
Kapitän Karl Friedhelm von Staa: Der Monsterwelle ausgeliefert
Kapitän Karl Friedhelm von Staa im Monstersturm Kampf gegen den Piteraq

Kapitän Karl Friedhelm von Staa kam 1949 in Oberhausen auf die Welt. Von 1975 bis 1977 machte er sein BG-Patent für Hochseefischereifahrzeuge in Cuxhaven. In seiner Freizeit segelt er gerne. Sein Sohn Sascha ist ebenfalls Kapitän. Von Staa lebt in Cuxhaven.
Als ich diese Welle sehe, ist es zu spät. Ich kann nicht reagieren. Ich kann nichts mehr tun.
Die Welle ist 25 Meter hoch, vielleicht auch höher, schwer zu sagen. Sie ist jedenfalls deutlich größer als die anderen großen Seen, die seit vielen Stunden auf unseren Trawler zurollen.
Es ist der 17. November 2002, 9.20 Uhr Bordzeit. Unsere Position ist 62°07'N 039°06'W. Wir sind vor der Ostküste Grönlands und Gefangene dieses Sturms. Seit zwei Tagen kommt er mit Windstärke zwölf und mehr aus Nordost.
"Piteraq", so nennen die Inuit einen so außergewöhnlich starken Orkan. Dieser Wind tritt an der ostgrönländischen Küste auf. Das Wort Piteraq stammt aus der grönländischen Sprache. Es bedeutet so viel wie: "Das, was einen überfällt".
In einem solchen Piteraq stecken wir nun. Wie ein gewaltiges Gebläse peitscht er die kalte Luft über das Inlandeis Grönlands an die Ostküste. Der Windmesser an Bord zeigt einen Mittelwind mit 194 Stundenkilometern. In Böen messen wir 216.
An der Ostküste von Grönland gibt es wenige Fjorde, in denen wir Unterschlupf finden könnten. Die wenigen Fjorde, die in Frage kommen, sind im November vereist oder sie sind gar nicht ausgelotet. Somit besteht die Gefahr, auf eine unbekannte Untiefe zu laufen und Leck zu schlagen. Also sind wir draußen auf See, in dieser Landschaft aus Wut und Grau, um den Sturm abzureiten. Dass der Orkan solche Ausmaße annehmen könnte, hatten wir im Wetterbericht nicht kommen sehen. Wegfahren ist keine Option mehr und kommt für Fischer ohnehin nur selten in Frage.
Wir sind auf Fangplatz Fylkir, um zu arbeiten.
Nacht zwischen Wellenbergen
Von meinem Sohn Sascha, Erster Offizier an Bord unseres Trawlers und Wachhabender auf der Brücke in der Nacht, habe ich an diesem Morgen die Wache übernommen. Unser Schiff ist 66 Meter lang und 12,6 Meter breit, hochmodern ausgerüstet. "Einige richtige Koffer unterwegs", hatte Sascha bei der Ablösung gesagt. Obwohl wir weit östlich von der Fischkante in der Tiefsee gegenan lagen, um die gefährlich hohen und spitzen Wellenberge in dem relativ flachen Gewässer zu vermeiden. Die Sichtweite: keine hundert Meter. Er wirkte erschöpft.
Kapitäne!: Glaube, Liebe, Hoffnung: Seeleute erzählen ihre besten Geschichten
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Keine Gewähr
Es ist anstrengend, den Trawler in diesem Wetter zu steuern. Besonders in der Dunkelheit. Man sitzt im Stuhl, der an das Modell in einer Zahnarztpraxis erinnert, und starrt auf das Radar. Kaffee ist wichtig in diesen Stunden. Kaffee hält wach. Man hält mit dem Joystick den Kompasskurs und hofft, dass kein "Growler" - ein großes abgebrochenes Stück Eis - oder ein ganzer Eisberg vor den Bug kommt.
Die Crew schläft in diesem Wetter, liegt in den Kojen oder sieht fern. Nur die Wachhabenden und das Kombüsenpersonal sind auf ihren Stationen. Es ist schwer möglich, sich auf den Beinen zu halten. Unruhe gibt es dennoch keine an Bord. Es sind erfahrene Fischer, jeder weiß, was kommt, wenn man im Spätherbst vor Ostgrönland arbeitet. Das ist Alltag.
Bislang jedenfalls. Diese Welle. Ich halte mich im Jagdsitz fest, wie der Kapitänsstuhl heißt.
Ich ducke mich und warte auf den Einschlag.
Ein Knall!
Die Scheibe aus Sicherheitsglas, die in den Stahl eingelassen ist, fliegt durch den Druck des Wassers raus. Sie zersplittert nicht in ihre Einzelteile, was mir das Leben rettet. Sie wird aus dem Rahmen gedrückt, fliegt fünfzig Zentimeter an mir vorbei und bohrt sich mit der Seite fausttief in den Stahl der Brückenwand hinter mir. Ich habe Glück.
Sonst gäbe es diese Geschichte nicht.
