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Schiffsbruch: Gespräche mit einem Toten

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In Seenot zurückgelassen Bootsfahrt mit Leiche

Es war ein Alptraum, den Nick Ward 1979 bei der Fastnet-Regatta erlebte: In einem Orkan nahm das Boot schweren Schaden. Die Crew wurde gerettet und ließ ihn zurück, weil sie ihn für tot hielt. Tagelang trieb der Segler auf dem Meer und kämpfte gegen den Wahnsinn - indem er mit einem Toten diskutierte.

Der Sturm tobte mit ungebrochener Kraft, als Nick Ward erwachte. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war dieses fahle Licht, das durch den überkippenden Kamm der Riesenwelle geschimmert hatte. Dann hatten die Wassermassen die Yacht "Grimalkin" überrollt, etwas hatte ihn am Hinterkopf getroffen und er war bewusstlos geworden.

Nun hing er im Wasser, nur von seiner Sicherungsleine gehalten. Wo waren bloß Gerry, Dave, Matt, Mike und David? Unterkühlt und ausgepumpt zog er sich an Deck. Es dauerte ein paar Sekunden, dann sah er es: Der Stauraum, in dem zuvor die Rettungsinsel gelegen hatte, war leer. Er brüllte die Namen seiner Mitsegler. Nichts. Nick Ward war allein. Mitten in einem Orkan, auf einem nur neun Meter langen Boot mit geborstenem Mast.

An der Grenze zum Wahnsinn

Hatten sie ihn im Stich gelassen? Unvorstellbar, aber es sah danach aus. Bis er seinen Mitsegler Gerry entdeckte. Er trieb leblos im Wasser.

33 Jahre liegt dieser Alptraum für den Briten Nick Ward nun zurück. Fast genauso lange hat er gebraucht, bis er diese Ereignisse in einem Buch verarbeiten konnte. Es dokumentiert eindrucksvoll den Überlebenswillen eines Mannes, der lauthals gegen die Einsamkeit ansingt, der stundenlang mit einem Toten redet. Ein Mann an der Grenze zum Wahnsinn.

Wards Geschichte ist eine Tragödie in einer Tragödie: Im August 1979 mündete die traditionsreichste europäische Hochseeregatta, das Fastnet Race, in der größten Katastrophe im Segelsport: Wegen einer zu späten Wetterwarnung kenterten Dutzende Yachten, fünf Boote sanken, 15 Segler starben.

Ein unheimlicher Abendhimmel

Dabei hatte die 600-Seemeilen-Regatta von Südengland nach Irland und wieder zurück am 11. August 1979 bei bestem Wetter begonnen. Und für Ward, in der Nähe des Starthafens Cowes geboren, bedeutete das Rennen eine Rückkehr ins Leben: Im Alter von 15 hatte er eine schwere Hirnblutung erlitten. Mühsam hatte er als Teenager jede kleinste Bewegung seines Körpers ein zweites Mal erlernen müssen. Es war der Wunsch, wieder segeln zu können, der ihn diesen Kampf gewinnen ließ.

Jetzt, mit 23 Jahren, war er wie durch ein Wunder fast genesen, selbst wenn ein Bein gefühlstot blieb und er Medikamente gegen Epilepsie nehmen musste. Und auch auf dem Wasser lief alles blendend. Der zunächst laue Wind frischte am zweiten Tag der Regatta auf, Skipper David Sheahan jagte die "Grimalkin" übers Wasser. Wäre da nicht dieser ungewöhnliche Abendhimmel gewesen, wie Ward später schrieb:

"Die Rot-, Orange- und Ockertöne waren unheimlich und spektakulär zugleich. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Wir alle blickten wie gebannt auf die Farbenpracht. (...) Kündigte der Himmel schweres Wetter an? Mir war aufgefallen, dass alle Möwen verschwunden waren."

"Ich wurde mit entsetzlicher Geschwindigkeit mitgeschleift"

Tatsächlich: Der Wind wurde immer stärker. Doch ein BBC-Wetterbericht prognostizierte am 12. August abends eine maximale Windstärke von 8. Eine fatale Fehleinschätzung, die die BBC erst Stunden später korrigierte. Da tobte schon ein Orkan mit Windstärke 12 über der Keltischen See. 12 Meter hohe Wellen schüttelten die "Grimalkin", die Crew konnte sich nur mit Sicherheitsseilen an Deck halten. Mehrmals war die Mastspitze schon unter Wasser gedrückt worden, ein Durchkentern drohte, bei dem das Schiff schließlich kieloben liegen würde.

