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Kapitäne erzählen: Um Kap Hoorn und durch den Krieg

Foto: Hans Peter Jürgens

Kapitäne erzählen Um Kap Hoorn und durch den Krieg

Mit einer stürmischen Reise hatte er gerechnet: Als Schiffsjunge machte sich Hans Peter Jürgens vor 70 Jahren mit einem Viermaster auf den Weg nach Chile. Doch die Routinefahrt wurde zu einer siebenjährigen Odyssee durch eine vom Zweiten Weltkrieg gezeichnete Welt.

Eigentlich sollte es eine reine Routinefahrt werden, als der 15-jährige Schiffsjunge Hans Peter Jürgens vor 70 Jahren in Richtung Kap Hoorn ablegte. Doch als der Großsegler "Priwall" wenige Wochen später in Chile festmachte, begann für Jürgens eine Odyssee durch eine Welt im Krieg. Er arbeitete als Straßenbauer in Chile, überlebte ein Lager im afrikanischen Dschungel und fütterte Bären an Kanadas großen Seen. Lesen Sie seine spannende Geschichte hier auf einestages, von jetzt an jede Woche eine neue Folge.

Hamburgs Hafen wirkte auf mich wie ein Jahrmarkt, ein Durcheinander von Fähren, Elbkähnen und Schuten. Auf den Landungsbrücken hörte man das Dröhnen der Niethämmer, das herüber drang von den Werften, von Blohm & Voss. Es roch nach Ruß und dem schwarzen Qualm, der aus unzähligen Schornsteinen der Dampfer in den Himmel aufstieg. An trüben Tagen hing der Rauch wie eine dunkelgraue Glocke über dem Hafen.

Die meisten Schiffe lagen nicht an einer Kaimauer, sondern waren an Pfählen festgemacht. Oft mehrere nebeneinander, Bordwand an Bordwand. Wenn ein Besatzungsmitglied an Land wollte, setzte man die Signalflagge N, eine Flagge mit kleinen Karos in Blau und Weiß. Dann wartete der Seemann auf das Wassertaxi. Zahllose kleine Fähren verkehrten in den Hafenbecken. Einen besonderen Ruf genoss die Fähre 7, die "Lumpensammler" genannt wurde, weil sie auf ihrem Zickzackkurs besonders viele Seeleute aufsammelte, auch in den weiter entfernten Hafenbecken.

Kredit für die Seeleute auf St. Pauli

Damals spielte sich das ganze Leben des Seemanns im Hafen ab, ganz anders als heute, wo Landgänge meist im Containerterminal enden. Der Hamburger Hafen war eine eigene Stadt inmitten der Stadt. Matrosen hatten es nicht weit zur Reeperbahn auf St. Pauli. Manche aber gingen gleich in eine der Spelunken unten an der Wasserkante. Seeleute bekamen damals in jeder Kneipe einen Kredit, einen Bierdeckel, auf den sie anschreiben lassen konnten, denn kaum einer prellte seine Zeche. Das war eine Frage der Ehre.

Es war ein warmer Tag im Mai, die Sonne schien aus einem Himmel ohne Wolken, als mein Vater und ich in Richtung Rödingsmarkt spazierten. Ich sollte mich in einem der Geschäfte für Seemannszubehör einkleiden: Seestiefel, Ölzeug, Unterhosen aus Wolle standen auf dem Einkaufszettel. Frühmorgens waren wir in Cuxhaven aufgebrochen und in den Zug gestiegen, der von einer schwer keuchenden, alten Dampflok gezogen wurde. Vater sprach nicht viel, er sprach nie besonders viel. Hans Jürgens war ein angesehener Kapitän, eine Autoritätsperson, die Leute mit einem Blick zum Schweigen bringen konnte. Mit seinen Kontakten und dank seiner Reputation hatte er es möglich gemacht, dass ich - 15 Jahre alt - als Schiffsjunge auf die Priwall kam. "Wenn schon, dann gehörst du auf ein vernünftiges Schiff!", sagte er. Ein vernünftiges Schiff?

Kein Schiff hatte es geschafft, Kap Hoorn schneller zu umrunden. Von 50 Grad Süd im Atlantik nach 50 Grad Süd im Pazifik, also von Ost nach West, in fünf Tagen und 14 Stunden. Die Bark Priwall der Hamburger Reederei F. Laeisz war kein vernünftiges Schiff: Sie war längst eine Legende mit vier Masten - 98,5 Meter lang und 14,4 Meter breit.

Gigantische Masten, verwirrende Takelage

Nach dem Einkauf trug ich einen Seesack auf der Schulter, und wir spazierten hinunter zu den Landungsbrücken, wo wir auf die Fähre warteten. Die Priwall lag in einem der Gräben genau gegenüber von St. Pauli, wo sie mit Kali und Stückgut beladen wurde. Erster Zielhafen sollte Corral sein, eine Hafenstadt in Chile. Ich hatte keine Ahnung, wo genau Chile auf der Weltkarte zu finden war und wo sich dieses Corral eigentlich befand. Ich konnte in meinem Kopf hören, wie mein Herz schlug, als die Fähre lostuckerte und wir den Masten der Priwall näher kamen.

