
Klimawandel: Die historischen Risiken und Nebenwirkungen
Klimawandel Was Umweltrisiken in der Geschichte bewirkten

John F. Haldon lehrte bis 2018 Europäische Geschichte sowie Byzantinische und Griechische Geschichte an der Princeton University. Er leitet heute die von ihm 2013 mitgegründete "Climate Change and History Research Initiative", die unter anderem vormoderne Reaktionen auf Klimafolgen im eurasischen Raum detailliert untersucht.
SPIEGEL: Professor Haldon, Sie haben mit Kollegen eine "Initiative Klimawandel und Geschichtsforschung" gegründet. Was tun Sie da?
Haldon: Die Idee kam uns bei archäologischen Erkundungen im türkischen Avkat, dem antiken Euchaita. Es geht darum, wie Landschaften sich im Laufe der Zeit verändern und was das für die Menschen bedeutet. Bedingungen wie etwa der Klimawandel und andere, nicht menschengemachte Stressfaktoren sind uns besonders wichtig. Da gibt es drei Leitfragen: Welche menschlichen Reaktionen haben Umwelt- und Klimaveränderungen - seien sie plötzlich und gewaltsam oder eher schleichend - ausgelöst? Wie wirkte sich in vormodernen Epochen die Wahrnehmung solcher Veränderungen auf Verhaltens- und Erklärungsmuster aus? Und: Kann ein besseres historisches Verständnis dieser Zusammenhänge zu unserer Reaktion auf gegenwärtige Probleme beitragen, etwa wie wir mit dem Klimawandel zurechtkommen?
SPIEGEL: Wo und wie haben Sie geforscht?
Haldon: Bei einigen umfangreichen Fallstudien zum vormodernen Mittelmeerraum haben wir im Abstand von Jahrzehnten oder Jahrhunderten verglichen, ob und inwieweit gesellschaftliche Vielfalt und Bevölkerungsdichte eine Vorbedingung dafür bilden, dass es im Fall von Klimastress Resilienz gibt, also Ausdauer und Widerstandskräfte. Trockenheit zum Beispiel muss nicht notwendig gesellschaftlichen Rückschritt bedeuten; ein günstiges Klima mag kurzfristig zwar vorteilhaft sein, aber auf lange Sicht zu wirtschaftlich untragbaren Verhaltensweisen führen.

Klimawandel: Die historischen Risiken und Nebenwirkungen
SPIEGEL: Ein Beispiel, bitte.
Haldon: Sizilien und die südliche Levante - also die Region des heutigen Syrien, Libanon und Israel - wurden im 7. und 8. Jahrhundert nach Christus wirtschaftlich und politisch wichtig. Ringsherum zerfiel infolge der arabisch-islamischen Expansion nach 640 die alte Ordnung. Diese Randgebiete des boomenden oströmischen Reiches von Byzanz aber wurden zu "Inseln der Kontinuität", weil dort die etablierte intensive Landwirtschaft weiterging. Sizilien lieferte einen erheblichen Teil an Nahrungsmitteln zur Versorgung der Reichsarmeen und der Hauptstadt Konstantinopel. Aus dem Binnenland der Levante kamen die meisten Lebensmittel für das neue Umayyaden-Kalifat von Damaskus. In beiden Regionen wurde dann das Klima trockener, was die Felderträge minderte. Im späten 8. Jahrhundert hatten Sizilien und die Levante ihre Bedeutung als Versorgungsquellen verloren. Die Abbasiden, Nachfolger der Umayyaden, verlegten ihre Hauptstadt nach Bagdad, in die fruchtbaren Flusstäler des heutigen Irak.
SPIEGEL: Umweltveränderung kann demnach politisch-wirtschaftliche Verschiebungen auslösen.
Haldon: Ja, aber durch Kombination verschiedener Forschungsmethoden erkennt man deutlich, dass selten das Klima dafür der einzige Grund ist. Nehmen Sie Caracol, eine Stadt der Maya in Mittelamerika. Unsere neuen Klimarekonstruktionen zeigen, dass dort die Zivilisation wahrscheinlich anders unterging, als man bisher annahm. Nicht wiederholte schwere Dürrezeiten waren der Grund, dass die Stadt verlassen wurde, sondern gesellschaftliche Konflikte. Auf der Höhe der Dürreperiode wuchs der Ort sogar: Die Einwohner hatten sechs Jahrhunderte lang das Land so bearbeitet, dass sie den Regen zur Bewässerung gut nutzen konnten, öffentliche und private Wasserspeicher halfen über Dürrezeiten hinweg. Nach dem 7. Jahrhundert aber griffen die Eliten der Stadt politisch in dieses Erfolgsmodell ein, was Spannungen und Konflikte auslöste. Dies in Verbindung mit Krieg führte dann zum Ende der Stadt, obwohl sie wirtschaftlich erfolgreich war.
