damals, das ist jetzt 33 Jahre her. Damals, 1981/82, war Freund mehrere Monate lang Insasse des "Geschlossenen Jugendwerkhofs" in Torgau an der Elbe.

Torgau ist ein bisschen berühmt, weil sich hier im April 1945 kurz vor Kriegsende amerikanische und sowjetische Truppen begegneten. Während der DDR-Zeit war das sächsische Städtchen berüchtigt. Hierher kamen jene Jugendlichen, mit denen Lehrer oder Eltern nicht mehr zurechtkamen, die sich nicht in die sozialistische Gesellschaft einpassen wollten, jene, die als besonders renitent galten.

Hier sollten sie zu "vollwertigen Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft und bewussten Bürgern der DDR" werden. Ihren Charakter galt es zu "korrigieren", so hieß es in der Sprache der Pädagogen. "Es muss am Ende der sozialistische Staatsbürger als Erziehungsergebnis herauskommen", stand 1965 in einem Tagungsprotokoll der zuständigen Behörde.

Zwei Wochen in die Isolation

Ein Jahr zuvor, 1964, wurde Torgau eröffnet, direkt dem Ministerium für Volksbildung unter Margot Honecker unterstellt. Bis 1989 verbrachten 4046 Jugendliche hier meistens drei, maximal sechs Monate, viele von ihnen traf es mehrmals. Jeder von ihnen hat eine andere, eine eigene Geschichte. Die von Andreas Freund ist eine von ihnen. Ein Einzelfall und doch typisch, weil er zeigt, wie der sozialistische Staat mit Kindern und Jugendlichen umging, die nicht ins System passten.

Wie oft er damals jedes Zeitgefühl verlor, weiß Freund nicht mehr. Mal saß er in der Dunkelzelle im Keller, mal in einer der regulären Arrestzellen im ersten Stock, tagelang, immer allein, erzählt er. Beim ersten Mal, da war er gerade 14 Jahre alt, sperrten die Erzieher ihn zwei Wochen in die Isolation. Dabei war es die Freiheit, die er mehr suchte als alles andere.

Aus SPIEGEL Geschichte 3/2015
Foto: Foto: Hans-Peter Stiebing/ Süddeutsche Zeitung Photo

Zu Hause hatte er es nicht leicht. Mit dem Vater und dem deutlich älteren Bruder verstand er sich nicht, von Schlägen ist in den alten Unterlagen die Rede und von Angst. In der Schule gibt es Schwierigkeiten, er ist Außenseiter, viel allein. Mit dem, was er über die DDR erfährt, kann er sich nicht identifizieren, erinnert er sich.

Eine Cousine des Vaters lebt in Nürnberg, ohnehin läuft bei der Familie in der Nähe von Quedlinburg immer nur der NDR, verlockend erscheint der Westen, und so versteckt sich der 12-jährige Andreas in einem Zug Richtung CSSR unter der Sitzbank. Erst kurz vor der Grenze, in Bad Schandau, wird er von einem Wachhund entdeckt.

Im Jahr darauf haut er wieder ab, mal wird er in Halberstadt aufgegriffen, mal in Karl-Marx-Stadt oder Rostock, auch kleine Einbrüche und Diebstähle, Mundraub wohl, werden ihm zur Last gelegt. 1981 schreitet die Jugendhilfe ein. Der Jugendhilfeausschuss des Kreises Aschersleben, ein Gremium aus pädagogisch vorgebildeten Ehrenamtlichen, entscheidet, dass Eltern und Lehrer alles versucht haben. Weil Andreas aber nicht spurt, muss er ins Heim. Dort soll er die "feste Ein- und Unterordnung ins Kollektiv" lernen.

Hilfe wird der Familie nicht angeboten, die Eltern verlieren das Erziehungsrecht. "Auf die Teilnahme der Eltern des Jugendlichen wurde gemäß § 37 JHVO verzichtet", heißt es im Protokoll der entscheidenden Sitzung.

Die Besonderheiten in der Persönlichkeitsentwicklung überwinden

Für vermeintlich schwierige Kinder und Jugendliche wie Andreas gibt es "Spezialheime", "Einrichtungen zur Umerziehung von Minderjährigen". Bis zum Alter von 14 Jahren sind das besondere Kinderheime, danach geht es dann in einen der 32 Jugendwerkhöfe, die über das ganze Land verteilt sind.

Die ersten dieser Jugendwerkhöfe (JWH) wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegründet, "Erziehung zur Arbeit durch Arbeit" ist ihr Prinzip, man orientiert sich an den Lehren des sowjetischen Pädagogen Anton Semjoniwitsch Makarenko, der in der Stalin-Zeit mit verwahrlosten Kindern und Jugendlichen arbeitete. "Das Ziel der Umerziehung besteht darin, die Besonderheiten in der Persönlichkeitsentwicklung zu überwinden, die Eigenheiten im Denken und Verhalten der Kinder und Jugendlichen", so die offizielle Vorgabe.

