
Massenmord auf Kefalonia: "Bäche von Blut"
Wehrmachtmassaker auf Kefalonia "Alles, was vor die Mündung kommt, wird umgelegt"
Als Marco Botti aus der Ohnmacht erwacht, liegt er bäuchlings auf dem Boden, begraben unter dem Gewicht zweier Männer, einer leblos, einer schwer verletzt. Ihr Blut rinnt ihm übers Gesicht. Botti, 25, Bauernsohn aus Albereto, stellt sich tot.
Da beginnt der Verletzte auf seinem Rücken, vor Schmerzen zu wimmern. Botti fleht ihn an, leise zu sein. Denn die Gebirgsjäger sind noch nicht fertig, gnadenlos schießen sie in die Menge und töten jeden, der sich bewegt oder einen Mucks macht - Zeugen soll es keine geben von der Massenhinrichtung der Italiener.
Der verblutende Soldat hört auf Botti, ringt jetzt lautlos mit dem Tod. Bis er erneut zu stöhnen beginnt. "Sei leise, sonst erschießen sie uns", zischt Botti. Der Sterbende verstummt. Für immer.

2015 traf der Kefalonia-Überlebende Marco Botti (r.) Papst Franziskus
Foto: privat"Der arme Kerl hat mir das Leben gerettet. Wären die Deutschen auf ihn aufmerksam geworden, hätten sie abgedrückt und mich auch erwischt." Der 100-Jährige, sieben Kinder, 15 Enkel, sieben Urenkel, spricht stockend. Immer wieder schließt er die Augen, legt eine Pause ein.
Es ist sein erstes Videointerview. Und zum ersten Mal spricht Marco Botti mit jemandem aus Deutschland über das Massaker auf der griechischen Insel Kefalonia. Es war eines der abscheulichsten Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg.
Aus Waffenbrüdern wurden Feinde
"Eccidio", "Gemetzel", nennen Italiener die Massenhinrichtung der wehrlosen, da entwaffneten Kriegsgefangenen im September 1943. So nahm die Wehrmacht Rache dafür, dass der einstige Verbündete einseitig den "Stahlpakt", den Bündnisvertrag Italiens mit dem Deutschen Reich, aufgekündigt hatte.
Mitte Juli 1943 waren die Alliierten auf Sizilien gelandet, kurz darauf wurde Diktator Benito Mussolini abgesetzt. Am 8. September rief Italien offiziell den Waffenstillstand mit den Alliierten aus. Über "Verräter" und "Badoglio-Schweine" schimpften die Deutschen, in Anspielung auf Italiens neuen Regierungschef Pietro Badoglio.

Massenmord auf Kefalonia: "Bäche von Blut"
Was bedeutete das für die knapp 12.000 Mann starke Division Acqui auf Kefalonia? Sollte sie weiter für die Deutschen kämpfen oder gegen sie? Sollte sie - wie von deutschen Kommandeuren gefordert - die Waffen abgeben? Erst einmal jubelten die Soldaten, erinnert sich Botti:
"Auf der Insel läuteten am 8. September 1943 alle Glocken. Wir feierten mit den Griechen, sangen, tranken Wein. Jetzt ist der Krieg vorbei, jetzt geht es endlich nach Hause, dachten wir. Weit gefehlt."
Die Wehrmacht beharrte auf ihrem Entwaffnungsbefehl, die Italiener zögerten. General Antonio Gandin ließ ein deutsches Ultimatum verstreichen und seine Soldaten in der Nacht zum 14. September abstimmen, wie Zeitzeugen berichten. Das Ergebnis: Die Italiener wollten ihre Waffen behalten und gegen die Deutschen kämpfen. Auf der Insel kam es zu schweren Gefechten - sie mündeten in eine Blutorgie.
