
Friedrich Seidenstücker: Elefanten und andere Zoobewohner
Komische Fotografie Zoobesucher in freier Wildbahn
Den Redaktionen, die seine neueste Fotoserie veröffentlichen wollten, schickte der Fotograf gleich eine Anleitung mit: "Um die dramatischen Bilder mit den Peitschen bringen zu können", vermerkte er im Anschreiben, "ist es zweckmäßig, jedes Mal die Peitsche ganz wegzumalen, dafür eine Faust oder einen Zeigefinger zu malen ( ), dann sind die Bilder wohl erträglich."
Es sind Aufnahmen vom Morgen des 27. Mai 1939 in Berlin. Schaulustige im Berliner Zoo waren darauf zu sehen. Und mehrere Wärter bei dem Versuch, einen See-Elefanten, der von seinem Gehege in den umgrenzenden Wassergraben gefallen war, zurück auf seine Insel zu treiben. Am Ende gelingt der brachiale Akt - die Riesenrobbe hievt sich schließlich zurück auf ihre Liegefläche.
Der Zoologische Garten war in den zwanziger und dreißiger Jahren eine der Hauptattraktionen in der Großstadt - nicht nur wegen der See-Elefanten. Die Berliner Presse vermeldete fast alle mehr oder weniger spektakulären Ereignisse aus Becken, Gehegen und Käfigen; Tier- und Zoofotografie boomten.
Für die meisten Berufs- wie Freizeitfotografen bestand die besondere Herausforderung darin, die Zoo-Architektur auszublenden: Durch Zäune und Gitter hindurch und mit langen Brennweiten mühten sie sich um den Eindruck, sie hätten die exotischen Lebewesen direkt in freier Wildbahn aufgespürt. Einer aber entwickelte auf diesem Gebiet rein gar keinen Ehrgeiz: der Berliner Fotograf Friedrich Seidenstücker. Genau deswegen fing er in seinen Bildern den Zoo in den skurrilsten Momenten ein - und die darin zu sehenden Kreaturen in außergewöhnlichen Posen.
Eine besondere Spezies
Unheimlich neugierig, den Oberkörper weit nach vorn gestreckt und mit den Gliedmaßen an den Gitterstäben klammernd, lugt etwa ein solches Wesen auf einem der Seidenstücker-Fotos über ein metallenes Geländer: Es ist ein Leica-Fotograf mit einem Entfernungsmesser. Ein anderes Exemplar dieser Spezies streckt ungelenk mit halb durchgedrückten Knien dem Betrachter sein Hinterteil entgegen, während er versucht, mit einer Stativkamera einen grazilen Pelikan abzulichten. Der Zoobesucher - auf Seidenstückers Bildern ist er das kurioseste Geschöpf im Tiergarten.

Friedrich Seidenstücker: Elefanten und andere Zoobewohner
Seidenstücker kam fast täglich in den Zoo. Mit seinen Fotos verdiente der gelernte Bildhauer seinen Lebensunterhalt, belieferte Bildagenturen und Zeitschriften und verkaufte seine Abzüge bis 1933 sogar direkt im Zoo. Für Kunden lieferte er Motive aller Art, ihn selbst interessierte aber vor allem Interaktion: Das Spiel der Tiere untereinander oder ihre Begegnung mit Menschen.
Es konnte der Eindruck entstehen, die Tiere seien ihm dabei irgendwie näher und sympathischer. Etwa in einer Aufnahme von 1935, auf der ein einzelner mächtiger Elefant einer ganzen Reichswehr-Kompanie gegenübersteht. Die uniformierte Truppe erscheint fast machtlos: Sie verschwindet bis zur Hüfte hinter einer Betonmauer, die sie vor dem Rüsselgewaltigen schützt. Ein anderes Mal nahm Seidenstücker die Perspektive eines Eisbären im Käfig ein: Der Sucher seiner Kamera erfasste dabei eine gaffende Horde Zweibeiner hinter Gittern.
