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Kindheit in der DDR: Der beste Frisör in ganz Friedrichshain

Foto: Marko Schubert/K. Schubert

Kindheit in der DDR Der beste Frisör in ganz Friedrichshain

Der "Fassonschnitt" des kleinen Bruders sah unmöglich aus. Als Marko Schubert mit dem Nassrasierer nachhalf, geriet Bennys Auftritt bei der FDJ-Aufnahmefeier zur tränenreichen Blamage. Ein ironisch-liebevoller Rückblick auf die achtziger Jahre in Ost-Berlin.
Von Marko Schubert

Mein Bruder ist ein bemitleidenswerter Mensch. Eine wahrlich traurige Gestalt mit einer unglücklichen Biografie. Als zweites Kind hätte er eigentlich eine niedliche Anja werden sollen, aber nein - es wurde der ständig heulende, kränkliche Benny. Noch heute versucht der arme Kerl nachträglich, seine genaue Geburtsuhrzeit, sein Geburtsgewicht und vieles mehr herauszubekommen, um sich sein eigenes "Mein-Kind-Fotoalbum" zusammenzustellen.

Ich dagegen hatte nicht nur ein einziges "Mein-Erstes-Kind-Fotoalbum", sondern gleich zwei davon. Dort stand bis ins kleinste Detail, wann ich das erste Mal gepupst hatte oder wie viel ich nach 25 Tagen wog. Als Benny einmal voller Stolz einen alten Schuhkarton mit "seinen" Bildern präsentierte und sie einkleben wollte, stellte meine Mutter bald fest, dass dies die aussortierten, "nicht so guten" Fotos aus meiner frühen Kindheit waren. Benny war in dem Alter von sämtlichen Kameras ignoriert worden.

Zwar wuchs auch er im Osten Berlins ohne weitere bleibende Schäden auf. Trotzdem sollte ich - der zwei Jahre ältere Bruder - sein größtes Problem bleiben. In der Schule war er eigentlich ganz gut, doch er hatte einen familiären Vorgänger, der bei denselben Lehrern alles eine Note besser erledigt hatte. Benny fraß seinen Ärger in sich hinein und uns nur die Haare vom Kopf.

Knochenbrüche und "Löcher im Kopf"

Hatte er schon als Baby sämtliche Kinderkrankheiten in einer Abfolge von drei Wochen bekommen, so konnte er als Heranwachsender durch ständige schwere Verletzungen glänzen. Beim "Vom-Hocker-Weitspringen" im Kinderzimmer brach er sich den rechten Arm, beim Schlittenfahren auf der "Todesbahn" im Volkspark gab es den Leisten-, beim Gleiterfahren den Knöchel-, beim Fußballspielen vor dem S-Block den Nasenbeinbruch. Natürlich folgten noch etliche "Löcher im Kopf", die eilig genäht werden mussten. Wenn wir mit der Straßenbahn am Krankenhaus Friedrichshain vorbeifuhren, rief er bereits mit sechs Jahren ganz stolz: "Hier war ich schon mal!".

Als älterer Bruder quälte ich ihn oft und nahm seinen Kopf in den Schwitzkasten. Erst wenn er "Bodden, Doppelbodden, Greifswalder Bodden" gebrüllt hatte, entließ ich ihn wieder aus dem Würgegriff. Er verlor, wenn auch knapp, sämtliche Spiele gegen mich. Auch sportlich war ich ihm immer überlegen. Die Mädels fragten am Telefon fast ausnahmslos nach mir, und den ersten Zungenkuss hatte ich hunderte Jahre vor ihm.

"Bring bitte erst mal den Mülleimer runter"

Mit meiner ersten festen Freundin, der von meinen Eltern noch heute zur Traum-Schwiegertochter verklärten Babs, zog ich glücklich und zufrieden durchs Leben, während er ganz allein zur Handelsflotte und später zur Marine ging. Zu seinem 18. Geburtstag, nach sechsmonatiger Seereise das erste Mal wieder zu Hause, erwartete ihn Mutter und sagte noch an der Tür: "Benny, bring bitte erst mal den Mülleimer runter und zieh dann deine Schuhe aus, ich habe gesaugt." In seinem Zimmer wartete sein Geschenk. Zum Eintritt in die Volljährigkeit bekam er von meinen Eltern "Das große Alf-Buch".

