
Kinderheimskandal in Rumänien: Rückkehr nach Cighid
Kinderheimskandal in Rumänien Rückkehr nach Cighid
Die Kinder von Cighid sind erwachsen geworden, und deshalb muss man jetzt fast ein wenig um den Doktor bangen. Wann immer der Kinderarzt Pavel Oarcea, 63, in das Jagdschloss des Grafen Tisza zurückkehrt, wird er vor Zuneigung fast erdrückt. Dann stürzt ein ganzer Pulk aus dem Haus und herzt und drückt den kleinen Mann. Siebzehn Jahre seines Lebens hat er hier verbracht. Wer weiß, wer von den Bewohnern dieses Behindertenheims im Nordwesten Rumäniens heute noch leben würde, wenn Pavel Oarcea damals nicht gewesen wäre.
Im Frühjahr 1990 hatten der SPIEGEL und SPIEGEL TV zum ersten Mal über das Horrorschloss berichtet. Die Bilder gingen damals um die Welt: Sie zeigten Kinder, die in bitterer Kälte halbnackt ihrem Tod entgegendämmerten. Eingepfercht in Kerker und Zwinger. Unterernährt und verwahrlost. Viele konnten nicht sprechen, weil nie jemand mit ihnen redete; viele konnten nicht laufen, weil sie in kleinen Gitterbetten keine Bewegungsfreiheit hatten. "Irrecuperabil" wurden sie im rumänischen System genannt: "Unwiederbringlich". "Man hätte sie gleich nach der Geburt töten sollen", sprach die damalige Pflegerin Boros Gyöngyi, damals 27, in die Kamera von SPIEGEL TV.
Sie sagte das ohne jedes Schuldgefühl, obwohl sie hätte wissen müssen, dass ein paar Decken und ein geheizter Ofen allein schon vielen Kindern das Leben gerettet hätte - das wäre auch in dem heruntergewirtschafteten Land möglich gewesen; auch in Cighid, wo sich sechs Leute um 109 Kinder kümmern mussten. Es war Euthanasie durch die Verhältnisse: In den zwei Jahren, die es das Heim bis zu diesem Zeitpunkt gegeben hatte, waren 122 Kinder gestorben. Ihre Leichen hatte man auf einem Feld in der Nähe verscharrt.
Die Kinder von Cighid mussten sogar das Weinen erst erlernen
Die ersten Berichte lösten damals eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Beim SPIEGEL brach die Telefonzentrale zusammen; innerhalb kürzester Zeit wurden mehr als drei Millionen Mark gesammelt. Notärzte setzten sich in Marsch und Psychologen. In Rumänien gingen die Menschen auf die Straße und demonstrierten gegen die Ungeheuerlichkeit. Und dann entsandte das Gesundheitsministerium Doktor Oarcea, den renommierten Kinderarzt aus der Kreisstadt Oradea (Großwardein), rund 60 Kilometer von dem desperaten Ort entfernt.
Was Oarcea zu sehen bekam, ließ ihn nicht mehr los. Schnell begriff er, dass er es nicht nur mit einem medizinischen Problem zu tun hatte. Die meisten Kinder konnten gerettet werden - nur zwei waren zum Zeitpunkt der Berichterstattung derart geschwächt, dass für sie jede Hilfe zu spät kam. Was den Kindern in erster Linie fehlte, war Zuwendung und fachmännische Betreuung. Wie kleine Kaspar Hausers, denen jegliche Menschlichkeit vorenthalten worden war, stolperten sie nach ihrer Befreiung aus dem Schloss in die Welt.
Angela Fechete war so ein Fall. Weil das Mädchen als besonders aggressiv galt, wurde die Zwölfjährige tagsüber in einen kleinen Zwinger gesperrt. Gefüttert wurde sie mit ranzigem Brei aus einem Blechtrog, abends spritzten Pfleger sie mit einem Psychopharmakum ruhig. Aus Protest beschmiss das Mädchen die Pfleger mit Kot. Sie könne andere Kinder umringen, wisperten diese zur Rechtfertigung.
Wenn Pavel Oarcea zurückdenkt, schaudert es ihn noch heute. "Als Arzt war ich es gewohnt, dass Kinder weinen, doch Angela weinte noch nicht einmal", sagt er, "die Kinder von Cighid mussten sogar das Weinen erst erlernen." Doch einmal aus ihrem Kerker befreit, machte Angela Fechete plötzlich Fortschritte. Sie lernte zunächst zu weinen und danach zu lachen und dann sogar zu sprechen.
Heute teilt sie sich mit drei anderen Behinderten ein eigenes helles und gepflegtes Zimmer in einem der Häuser, die in der Zwischenzeit neu gebaut wurden. "Sie kommt fast allein zurecht", sagt die Heimleiterin Daniela Nistor, 46: "Sie macht selbst ihr Bett, putzt sich die Zähne, wählt die Kleider für den Tag aus." Besondere Freude bereiteten ihr Haushaltsaktivitäten wie Kochen, Nähen und Putzen. Und rührend kümmert sich die früher angeblich so Aggressive um die Autistin Geanina, die außer Angela niemanden an sich heranlässt.