Die JWH sind keine Gefängnisse, nicht Gerichte weisen die Jugendlichen hier ein, sondern die Jugendhilfe. Immer wieder wird sie auf Antrag von Lehrern tätig, und oft scheinen die Gründe willkürlich: Jemand schwänzt zu häufig die Schule, zeigt sich im Unterricht rebellisch oder politisch unbelehrbar, reißt von zu Hause aus, schließt sich Subkulturen an, in den Achtzigerjahren etwa Punks oder Skinheads, klaut Autos oder Mopeds für Spritztouren oder geht angeblich der Prostitution nach.

"Die Toleranzgrenze gegenüber abweichendem Verhalten war in der DDR wesentlich niedriger angesiedelt als in der Bundesrepublik", urteilt die Historikerin Verena Zimmermann, die als eine der ersten das System der DDR-Jugendhilfe wissenschaftlich untersucht hat.

In den Jugendwerkhöfen gab es gar keine Toleranz. Disziplin, Strafen und Gruppendruck waren fast überall die vorherrschenden Erziehungsmethoden. Andreas Freund erinnert sich, wie erniedrigend er es bereits in seiner ersten Heimstation empfand, dass er nur mit Ausgangsschein und in der Gruppe herausdurfte, wie autoritär die Erzieher mit ihm umgingen, wie gnadenlos auch die Gleichaltrigen Abweichler und Außenseiter bestraften. "Ich wurde oft zusammengeschlagen. Das alles hat mir nicht gepasst", sagt er.

Er widersetzt sich, haut 15-mal ab, wird immer wieder aufgegriffen. Wegen "Dauerentweichung" und Nazischmierereien in der Arrestzelle - Freund beteuert, die habe man ihm angehängt - kommt er nach Torgau, erst einmal für zwei Wochen Arrest. Danach wird er in einen offenen JWH gebracht, auch von dort will er stets nur weg.

"Explosionsmethode"

Zur Strafe ging es erneut nach Torgau, geschlossener JWH, diesmal für unbestimmte Zeit. Drei Monate? Oder sechs, die Höchststrafe? "Man wurde bewusst im Unklaren gelassen, wie lange man bleiben musste", sagt Freund.

Zur Begrüßung wurden Jungen und Mädchen die Haare geschoren, alle trugen die gleiche Anstaltskleidung, jeder Aufenthalt begann mit einem dreitätigen Einzelarrest, bis die Hausordnung auswendig saß. "Sie haben zu beweisen, dass Schluss ist mit ihrem gesellschaftswidrigen Verhalten" hieß es darin. "Explosionsmethode" nannten die Erzieher das, der Schock sollte den Willen der Jugendlichen brechen, sie gefügig machen.

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Anschließend ging es in die Zelle. Die bis zu 60 Jugendlichen schliefen in Dreistockbetten, Jungs und Mädchen getrennt in großen Gemeinschaftszellen. Ab 20.50 Uhr waren die Schlafräume abgeschlossen, wer zur Toilette musste, hatte einen Emailleeimer zu benutzen.

Um den Hof verlief eine drei Meter hohe Mauer, einzementierte Glasscherben obendrauf, jeden Tag mussten die Jugendlichen hier Sport machen, die einzige Zeit, zu der sie an die Luft durften. Mit Ballettschläppchen mussten sie über den Kies laufen, erzählt Freund, bei jedem Wetter, Runde um Runde um den Hof, manchmal bis die Schläppchen durch und die Füße blutig waren. Bei den Erziehern beliebt war der "Torgauer Dreier", Liegestütz, Hocke und Hock-strecksprung, 300 und mehr mussten sie davon machen.

Nicht selten übergab sich jemand, brach zusammen, doch wer irgendwie konnte, kämpfte weiter, denn machte nur einer schlapp, wurde die ganze Gruppe bestraft. Mit noch mehr Sport. Oder mit dem Entengang, auch das eine der häufigen Strafen: Hände hinter den Kopf, die zwei Treppen in den ersten Stock hinauf, über den Gang und im anderen Treppenhaus wieder hinunter, 25-, 30-mal, gern auch mit Gewichten auf den Schultern. Folter war das, sagt Freund. Abends, nach dem Einschluss, kam dann die Rache der Gruppe. "Ich habe von den Prügeln noch heute Narben am ganzen Körper."

Schrauben schlucken, Nadeln, Schmierfett

Freie Zeit gab es in Torgau nicht, schon gar nicht allein. Im Individualismus sahen DDR-Pädagogen das Kernproblem der angeblichen Schwererziehbarkeit. Jede Minute am Tag war deshalb verplant, keine Sekunde sollte verbummelt werden, selbst bewegen durften die Jugendlichen sich nur im Laufschritt.

Gleich morgens Putzen und Bettenbauen. Dann Produktion in der hauseigenen Metallwerkstatt oder Unterricht in Staatsbürgerkunde, Deutsch, Mathematik und Lehrunterweisung. Wer Fehler machte oder nicht die geforderte Leistung brachte, wurde mit Essensentzug bestraft. Dann Sport. Die Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" gucken und die Meldungen wörtlich wiedergeben. Zwischendurch Mahlzeiten oder Schlafen. Am Wochenende paramilitärisches Training.