Ohne studiert zu haben, wurde er nach der Seefahrt arbeitslos, dann Hausmeister, arbeitslos, Kaufhausdetektiv, wieder arbeitslos und letztendlich Polizist. Heute lebt er nur wenige Meter vom Flughafen Berlin-Schönefeld entfernt und lauscht den Fliegern aus der weiten Welt.

Als er mit 14 eines Tages von unserem Frisör in der Mollstraße wiederkam, gefielen mir seine an den Seiten stehen gebliebenen Koteletten gar nicht. Auch der "Fassonschnitt" war Scheiße. So beschloss ich, das unvollendete Werk mit dem Nassrasierer meines Vaters zu Ende zu bringen. Natürlich ahnte ich nicht, dass meine sagenhafte handwerkliche Ungeschicklichkeit auch beim Haareschneiden durchkommen sollte. "Werken" war das einzige Schulfach, in dem ich bis zur 10. Klasse eine schlechtere Note als eine Zwei bekommen hatte - eine deutlich schlechtere. Da ich keine gerade Linie am Haaransatz hinbekam, musste immer mehr Wolle herunter.

Ab der Kopfmitte kein einziges Haar mehr

Genau an diesem Abend hatte Benny seine große FDJ-Aufnahmefeier. Sämtliche Lehrer und natürlich alle Eltern seiner Klassenkameraden nahmen daran teil. In der vollbesetzten Aula wurde jeder Schüler unter dem Motto "Du hast ja ein Ziel vor den Augen" einzeln nach vorne gerufen und mit Blumen und Ausweis in der Freien Deutschen Jugend willkommen geheißen. Endlich war Benny an der Reihe. Durch die ungewöhnlich helle Beleuchtung im Saal konnte jeder sehen, dass er den mit Abstand besten Frisör in ganz Friedrichshain hatte: mich. Vorne hatte er sehr viele Haare, die frech über die Stirn zum Scheitel gekämmt waren. Ungefähr ab der Kopfmitte besaß er dafür kein einziges Haar mehr. Ich habe diese fetzige Frisur bis zum heutigen Tag nie wieder gesehen.

In der Aula begann man zu kichern und zu flüstern. Ich konnte die Worte "komplizierte Kopfoperation" und "schwerer Autounfall" deutlich vernehmen. Natürlich heulte Benny noch eine Woche danach Rotz und Wasser und traute sich kaum mehr auf die Straße. Er tat mir ein bisschen leid, aber so war es nun einmal, das Leben als jüngerer Bruder.

Nein, Doppel-Nein, Greifswalder Nein. Die Geschichte meines Bruders geht eigentlich anders! Natürlich ärgert er sich zu Recht über sein fehlendes Fotoalbum. Bei seinen Kindern Laura und Michel hat er diesen Fehler nicht wiederholt. Beide erhalten die gleiche Aufmerksamkeit. Da ich keine eigenen Kinder habe, stehen diese beiden Super-Enkel sowieso im Mittelpunkt unseres familiären Universums.

Benny, der inzwischen einen sicheren Beamtenjob hat, wohnt in einem tollen Haus direkt am Wald. Eine Traumvilla, von der wir in unserer Kindheit nie zu träumen gewagt hätten. Alle Familienfeiern finden in seinem Schloss und nicht mehr in meiner Friedrichshainer Bruchbude statt. Benny hat es, ganz im Gegensatz zu mir, zu etwas gebracht im Leben.

Mein kleiner Bruder, der große Held

Aber er hat es auch einfacher gehabt, durfte früher rauchen und saufen, abends länger wegbleiben und bekam früher höheres Taschengeld. Auf dem gefährlichen Schulhof hatte er immerhin einen großen Aufpasser-Bruder. Er war ein guter und beliebter Schüler, der sich oft und manchmal sogar siegreich mit seinem älteren Bruder duellierte. Wir verstanden uns wirklich fantastisch, halfen uns immer gegenseitig aus der Patsche und verpetzten uns nie.

Er machte kein Abitur und ging gleich nach der Schule zur deutschen Handelsflotte. Bereits im Jahr nach dem Mauerfall fuhr er nach Japan, Guam, Mikronesien und Australien, während ich desorientiert durch ein nicht mehr wiederzuerkennendes Berlin stolperte. Als ich die Postkarte aus Perth bekam, war ich gleichzeitig neidisch und unglaublich stolz auf meinen kleinen Bruder und großen Helden!

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