
Julikrise: Der ersehnte Weltkrieg
Julikrise 1914 Der ersehnte Weltkrieg
Selbst der deutsche Kaiser Wilhelm II. schien Ende Juli 1914 zu glauben, ein Krieg lasse sich noch vermeiden. Dabei war einen Monat zuvor der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand vom serbischen Nationalisten Gavrilo Princip ermordet worden. Das Attentat gab Wien den Anlass, demütigende Forderungen an Belgrad zu stellen. Die diplomatische Note vom 23. Juli enthielt vor allem zwei schwer erfüllbare Punkte: Die serbische Regierung sollte eine Erklärung abgeben, Vereinbarungen gebrochen und anti-österreichische Aktivitäten unterstützt zu haben. Außerdem forderte Wien das Land ultimativ auf, österreichische Vertreter an der Untersuchung des Mordkomplotts teilnehmen zu lassen.
Die Antwort der serbischen Regierung auf das scharfe Ultimatum fiel überraschend entgegenkommend aus - und stimmte auch Kaiser Wilhelm optimistisch. Dennoch verschärfte die Regierung in Wien die Krise mit der Kriegserklärung an Serbien vom 28. Juli 1914. Es drohte nun ein gesamteuropäischer Konflikt. Vieles deutet darauf hin, dass in der Nacht vom 30. auf den 31. Juli zwischen den verbündeten Regierungen in Berlin und Wien der Entschluss fiel, den Kampf zu wagen.
Die künftigen Frontlinien hatten sich schon seit Jahren abgezeichnet: Deutschland und Österreich hätten im Falle eines Krieges gegen Russland und Frankreich mit dem Eingreifen Großbritanniens auf der Seite ihrer Gegner zu rechnen. Die Aussicht, in einen Krieg gegen drei Großmächte zu geraten, veranlasste den deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg zu mehreren Telegrammen. Damit wollte er seinen österreichischen Verbündeten vom bereits eingeschlagenen Kriegskurs noch abbringen.
Das Militär drängt zum Krieg
Dies löste in Wien Verwirrung aus. Der deutsche Botschafter Heinrich von Tschirschky führte am Mittag des 30. Juli den Auftrag des Kanzlers aus. Er erklärte dem österreichischen Außenminister Leopold Graf Berchtold, der Verbündete solle versuchen, im Streit mit Serbien eine Verständigung mit Russland, Schutzmacht des Balkanstaats, zu erreichen. Wie von Tschirschky nach Berlin meldete, hörte ihm der Außenminister "bleich und schweigend" zu und kündigte an, zur geänderten Haltung Berlins sofort seinem Kaiser Franz Joseph Vortrag zu halten.
Die Initiative des Kanzlers führte in der folgenden Nacht zu Verunsicherung und Kämpfen hinter den Kulissen. Am Morgen des 31. Juli empfing Graf Berchtold den Generalstabschef der kaiserlich und königlichen Armee, Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf. Der höchste Militär Österreichs trat seit Jahren für einen "Präventivschlag" gegen Serbien ein - obwohl dies den großen Krieg zweifellos wahrscheinlich machen würde. Nun befürchtete er, der deutsche Verbündete könne im letzten Moment eine Beilegung der Krise anstreben. Bisher hatte dessen Staatsleitung Wiens gefährlichen Kurs gedeckt und sowohl das Ultimatum als auch das militärische Vorgehen gegen Belgrad gutgeheißen.
Conrad von Hötzendorf hatte, wie er nach dem Krieg berichtete, am Morgen des 31. bereits um 7.45 Uhr ein Telegramm des deutschen Generalstabschefs Helmuth von Moltke erhalten mit der Aufforderung, bis zur russischen Mobilisierung durchzuhalten: "Österreich-Ungarn muss erhalten bleiben, gleich gegen Russland mobilisieren. Deutschland wird mobilisieren." Dies ging weit über Moltkes Kompetenzen hinaus, der keine Mobilisierung und schon gar keine Politik einem Verbündeten gegenüber festzulegen hatte. Die letzte Juliwoche des Jahres 1914 war geprägt durch den wachsenden Einfluss der Militärs in der Staatsleitung. Besonders Moltke und der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn forderten vehement den Krieg.