Nichts durften die Jugendlichen selbst entscheiden. Sogar für die Toilettengänge gab es feste Zeiten, man ging im Kollektiv, die WCs hatten weder Trennwände noch Türen. "Kein Leerlauf darf die Zöglinge verleiten, in eine andere Richtung als die vom Erzieher gewollte, auszubrechen", so das pädagogische Konzept. "Es gab überhaupt keinen Respekt meiner Person gegenüber", sagt Andreas Freund.

Ein Arzt hatte bei seiner Heimeinweisung geraten, dass Freunds "Umerziehungsprozess nur unter einer heilpädagogischen und gut fundierten psychologischen Führung erfolgen sollte". Doch in Torgau zählten solche Empfehlungen nichts. Viele Berichte gibt es über Suizidversuche, Jungen und Mädchen, die Schrauben geschluckt haben, Nadeln oder Schmierfett. Mindestens vier Suizide sind belegt.

Er verherrlicht die Zustände im Kapitalismus

Auch bei Rainer F., mit dem sich Andreas Freund in Torgau anfreundete, hatten Psychologen vor Isolation gewarnt, mehrfach hatte Rainer F. gedroht, sich umzubringen. Als er nach einer Operation allein in der Krankenzelle eingeschlossen ist, legt er ein Feuer und stirbt, weil sich die Tür nicht öffnen lässt.

"Kinder-Knast" wurde Torgau genannt, oder "Grüne Hölle", wegen der hellgrünen Wände im Zellentrakt mit den vergitterten Fenstern und den Metalltüren. Schläge mit dem Schlüsselbund an den Kopf, einen Tag und eine Nacht lang an ein Gitter im Gang angekettet verbringen, seitenlange Aufsätze über sinnlose Themen wie Schnürsenkelbinden schreiben - kaum eine Grausamkeit, die man in den Berichten der Zeitzeugen nicht findet.

Freund erfährt nach einem halben Jahr, dass er in den offenen Jugendwerkhof Hummelshain entlassen wird. Doch es ist noch nicht vorbei. Auch von dort haut er wieder ab, kundschaftet, so erzählt er es, die Mauer in Ostberlin aus, wird gefasst, wegen "versuchten illegalen Grenzübertritts" in U-Haft gesteckt und zu einem Jahr Jugendgefängnis verurteilt.

"Freund verfügt über eine verfestigte negative Grundhaltung zur sozialistischen Entwicklung in der DDR. Er verherrlicht die Zustände im Kapitalismus", heißt es in seiner Akte. 1983 wird er entlassen, möchte Krankenpfleger werden, doch die Ausbildung wird ihm versagt. Zwei Jahre lang muss er Bleche für Briefkästen stanzen, dann zieht er von zu Hause aus, schlägt sich als Krankenpflegehelfer durch. Erst als er im April 1989 an einem Montagsgebet in der Leipziger Nikolaikirche teilnimmt, wird sein Ausreiseantrag genehmigt; kurz darauf sitzt er im Zug nach Frankfurt am Main, erinnert er sich.

Alkohol, Zigaretten, Frühverrentung

Es ist die ersehnte Freiheit, endlich. Doch die Vergangenheit entlässt Freund nicht. Als er in den Neunzigerjahren für einen Dokumentarfilm erstmals wieder nach Torgau fährt, kommen die Schrecken mit aller Macht zurück. Jede Nacht hört er seinen Freund Rainer in Todesangst schreien, er betäubt sich mit Alkohol, immer mehr Alkohol, doch auch das kann die Erinnerungen nicht löschen.

Heute ist Freund 48, er sieht älter aus. Ärzte haben eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, er ist frühverrentet, weg vom Alkohol, strafrechtlich rehabilitiert, aber seit Jahren in Therapie. Er möchte Torgau vergessen, aber gleichzeitig will er die Erinnerung wachhalten, es ist eine Gratwanderung über die eigenen Gefühle.

Er steht auf dem Hof des ehemaligen JHW in Torgau. Die Mauer ist weg, die Wände sind jetzt pastellfarben getüncht. Dort, wo sie nachts damals eingeschlossen wurden, leben nun Menschen in Eigentumswohnungen, doch die Dunkelzellen im Keller kann man noch besichtigen.

Die endlosen Tage im Arrest damals habe er nur durch eine Flucht in Gedanken überstanden, erzählt Freund: Er träumte sich in den Garten seines Elternhauses, zusammen mit den vier Familienhunden, mit denen er als Kind so gern gespielt hatte.

Freund zittert, er steckt sich eine Zigarette an. Wenn die Erinnerungen zu viel werden, hilft das Nikotin. Er raucht viele Zigaretten an diesem Tag. "Es waren schlimme Jahre", sagt Freund, aber auf eines sei er stolz: "Meine Sensibilität habe ich nicht verloren."

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