Eiskaltes Wasser
Ich bekomme keine Luft. Wind mit 200 Kilometern pro Stunde nimmt mir buchstäblich den Atem und drückt mich in den Stuhl. Wasser auf der Brücke, viel Wasser, anderthalb Meter hoch steht es. Ich kann mich heute nicht mehr daran erinnern, woran genau ich dachte. Ob ich überhaupt etwas dachte. In solchen Momenten übernimmt der Instinkt oder der Wille, überleben zu wollen. Ich muss versuchen, aus dem Stuhl rauszukommen und den Trawler vor die See drehen, bevor der nächste Einschlag kommt. Alle elektrischen Geräte fallen in nur kurzer Zeit aus.

Kapitän Karl Friedhelm von Staa: Der Monsterwelle ausgeliefert
Dies ist die bedrohlichste Situation, seit ich auf See bin.
Mein Sohn und der Bestmann, der Boss an Deck, versuchen, die ein Deck tiefer liegende Brückentüre zu öffnen, um nach mir zu sehen. Viel Hoffnung haben sie nicht, mich noch lebend anzutreffen. Mit äußerster Kraftanstrengung stemmen sie sich gemeinsam gegen die Tür. Es gelingt, sie gegen den Druck des Windes und des herabströmenden Seewassers zu öffnen.
Ich ziehe mich an den Armlehnen nach unten. Unter dem Brückenpult finde ich Schutz. Das Brüllen des Sturms dringt herein. Es ist eiskalt. Das Wasser, das auf der Brücke steht, hat null Grad. Die Instrumente sind nun allesamt tot, bis auf die Handsteuerung, doch das Schiff bleibt auf Kurs.
Wir sind eine erfahrene Crew. In der Maschine hat der Chief mitbekommen, dass etwas nicht stimmt. Nach dem schweren Seeschlag hat er die Brückenelektronik zum Maschinenraum umgeschaltet. Somit ist die Gefahr von Kurzschlüssen auf der Brücke vorerst gebannt. Unser Trawler wird nun vom Maschinenraum aus gefahren.
Riskantes Manöver
Auf der Brücke gibt es eine batteriebetriebene Nottelefon-Anlage, die im Brückenpult, direkt am Jagdsitz, platziert ist. Eine direkte Verbindung in den Maschinenraum. Mein Erster Offizier steht nun neben mir und übernimmt per Nottelefon die Kommunikation mit dem Maschinenleitstand, während ich das Handruder bediene. Die Notrudersteuerung im Maschinenraum ist von einem Matrosen und dem Zweiten Offizier besetzt. Wir schreien uns an. Sonst können wir uns im Brüllen des Sturms nicht hören. Es ist auch schwierig, Luft zu bekommen.
Wir müssen das Schiff möglichst schnell aus dem Wind und den Wellen herausbekommen. Die Gefahr, dass noch mehr Wasser in die offene Brücke eindringt, ist einfach zu groß. Knapp vier, vielleicht fünf Minuten wird das Manöver dauern. Höchste Gefahr für den Trawler, denn in dieser Zeit liegen wir quer zur See und sind den Schlägen der Brecher schutzlos ausgeliefert.
Wird noch eine solche große See brechen? Das wäre das Ende. Uns bleibt keine andere Wahl.
Langsam dreht der Trawler, von Hand gesteuert. Ich beobachte das Grau und die Sturmseen. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Wir bekommen in einigen Momenten Schlagseite, starke Schlagseite. Ich fürchte, dass wir zu viel Wasser an Deck nehmen über die Heckslippe, über die wir sonst den Fang an Deck ziehen. So viel, dass es nicht durch die Speigatten ablaufen kann.
Doch wir schaffen es.
Sechshundert Seemeilen bis zur Rettung
Wir fahren nun mit dem Wind und den Wellen, was die Lage etwas beruhigt. Doch wir müssen das Loch verschließen, wo früher das Fenster war. Eine so große Ersatzscheibe ist nicht in Reserve an Bord. Wir ersetzen sie mit Aluminiumplatten, die aus dem Fischnetzwindenfahrstand herausgeflext werden. Improvisieren ist alles, wenn man draußen ist auf See. Die Aluplatten befestigen wir durch ein paar Bohrungen und Winkeleisen im Rahmen. Als Dichtung dienen alte Lappen. Das Provisorium hält.
Wir kommen im Zentrum des Tiefdruckgebiets an und steuern in den Südwestwind-Sektor. Mit der Zuggeschwindigkeit des Zentrums dampfen wir nach Nordosten, Richtung Island. Das Schiff wird mittlerweile auch aus dem Maschinenraum gesteuert, weil auch die manuelle Steuerung auf der Brücke ausfällt. Ich bleibe auf der Brücke, in Wechselwache mit meinem Sohn, um Ausguck zu halten und die Kommunikation mit dem Maschinenleitstand aufrecht zu halten. Knapp sechshundert Seemeilen.
Ein Schlepper nimmt uns vor Reykjavik auf den Haken. Wir haben überlebt.
Der Text ist ein überarbeiteter und gekürzter Auszug eines Kapitels aus dem neuen Ankerherz-Buch "Kapitäne!".
Darin erzählen 20 Seeleute echte Abenteuer vom Meer.