"Wir wussten alle, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es zum Schlimmsten kam, vielleicht durch ein kurzes Nachlassen der Konzentration, einen falschen Warnruf oder eine falsch eingeschätzte Welle. Wir konnten nichts anderes tun, als uns angestrengt auf die tosende, brüllende Hindernisbahn vor und hinter uns zu konzentrieren. (...) Mike und ich waren erschöpft, durchnässt und demoralisiert, hielten aber immer noch die Pinne."

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Schiffsbruch: Gespräche mit einem Toten

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Wenig später spülte eine Welle Ward über Bord:

"Das Wasser war so kalt, dass mir die Luft wegblieb. Der Sicherheitsgurt spannte sich um meine Brust, weil ich mit entsetzlicher Geschwindigkeit mitgeschleift wurde. Der eisige Wasserstrom riss die oberen Knöpfe meiner Öljacke auf und drang durch die Kragenöffnung ein. Die wärmende Kleidung sog sich voll bis zu den Socken. Wie ein Sack Zement wurde ich hinabgezogen."

Der Skipper verliert die Kontrolle

Halb ertrunken schaffte er es dennoch irgendwie an Deck. Skipper David entschied, einen Notruf abzusetzen. Kein ungefährliches Vorhaben, denn dafür musste er in die Kajüte, wo der Sturm lose Gegenstände wie in einer Waschtrommel umherschleuderte. Kurz nachdem er das "Mayday" abgesetzt hatte, traf den Skipper etwas am Kopf. Sein Sohn Matthew schleppte den blutenden und bewusstlosen Segler aus der Kajüte.

Nun entbrannte ein heftiger Streit, was zu tun sei. Sollte man an Bord bleiben? Oder die "Grimalkin" lieber mit der Rettungsinsel verlassen? Ward hielt das für selbstmörderisch.

"Auf See lautet die eiserne Regel: Niemals von Bord gehen, solange das Schiff noch schwimmt. Die "Grimalkin" war die größte und sicherste Rettungsinsel, die wir hatten. Ihr Rumpf aus kaltem, hartem Glasfaserkunststoff war viel besser als jedes weiche, aufgeblasene Gummifloß."

Vergebliche Rettung

Doch niemand teilte seine Meinung. Als der halb bewusstlose Skipper dem Plan zum Verlassen des Bootes mit einem schwachen Nicken zustimmte, war die Entscheidung gefallen. Nick Ward war entsetzt, er hielt den Verletzten für unzurechnungsfähig. Trotz aller Einwände wurde die Rettungsinsel klargemacht, als eine Riesenwelle die "Grimalkin" traf und Ward das Bewusstsein raubte.

Hatten sie ihn wegen des Streits alleine gelassen? Er glaubte nicht mehr daran, als er den schlaffen Körper seines Mitseglers Gerry entdeckte, der von der Sicherungsleine gehalten im Wasser neben dem Boot trieb. Als er ihn an Bord gehievt hatte, merkte er, dass Gerry nicht tot war. Nick Ward gelang es, ihn zu beatmen. Keine Stunde später starb sein Begleiter, nachdem er nur einen einzigen Satz herausgebracht hatte: "Sag meiner Frau, dass ich sie liebe!"

"Seine geröteten Augen standen offen. Ich nahm meinen Handschuh ab und schloss ihm die Augen."

Diskussion mit einem Toten

Doch dann schleuderte die tosende Brandung den toten Körper seines Mitseglers immer wieder in das Cockpit und begrub Ward sogar unter sich. Für eine Sekunde überlegte er, seinen Kameraden einfach über Bord zu werfen.

"Dann sah ich aber sein zerschundenes Gesicht, seine markante, jetzt blutige Nase und seine inzwischen grauen, aber noch immer unverwechselbaren Lippen. Nein, das konnte ich auf keinen Fall über mich bringen. Niemand hätte einem Freund und Bordkameraden so etwas angetan."