In den ersten Minuten an Deck der Priwall glaubte ich zu träumen, so beeindruckt war ich von der Höhe der Masten, vom Gewirr der Takelage, die sich wie ein gewaltiges Spinnennetz über uns spannte. Der Dritte Offizier nahm uns in Empfang und zeigte uns das Schiff. Unter der nach hinten offenen Back befanden sich der Mannschaftswaschraum, Toiletten, die Werkstatt des Zimmermanns sowie die Ankerwinde. Meine Koje sollte ich zunächst im vorderen Teil des Hochdecks beziehen, in dem Logis der Matrosen. Zwölf Mann teilten sich einen Schlafraum. Als Lager dienten übereinander stehende Betten, deren Matratzen mit Stroh gefüllt und mit Segeltuch überzogen waren.

Meine Aufregung wich allmählich einem mulmigen Gefühl. Vater nahm mich noch einmal in den Arm. Er sagte nichts und drückte mich nur an sich. Dann ging er wortlos über die Gangway. Ich sah ihm hinterher, als er an Bord der nächsten Fähre stieg, die langsam in Richtung der Landungsbrücken davonfuhr. Ich fühlte mich einsam, doch ich beruhigte mich: Schon Weihnachten sollte ich wieder zu Hause in Cuxhaven sein. In sieben Monaten war ich zurück. Was sollte dazwischenkommen?

Hauptaufgabe eines Schiffsjungen: hinterhelaufen

Ich war rechtzeitig zum ersten Wachantritt an Deck, wo der Erste Offizier die Arbeit verteilte. Zu meinem Erstaunen und meiner Enttäuschung schien niemand Notiz von mir zu nehmen. Keiner beachtete mich, den Jüngsten an Bord. Ich wurde einem Leichtmatrosen zugeteilt, mit dem ich die Stützen des Laderaums mit Sackleinwand umwickelte, damit sich keine Feuchtigkeit an den eisernen Trägern bildete und die geladenen Kalisäcke nicht nass wurden.

Der Leichtmatrose hieß Willy Buch, ein groß gewachsener, blonder Kerl, 18 Jahre alt, mit einem breiten Kreuz.

"Min Jung, wo kommst du her?", fragte er.

"Aus Cuxhaven."

"Ach was! Cuxhaven? Ich auch!"

Willys Vater war Fischdampferkapitän. Wir plauderten über die Stadt mit dem Wahrzeichen Kugelbake und suchten nach gemeinsamen Bekannten, was mir half, meine Unsicherheit zu überspielen. Willy, der seine dritte Reise mitmachte, gab mir Ratschläge und erklärte, wie der Alltag funktionierte: Für jeden Mast war ein Toppmatrose zuständig, der kleinere Reparaturen in der Takelage selbst erledigte. Größere Reparaturen übernahmen die Segelmacher, Deckschlosser ("Meister" genannt, weil sie sogar mit schwerem Gerät in die Takelage kletterten) und ein Zimmermann, den wir im Bordjargon "Blaubüddel" oder "Blau" riefen.

Meine Aufgabe als Schiffsjunge war es zunächst nur, möglichst eifrig hinterherzulaufen. Ich sollte zusehen, lernen, ich sollte mir einprägen, wo die Taue und Seile der Takelage verliefen, wie die Segel aufgegeit wurden, welcher Handgriff bei welchem Kommando zu erledigen war. Das Handwerkszeug eines Segelschiffmannes. Es war anfangs sehr verwirrend.

Am Morgen des 16. Mai 1939 warfen wir die Leinen los. Unter einem blauen Himmel zog uns der Schlepper Simson Richtung Nordsee. Langsam schoben wir die Elbe hinunter und verabschiedeten St. Pauli und Blankenese nach einem alten Brauch mit "Three Cheers": "Hipp, hipp, hurra!" Dann wurde der Fluss breiter.

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Stefan Krücken

Sturmkap

Verlag: Ankerherz Verlag
Seitenzahl: 232
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Ein letzter Abschiedsgruß ertönte, als wir den Reededampfer, die Alte Liebe, vor Cuxhaven passierten. Einige Freunde meiner Familie waren an Bord der Alte Liebe, um mir zuzuwinken und ein Foto zu schießen. Als ich sie sah, spürte ich ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch, denn nun war endgültig klar, dass es kein Zurück mehr gab. Der Schlepper Simson dampfte davon, und auf der Priwall setzte man die Segel. Bald darauf verschwand die Küstenlinie hinter dem Horizont.


Dichter Nebel, Beinahekollisionen und Soldaten von Hitlers Legion Condor auf dem Ärmelkanal: Lesen Sie die nächste Episode von Hans Peter Jürgens Reise hier auf einestages.

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