Kalenderblatt: 28.5.1987 Tollkühne Landung auf dem Roten Platz

Teurer Flug: Der westdeutsche Pilot Mathias Rust während seiner Verhandlung in Moskau am 3. September 1987. Er stand wegen des illegalen Eindringens in die Sowjetunion vor Gericht.
Foto: MARK J. PORUBCANSKY/ AP"Das darf doch nicht wahr sein", war die erste Reaktion von deutschen Augenzeugen auf dem Roten Platz in Moskau, als am Himmelfahrtstag 1987 ein Geräusch die vielen Spaziergänger hoch schreckte.
In niedrigster Höhe umkreiste eine kleine, weiße Cessna mit deutlich erkennbarem bundesdeutschen D wahnsinnig brummend die Dächer und Mauern des Kremls, offenbar auf der Suche nach einem Landeplatz. Es war 19.30 Uhr an diesem 28. Mai, es war noch hell und das Wetter freundlich. Der Rote Platz war gut besucht; über 300 Touristen und Einheimische flanierten auf dem Gelände, genossen den Ausklang des Tages. Die Ehrenwache am Leninmausoleum wartete auf die zu jeder vollen Stunde im Stechschritt anrückende Ablösung.
Sie trauten ihren Augen nicht. Die plötzlich aufgetauchte Maschine überflog sie zum Kopfducken knapp vor der Landung, berichtete ein Augenzeuge. Die Passanten rannten auseinander. Endlich fand der kleine Flieger zwischen Basilius-Kathedrale und Kremlmauer eine günstige Stelle - der tollkühne Pilot hatte das aufsteigende Kopfsteinpflaster zur Landung auserkoren.
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Fassungslos grinsende Milizionäre
Der Auflauf war enorm. Nach wenigen Minuten stieg ein junger, schlanker Mann im roten Pullover und mit Sonnenbrille aus. Schnell war er von Passanten umringt. Er wäre Deutscher aus Hamburg, aber jetzt käme er geradewegs aus Helsinki, erzählte er den verblüfften Menschen und verteilte Autogramme.
Milizionäre standen fassungslos grinsend dabei - und griffen nicht ein. Erst als höhere Polizeioffiziere in schwarzen Limousinen und Lastwagen mit Absperrgittern an Ort und Stelle eintrafen, wurde es ernster. Das deutsche Kennzeichen wurde überpinselt und der tollkühne Pilot abgeführt.
Das Unglaubliche war geschehen. Der 18-jährige Mathias Rust aus dem holsteinischen Wedel war ungehindert in den streng bewachten sowjetischen Luftraum eingedrungen und ungehindert bis in den gesperrten Luftraum Moskau geflogen, hatte dreimal den Roten Platz umflogen und - war gelandet.
Der Lufttrip lässt Köpfe rollen
Spekulationen und Gerüchte griffen um sich. Ist das etwa ein provokatives Werk von Gegnern Gorbatschows? Wie konnte der junge Pilot von Helsinki aus die sowjetischen Radarstationen passieren, ohne bemerkt zu werden?
Der öffentliche Unmutsausbruch des Politbüros über einen Mangel an der gehörigen Wachsamkeit und Disziplin und schwere Versäumnisse in der Führung der Streitkräfte von Seiten des Verteidigungsministeriums kam nicht überraschend - Gorbatschow kritisierte schon seit seinem Amtsantritt den Zustand der Armee.
Die Konsequenz war schnell gezogen. Gorbatschow und die anderen Sowjetführer konnten sich mit dem langen Einflug und der gekonnten Landung von Mathias Rust nicht versöhnen. Der Lufttrip des 18-Jährigen ließ einige Köpfe rollen: Der Chef der Luftabwehr Koldunow und Verteidigungsminister Sukolow wurden sofort entlassen.
Meisterleistung mit Bestrafung
Gegenüber dem Eindringling aus dem Westen übte Gorbatschow jedoch Nachsicht - Mathias Rust hatte die Bewunderer auf seiner Seite, in Ost und West. Der junge Sportflieger gab an, mit seiner Aktion den Weltfrieden fördern zu wollen. Er habe seinen Urlaubstrip nach Skandinavien genutzt, um Gorbatschow zu besuchen, er wolle mit ihm über Frieden reden.
Fachleute in aller Welt bezeichneten den Flug als eine Meisterleistung, der auch die Abwehrschwäche der sowjetischen Luftabwehr zeige. Dem jungen Mann wurden harmlose Motive unterstellt. Dennoch, die Moskauer Richter, die ihn zu vier Jahren Haft verurteilt hatten, nahmen solche Formeln nicht so ernst.
Nach vielen diplomatischen Bemühungen brauchte der prominente Kremlflieger jedoch nicht die Haft abzusitzen, er kam nach gut einem Jahr frei, verkaufte seine Geschichte an auflagenstarke Magazine und kassierte sechsstellige Summen.
Erneute Haft für den Kremlflieger
Zwei Jahre später geriet Mathias Rust erneut in die Schlagzeilen: Im November 1989 hatte er eine Schwesternschülerin niedergestochen, weil sie sich von ihm nicht küssen lassen wollte. In der anschließenden Gerichtsverhandlung wiesen die Gutachter auf das stark gestörte und komplizierte Seelenleben von Rust hin, der offenbar seine Moskau-Mission als den größten Erfolg seines Lebens wertete und eine emotionale Zurückweisung nicht ertragen könne. Der Kremlflieger wurde zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.
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