Mit der Zeit gab ihm der Tote sogar Halt. Ward fragte ihn, was er tun solle. In die Kajüte gehen, auf die Gefahr hin, dort von herumfliegenden Gegenständen getroffen zu werden? Aber vielleicht funktionierte das UKW-Gerät ja noch. Außerdem musste er dringend essen und trinken.

"Gerry war ein großartiger Resonanzboden für meine Gedanken. Ich fand das ganz in Ordnung. Nicht normal, aber in Ordnung. Indem ich mich mit ihm beriet, gewann ich Klarheit und Zuversicht. Warum sollte ich damit aufhören? Ich musste meinen Geist beschäftigen."

"Eine entsetzliche, quälende Einsamkeit"

Schließlich wagte sich Ward in die halb überflutete Kajüte. Der UKW-Sender und ein weiteres mobiles Seenotfunkgerät funktionierten nicht. Seine Tabletten gegen Epilepsie waren vom Wasser aufgelöst. Die Trinkwasservorräte waren verschwunden. Eine Dose Ananas konnte er nicht öffnen. Nur ein unversehrter Karton Milch gab ihm etwas Kraft.

Dann bemerkte er, dass das Wasser in der Kajüte stieg. Verzweifelt begann Ward, mit einem Eimer zu schöpfen. Als auch noch ein Suchflugzeug die "Grimalkin" überflog, ohne beizudrehen, musste ein Schuldiger her.

"Ich rief meinem verstorbenen Freund ein Schimpfwort nach dem anderen zu, widerliche Grobheiten, die mir normalerweise nie über die Lippen gekommen wären, ja, an die ich sonst nicht einmal gedacht hätte. Ich empfand den abartigen Wunsch, Gerry körperliche Schmerzen zuzufügen. Dass ich meinen Zorn an Gerry ausließ, hatte für mich etwas Befreiendes, war aber zugleich Zeichen einer entsetzlichen, quälenden Einsamkeit, mit der ich nicht fertig wurde."

Bloß nicht einschlafen

Je länger dieser 14. August 1979 dauerte, desto verzweifelter wurde der Schiffbrüchige. Sobald er sich vom Wasserschöpfen ausruhte, wusste er, dass es tödlich sein könnte, einfach einzuschlafen.

"Ich brauchte etwas, das mich wach hielt und gleichzeitig beruhigte. Ich begann mir die Leuchttürme an der Südküste Cornwalls vorzustellen und Gerry meine Kenntnisse vorzuführen. Immer wieder spulte ich sie an der Kanalküste entlang von Westen nach Osten ab. Dann sagte ich die Telefonnummern meiner Familie einschließlich der Nummer meines Bruders in Hongkong auf."

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Nick Ward, Sinead O'Brien:
Allein mit dem Tod

Eine verschwiegene Tragödie vom Fastnet Race 1979.

Delius Klasing; 232 Seiten; 12,90 Euro.

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Es folgten Tierkreiszeichen und Planeten. Als Ward kurz vor Sonnenuntergang die Hoffnung fast aufgegeben hatte, sichtete ihn ein Segelboot, und er schoss eine Signalrakete ab. Wenig später barg ein Hubschrauber der Royal Navy erst den toten Gerry, dann den Überlebenden. Erst nach und nach erfuhr Ward, was passiert war, nachdem er das Bewusstsein verloren hatte.

Warum?

Die "Grimalkin" war gekentert und David Sheahan unter die Yacht geraten. Die Crew schnitt seine Sicherungsleine durch, konnte den bewusstlosen Skipper aber nicht halten; er wurde nie gefunden. Der Rest der Mannschaft hielt auch Gerry und Nick für tot, die regungslos unter einem Gewirr von Seilen lagen. Die Männer nahmen die Rettungsinsel und verließen das Boot. Stunden später wurden sie von einem Hubschrauber gefunden.

Nick Ward fragt sich bis heute, warum seine Mitsegler nicht genauer prüften, ob Gerry und er wirklich tot waren. Niemand entschuldigte sich bei ihm, der Kontakt zu seinen Freunden brach ab. So kann er heute nur Gerry dankbar sein.

"Ohne diesen Mann wäre ich umgekommen. Noch als Toter hat er mir geholfen, am Leben zu bleiben."

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