"Roland ist nichts vorzuwerfen"
Der Fotograf war ein feinsinniger Beobachter mit viel Witz, der im richtigen Moment auf den Auslöser drückte: Etwa als eine Mutter und eine Kuh scheinbar gleichermaßen interessiert in einen Kinderwagen blicken. Immer wieder spielte Seidenstücker auf die augenscheinliche Verwandtschaft von Mensch und Tier an. Mit einer beinahe kindlichen Perspektive blickte der damals über 50-Jährige auf seine Umwelt - und beschrieb sie auch so.
Für die Zeitungsredaktionen lieferte er neben Fotos manchmal gleich die Texte mit. Etwa im April 1939, als er die Paarung der See-Elefanten beobachtete: "Das Weibchen 'Freya' ist viel kleiner. Nur 3 Meter lang und 10 Zentner schwer. Es wirkt zu klein für das Männchen", schreibt Seidenstücker und erklärt seinem Leser: "Es sträubt sich dauernd gegen die Zudringlichkeiten des Gatten ( ). 'Freya' fauchte." Anfang April habe sich "Roland" schließlich "nicht mehr abweisen lassen". Als Freya ihm entwich, wurde das "dem temperamentvollen 'Roland' zu langweilig und er zwang und bedrängte sie immer mehr und wendete augenscheinlich auch Gewalt an."
Am 30. April 1939 meldete der Berliner Zoo den Tod des weiblichen Tiers. Freya hatte zuvor etwa eine Woche lang nichts mehr gefressen. "Es ist ein Unglücksfall, der wohl nur auf das Gefangenschaftsverhältnis zurückzuführen ist", notiert Seidenstücker, " 'Roland' ist nichts vorzuwerfen." Auf der Rückseite seiner Bilder von der Robben-Hochzeit vermerkte er handschriftlich: "Vergewaltigung Seelefanten Paar".
Tod hinter Gittern
Mehr als vierzig Jahre widmete sich Seidenstücker der Tier- und Zoofotografie. Wegen des Zoos war der gebürtige Westfale, wie er in einem Lebenslauf angab, 1904 überhaupt von Unna nach Berlin gezogen. Dort musste er schließlich auch mit ansehen, wie sein geliebter Tiergarten im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Er fotografierte weiter und nahm diesmal die klassische Position des Zoobesuchers ein: Durch die Gitterstäbe der Käfige hindurch fällt der Blick 1943 auf die aufgeblähten Leiber der toten Elefanten. Drei Jahre später, so zeigt ein anderes Bild, stehen zwei Berliner Schutzpolizisten wie Zoowärter am Rande des zerstörten Tiergartens, als wollten sie bewachen, was davon noch übrig ist: einen Bison, einen Elch und ein Pferd - Skulpturen aus Bronze.

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Berlin lag in Trümmern - und auch die Zoofotografie hatte ihre große Zeit hinter sich. Umso mehr war Seidenstücker überrascht, als sich 1964 ein Künstlerkollege für eine geplante Ausstellung nach seinen Tierfotos erkundigte. Rund die Hälfte seines fotografischen Werkes, das auch Straßen-, Landschafts- und Aktfotografie umfasste, hatte Seidenstücker den Tieren und dem Zoo gewidmet - mit mehr als 7000 Aufnahmen. Viele seiner Negative aber waren im Krieg verbrannt.
Die mittlerweile ein Vierteljahrhundert alte Serie von der dramatischen Rettung des See-Elefanten aus seinem Wassergraben war ihm geblieben. Seidenstücker holte sie noch einmal hervor. "Mir ist wichtig", schrieb er dem Kurator, "dass das an sich harmlose Tier von 'Nazis' großspurig mißhandelt wird." Es sollte betont werden, dass das Tier "brutal" mit "Mühe und Peitschen herausgetrieben" worden sei. Es "waren ein paar Naziwärter, was gerade gut dazu passt." Der inzwischen 81-Jährige klang verbittert. Die Tiere hatten ihm wirklich nahe gestanden.