Russland ins Unrecht setzen
Darüber hinaus hatte Conrad von Hötzendorf ein Telegramm von Wilhelm Baron Bienerth, dem österreichischen Militärattaché in Berlin erhalten. Demnach rate Moltke, alle Vermittlungsvorschläge abzulehnen. Diese ebenfalls nur der Regierung zustehende Empfehlung habe der Chef des deutschen Militärs mit den Worten untermauert: "Für Österreich-Ungarn zur Erhaltung Durchhalten des europäischen Krieges letztes Mittel. Deutschland geht unbedingt mit." Außenminister von Berchtold, dem Hötzendorf beides vorlas, kommentierte die Nachrichten zufrieden: "Das ist gelungen! Wer regiert: Moltke oder Bethmann?"
Damit hatte der Leiter der österreichischen Diplomatie die beiden Personen benannt, die er mit Krieg beziehungsweise Frieden verband. Noch im Verlauf des Gesprächs scheint sich die Frage endgültig geklärt zu haben, ob sich die zivile oder die militärische Führung durchsetzte. Berchtolds Befürchtungen, Deutschland könne zurückweichen, erwiesen sich als unbegründet. Er erhielt weitere Nachrichten und konnte Conrad von Hötzendorf versichern, er habe "von maßgebendster militärischer Seite beruhigendste Erklärung".
Die Befürworter des Krieges hatten die Dinge jetzt in der Hand. Auch dies dürfte Moltke nach Wien gemeldet haben; unter Umständen auch General von Falkenhayn. Von ihm ist bekannt, dass er noch am selben Tag auf den Kanzler einwirkte, er könne seine Zustimmung zur Mobilmachung wegen der "militärischen Nachteile einer Verzögerung" nicht weiter verweigern. Das Schwanken des Kanzlers und auch des Kaisers hatte beim Verbündeten im letzten Moment noch einmal Irritationen erzeugt.
"Der Angriff muss von den Slawen ausgehen"
Diese reichten so tief, dass am Abend des 31. Juli der deutsche Militärattaché Karl Graf Kageneck den erregten Chef des österreichischen Generalstabs beruhigen musste. Dies habe er getan, berichtete von Kageneck nach Berlin, indem er Conrad von Hötzendorf das Zögern als Taktik anpries, um "Russland als den alleinigen Aggressiven ins Unrecht zu setzen".
Das war auch die Linie, die Reichskanzler Bethmann Hollweg verfolgte. Allerdings erst, nachdem er spürte, dass er dem Drängen der Militärs und den Automatismen der Mobilisierungspläne nichts mehr entgegensetzen konnte. Sowohl Falkenhayn als auch Moltke berichten, wie Bethmann Hollweg sich ihren Forderungen zu widersetzen suchte. Großadmiral Alfred von Tirpitz beobachtete gar, dass der Kanzler nach dem Bekanntwerden der Mobilmachung Russlands, die den Krieg so gut wie unvermeidlich erscheinen ließ, "den Eindruck eines Ertrinkenden" machte.
Doch jetzt begann Bethmann Hollweg dafür zu arbeiten, dass der Krieg, den er nicht mehr verhindern konnte, wenigstens auf eine überzeugende Weise begann. Mehrfach betonte der Kanzler in jenen Tagen, um die innere Einigkeit sicherzustellen, müsse Russland als Angreifer erscheinen.
Dieses Vorgehen war seit längerem in der Staatsleitung diskutiert worden. Der Generalstabschef hatte wiederholt erklärt, welche Art des Kampfes er erwartete: ein "Volkskrieg" stehe bevor. Bereits Anfang 1913 hatte Moltke verlangt, eine "wirkungsvolle Parole" müsse am Anfang eines "Weltkriegs" stehen, den er voraussah und zunehmend für unvermeidlich hielt. Und er stellte klar, wie diese nach seiner Ansicht zu lauten hatte: "Der Angriff muss aber von den Slawen ausgehen".