Hitler befahl den Massenmord
Das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) ordnete am 18. September an, "wegen des gemeinen und verräterischen Verhaltens auf Kephalonia keine ital. Gefangenen machen zu lassen". Hitler persönlich befahl die Ermordung der italienischen Soldaten. In der Folge mähten die 1. Gebirgsdivision, die 104. Jägerdivision und das Festungs-Grenadier-Bataillon 910 mit Maschinengewehrsalven ganze Einheiten unbewaffneter Italiener nieder, die sich zuvor ergeben hatten.
Marco Bottis Battaillon streckte die Waffen am Vormittag des 21. September in der Region Kardakata:
"Wir dachten, die Deutschen bringen uns nach Argostoli in ein Gefangenenlager. Stattdessen führten sie uns in eine Talsenke. Dort mussten wir uns auf den Boden setzen und warten. Gegen zwölf Uhr mittags liefen Soldaten mit Maschinengewehren auf uns zu."
Der erste, der verstand, was vor sich ging, sprang auf, riss die Arme hoch und schrie: "Ich bin ein Faschist!" Es half ihm nicht: Die Männer eröffneten das Feuer, reihenweise fielen die Italiener um. In Panik rannte Botti auf die Böschung gegenüber zu, doch auch dort hatten sich Soldaten postiert.
"Die Luft war erfüllt von Schüssen und Schreien. Meine Kameraden weinten, fluchten, stöhnten vor Schmerz. Sie flehten um Hilfe, beteten, riefen nach ihrer Mama. Wir umarmten einander, um gemeinsam zu sterben und fielen zu Boden. Dann muss ich bewusstlos geworden sein."
Wie durch ein Wunder blieb Botti unverletzt und verharrte reglos auf dem Boden. Immer wieder ertönten Schüsse, zweimal trat ein Soldat mit dem Stiefel auf seinen Kopf. Er hörte, wie die Deutschen den um Gnade flehenden Leutnant Tullio Pierantognetti schlugen, verhöhnten, zum Strammstehen zwangen. Und dann erschossen.
Botti stellte sich weiter tot, endlich wurde es still. Nach sechs, sieben Stunden hielt er es nicht mehr aus, wand sich unter den Leichen hervor und floh in die Berge. Insgesamt seien allein in dieser Talsenke 300 Männer hingerichtet worden, schätzt Botti.
Leichen im Meer versenkt
Zu solchen Massenhinrichtungen kam es im September 1943 an zahlreichen Orten auf Kefalonia. "Alles, was vor die Mündung kommt, wird umgelegt", notierte Waldemar Taudtmanns, Obergefreiter im Gebirgsjäger-Bataillon 54, in seinem Tagebuch über den Einsatzbefehl. Das Morden endete auch noch nicht, als General Gandin am 22. September kapitulierte.
Zu einer besonders perfiden List griff die Wehrmacht bei den Erschießungen im Dorf Troianata, wie der Militärgeistliche Romualdo Formato berichtete: Mit dem Ruf "Hier sind die Sanitäter, wer noch am Leben ist, komme hervor" hätten die Deutschen rund 20 Überlebende hervorgelockt - und niedergeschossen.

Noch Jahre nach dem Massaker fand man auf Kefalonia die Gebeine der toten Italiener
Foto: Associazione AcquiNach ihren barbarischen Taten seien die Wehrmachtssoldaten, so der Kefalonia-Überlebende Amos Pampaloni, "laut lachend und singend" abgezogen. Manche hätten sich "geradezu am Schicksal der Verurteilten geweidet", sagten Zeugen nach dem Krieg vor Gericht in Rom aus. Andere hätten "weinend ihren Abscheu" gezeigt.
Am 24. September 1943 entschied ein deutsches Standgericht über das Schicksal von General Gandin und seiner 136 verbliebenen Offiziere: Die Italiener wurden zum Tode verurteilt und exekutiert, ihre Leichen mit Steinen beschwert und im Meer versenkt.
Täter kamen ungestraft davon
Marco Botti indes schaffte es, das griechische Festland zu erreichen, und kehrte am 27. Dezember 1944 per Schiff nach Italien zurück, malariakrank und ausgezehrt - "nicht einmal meine Mutter hat mich wiedererkannt".