SPIEGEL: Noch so kluge Anpassung an Umweltbedingungen bleibt also nutzlos, wenn die Politik fatal dazwischenkommt?
Haldon: Das wäre eine mögliche Schlussfolgerung. In unserem dritten Fall liegt die Sache noch komplizierter: Beim Karolingerreich deuten Berichte und archäologische Befunde auf Umweltstress - Wetterextreme und kurze Perioden mit abrupten Klimawechseln. Die Berichte über Hungersnöte decken sich mit diesem Muster zwar oft, aber nicht völlig. Lange Winter, schwere Dürren, dann wieder endlose Regengüsse brachten Hungerjahre und erhöhten die Todesrate. Aber was ist mit Jahren, wo die Daten nicht übereinstimmen? Kombiniert man alle Faktoren und Hinweise, dann zeigt sich: Die karolingische Gesellschaft wusste schon, wie man solchen Gefahren trotzen oder sie mildern konnte. Aber der Erfolg hing eben auch von politisch-sozialen Bedingungen ab - etwa davon, wie gut große Landbesitzer und die Staatsführung gemeinsame Sache machten.
SPIEGEL: Lassen Ihre Erhebungen Schlüsse zu, wie gut vormoderne Gesellschaften insgesamt mit Klimawandel zurechtkamen?
Haldon: Das wichtigste Resultat ist: Umweltfaktoren allein können niemals soziale Veränderungen erklären. Es gibt da immer Wechselwirkungen; wir sprechen wie die Ökologen von komplexen adaptiven Systemen. In vormodernen Gesellschaften gab es traditionelles Wissen, wie man mit Naturgefahren umgeht. Vieles davon mag uns wie Aberglauben vorkommen, und es blieb auch wirkungslos - etwa, dass in Peru vor den Inka gewisse Tempel mitten in Überflutungszonen gebaut wurden. Aber so etwas stärkte natürlich den langfristigen sozialen Zusammenhalt.
SPIEGEL: Waren bestimmte Staatsformen besser gegen Naturveränderungen gewappnet?
Haldon: Das oströmische Reich des 7. Jahrhunderts ist einer der wenigen Fälle, in denen ein komplexes Staatsgebilde bewusst vereinfacht wurde. Gewöhnlich heißt es: Innerer Zwist, äußere Angriffe von "Barbaren", Klimawechsel und Epidemien hätten das Reich bedroht, bis es sich dank ein paar weiser Regenten und historischer Zufälle stabilisierte. Die genauere Betrachtung von Umweltdaten und anderen Quellen aber zeigt: Bauern reagierten auf den Klimawandel durch Einführung neuer Getreidearten, der Staat auf Gebiets- und Einkommensverluste durch andere Besteuerung, Neuorganisation des Militärs und auch der Eliten. Im Ergebnis identifizierten sich die Bürger mehr als vorher mit dem Staat. Die Umweltbedrohung hat also tatsächlich zur Fortdauer des byzantinischen Staates beigetragen.
SPIEGEL: Kam den Menschen in vormodernen Zeiten überhaupt in den Sinn, dass sie Umweltveränderungen selbst ausgelöst haben könnten?
Haldon: Dafür gibt es kaum Hinweise. Allerdings liest man in Dokumenten zuweilen Klagen, dass der Staat oder ein Landbesitzer Neuerungen befohlen habe, die zum Mangel an bestimmten Getreidesorten oder - beispielsweise bei Dammbauten - zu schlechter Wasserverteilung geführt hätten. Jeder Fall liegt da anders, auch je nach Denkwelt der jeweiligen Epoche, aber wirtschaftlich-gesellschaftliche Rückkopplungseffekte gibt es so gut wie immer.
SPIEGEL: Was können wir aus historischen Erklärungen für die Gegenwart lernen?
Haldon: Politiker haben oft die Komplexität früherer Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Umwelt verkannt. Das führte dann zu schlechter Strategie und Fehlplanungen. Die Uno hat Nachhaltigkeitsziele verkündet, auch für Städte und Gesellschaften. Erkenntnisse aus der Vergangenheit können gewiss zu aktuellen Diskussionen beitragen, sogar die Beurteilung von Risiken verbessern. So stellte unlängst eine Forschergruppe fest, dass Israels Nordküste im 6. Jahrhundert von einem gewaltigen Tsunami getroffen wurde. Als die israelische Regierung davon erfuhr, hat sie entsprechende Szenarien in ihre Notfallpläne aufgenommen und auch das öffentliche Bewusstsein dafür zu wecken begonnen. In unserem Team arbeiten Spezialisten für Risiko- und Notfallplanung mit - es gibt also direkte Verbindungen zwischen unserer historischen Forschung und ihrer möglichen Bedeutung für heute und morgen.