Dass sich diese Linie in den Tagen des Kriegsausbruchs durchsetzte, zeigte sich auch bei der Unterzeichnung des Befehls zur drohenden Kriegsgefahr, der Vorstufe zur deutschen Mobilisierung. Wie Falkenhayn berichtete, gab Wilhelm II. bei dieser Gelegenheit "ein Exposé über die Lage, in dem Russland die ganze Schuld zugeschoben wird" - woran der General und Kriegsminister nach seinen Worten selbst nicht glaubte.
Eine erfolgreiche Strategie
In einer Sitzung vor dem preußischen Ministerrat erklärte der Reichskanzler am 30. Juli, warum der Konflikt unbedingt als Akt der Verteidigung zu beginnen habe. Nur so sei die Öffentlichkeit von seiner Notwendigkeit zu überzeugen, vor allem die Arbeiterschaft und die Sozialdemokraten. Er erwähnte sogar eine Absprache mit den Führern der SPD, in diesem Fall auf Streiks zu verzichten. Wie wichtig der Regierung die innere Einheit als Voraussetzung für den Krieg war, zeigt auch das Tagebuch Kurt Riezlers, Bethmann Hollwegs Sekretär. Dort ist am 27. Juli vermerkt: "Im übrigen werden die Sozialdemokraten von allen Seiten bearbeitet."
Das Kalkül ging auf. Das zeigte sich am 31. Juli, als Wilhelm II. nach der russischen Mobilmachung vom Berliner Schloss aus verkündete, die Feinde zwängen Deutschland "zu gerechter Verteidigung". Niemand bezweifelte die Darstellung der Regierenden. Viele Deutsche zogen nicht nur pflichtbewusst, sondern begeistert in den Krieg. Nirgends wurde mehr diskutiert, dass Österreich-Ungarns fragwürdiges Vorgehen gegenüber Serbien die Krise hervorgerufen hatte, die jetzt einen Weltkrieg auslöste. Nach den Kriegserklärungen Deutschlands an Russland und Frankreich konnte der Kaiser am 4. August seinen berühmten Appell zur Einigkeit an sein Volk richten: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche".
Am gleichen Tag forderte der Reichskanzler vom Parlament die Bewilligung der Kriegskredite - nach bewährter Strategie: Am Ende seiner Rede forderte er eine "schnelle Erledigung" der Vorlagen. Dies bekräftigte er mit Worten, die er laut Reichstagsprotokoll zu den Sozialdemokraten sprach: "Unsere Armee steht im Felde, unsere Flotte ist kampfbereit - hinter ihr das ganze deutsche Volk! Das ganze deutsche Volk einig bis auf den letzten Mann!"
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war es der Staatsleitung gelungen, auch die Kriegsgegner auf ihre Linie zu bringen. Und dies, obwohl in informierten Kreisen bereits erste Informationen über das Vorgehen der Regierung kursierten. Dies geht aus einem Tagebucheintrag des Reichstagsabgeordneten Eduard David hervor. Demnach waren Mitte August, zwei Wochen nach Kriegsausbruch, mehrere SPD-Abgeordnete der Auffassung, "dass die deutsche Regierung den Krieg gewollt habe als Präventivkrieg. [Philipp] Scheidemann ist davon überzeugt und scheint besondere Anhalte dafür zu haben."
Zufrieden notierte Admiral von Müller, Chef des kaiserlichen Marinekabinetts, an jenem 1. August, als die Kriegserklärung an Russland erfolgte, in sein Tagebuch: "Stimmung glänzend. Die Regierung hat eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen."
Zum Weiterlesen:
Dieter Hoffmann: "Der Sprung ins Dunkle oder Wie der 1. Weltkrieg entfesselt wurde". Militzke Verlag, 2010, 368 Seiten.
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