Wie viele Italiener damals hingerichtet wurden, ist auch nach 75 Jahren nicht präzise zu ermessen. Im Kriegstagebuch vermerkte das deutsche OKW dazu lapidar: "Auf Kephalonia sind der ital. Befehlshaber und 4000 Mann, weil sie Widerstand leisteten, gemäß dem Befehl des Führers (...) behandelt worden."
Der italienische Historiker Giorgio Rochat beziffert die Zahl der Exekutierten auf rund 5000. Seinem deutschen Kollegen Hermann Frank Meyer zufolge kamen 2500 Italiener auf der Insel zu Tode - die meisten durch Hinrichtungen, andere durch Kampfhandlungen und Bombardements. Weitere 1500 italienische Gefangene, so Meyer, starben beim Abtransport, weil die Schiffe auf Minen liefen und sanken. Andere auf Kefalonia Totgeglaubte wurden an die "Ostfront" verbracht und gerieten beim deutschen Rückzug in russische Kriegsgefangenschaft.
Laut Lutz Klinkhammer vom Deutschen Historischen Institut in Rom sind die Opferzahlen kaum exakt zu ermitteln, da so wenige schriftliche Unterlagen erhalten sind und die Division Acqui sich komplett auflöste. Fest steht: Kefalonia war das "quantitativ größte Massaker, das Deutsche an Italienern im Zweiten Weltkrieg verübt haben", so Klinkhammer.
"Nie wieder Krieg"
Dennoch kamen die Täter ungestraft davon. Einzig Hubert Lanz, der als deutscher General die Exekutionen auf Kefalonia befehligt hatte, wurde 1948 in einem Nürnberger Nachfolgeprozess zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Doch schon nach drei Jahren war der Kriegsverbrecher wieder frei. Lanz wurde sicherheitspolitischer Sprecher der FDP, zudem Ehrenvorsitzender des Kameradenkreises der Gebirgstruppe.
Als der SPIEGEL 1969 als erstes deutsches Medium über den Massenmord schrieb , schimpfte der hoch dekorierte Ex-Befehlshaber in einem Brief an die Chefredaktion: "Auf der ehemaligen Wehrmacht herumzutrampeln und ihre Offiziere anzuschuldigen, ohne ein gutes Wort für ihre Opfer und ihre Leistung zu bringen, gehört heute in gewissen Kreisen zum guten Ton." Die Schergen von Lanz wurde weder in Deutschland noch in Italien für ihre Taten belangt, selbst jüngere Ermittlungsverfahren verliefen im Sande.
2006 stellte die Münchner Staatsanwaltschaft ein Verfahren ein, weil es sich bei dem Gemetzel nicht um Mord gehandelt habe, sondern lediglich um - inzwischen verjährten - Totschlag: Die italienischen Gefangenen seien in den Augen der Deutschen damals "Verräter" gewesen. Die Entscheidung löste bei Angehörigen der Opfer wütende Proteste aus. Immerhin wurde 2013 Ex-Unteroffizier Alfred Stork in Abwesenheit von einem italienischen Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt - vollstreckt wurde die Strafe nicht.
"Die fehlende Gerechtigkeit schmerzt mich noch mehr als all die erlittenen Qualen der Vergangenheit", sagt Marco Botti, 37 Jahre lang Bürgermeister seiner Heimatstadt Albereto. Dreimal schon ist er nach Kefalonia gereist, um der ermordeten Kameraden seiner Division zu gedenken. Zuletzt war er 2013 auf der Insel, mit 18 Familienmitgliedern. "Dort mussten sie mir versprechen, alles zu tun, damit es nie wieder Krieg gibt", sagt der 100-Jährige. "Nie wieder Krieg", wiederholt er leise.
Zur diesjährigen Gedenkfeier am 6. Oktober auf Kefalonia schafft es der alte Mann nicht mehr.