Die Spätfolgen der schlimmen Jahre
"Wir fingen praktisch bei null an", sagt die Psychologin Mirela Saupe, 34, die gemeinsam mit einem Team aus Sozialarbeitern, Logopäden und Pflegern einige Cighid-Kinder auf ihr zukünftiges Leben vorbereitet. Diese hätten erst mühsam lernen müssen, was behütete Kinder normalerweise von ihren Eltern vermittelt bekommen: "Einfache Dinge: wie man sich wäscht, über die Straße geht oder einkauft und sich in die Umgebung anderer Menschen eingliedert." Die Kinder hätten "kein Ich-Gefühl, keine eigene Identität" gehabt, erkannte die Psychologin: "Es schien, als seien die Seelen dieser Kinder zerstückelt gewesen, und wir mussten sie wie in einer Art Puzzle erst mühsam wieder zusammensetzen."
Eine Zeitlang entwickelte sich auch Tiberius Varga prächtig. Anfang 1990 war er schon dem Tod nah. Splitternackt kauerte der Junge in seinem eigenen Kot und verweigerte in einer majestätischen Geste den Fraß aus dem Blechnapf - so, als habe er mit dem Leben abgeschlossen.
Der ausgemergelte Junge war damals sieben Jahre alt, hatte aber die Größe eines Dreijährigen. Seine Eltern, der Vater ein Alkoholiker, die Mutter geistig zurückgeblieben, hatten sich nicht um den Jungen gekümmert, und so war er irgendwann zum Sterben nach Cighid gekommen.
Doch Tiberius Varga "fasste wieder Lebensmut und Lebenswillen", wie Pavel Oarcea nach einer Weile verblüfft feststellte. Er begann zu lachen und auch etwas ungelenk zu laufen, und als wir ihn 1995 für einen Bericht wiedersahen, schaufelte er gerade lustvoll Spaghetti mit Tomatensauce in sich hinein und machte sogar noch den Teller seines Nachbarn leer.
Doch selbst all die Fürsorge konnte die Schäden, die das Todeslager in den ersten Lebensjahren des Jungen angerichtet hatte, nicht wieder wettmachen. Tiberius Varga erblindete. Zurück in die Dunkelheit geworfen, isolierte sich der junge Mann immer mehr. Aufgrund des Proteinmangels, dem er in seinen ersten Jahren ausgesetzt war, bildeten sich Ödeme an den Beinen. Zeitlebens litt Tiberius Varga an chronischer Unterernährung. Vor zwei Jahren starb er. Ein einfaches Kreuz neben dem neuen Friedhof, der von Spendern errichtet wurde, erinnert an ihn. Oarcea ist überzeugt: "Tiberius Varga ist an den Spätfolgen seiner schlimmen Anfangsjahre gestorben."
Ein völlig eigenständiges Leben
Natürlich litten nicht alle Kinder an den gleichen Symptomen. Einige waren schwerbehindert, andere waren nur etwas schwächlich oder in der Entwicklung zurückgeblieben, als sie den furchtbaren Selektionstests der rumänischen Psychiater ausgesetzt wurden.
Die Kinder von Cighid werden heute individuell betreut. Die schweren Fälle sind in einer Einrichtung in dem Ort Tinca untergebracht, die mittelschweren wie Angela Fechete in Cighid, wo sich Heimleiterin Daniela Nistor mit 53 Angestellten um die Menschen kümmert. Die anderen leben in Wohngemeinschaften in der Großstadt Oradea oder führen ein völlig eigenständiges Leben, das sich kaum von dem Gleichaltriger unterscheidet.
Iosif Balog, 26, ist so einer. In dem ersten Beitrag von SPIEGEL TV kann man ihn als Dreijährigen sehen, wie er hilflos in einem Gitterbett kauert.
"Wenn die Helfer damals nicht gekommen wären, wäre er längst tot", ist Doktor Oarcea überzeugt. Heute kommt Iosif alleine zurecht. Er arbeitet seit sechs Jahren in einer Schuhfabrik in Oradea und hat eine eigene Wohnung. Sein Chef Ionel Baciu ist voller Lob über seinen Mitarbeiter, sagt, Iosif sei nicht ein einziges Mal zu spät gekommen und strahle auf alle etwas Positives aus: "Er ist jung und kann es bei uns noch weit bringen."
Die Hilfe für die "Kinder von Cighid" koordiniert der Frankfurter Pastor Karl-Heinz Pelikan. Spendenkonto 879999 der Evangelischen Dankeskirchengemeinde, Frankfurter Sparkasse, BLZ 50050201, Stichwort: "Kinderheimhilfe Rumänien".