Jetzt bitte stillhalten und Augen weit öffnen: In jahrelanger Detailarbeit entwickelte Heinrich Wöhlk (rechts) die moderne Kontaktlinse. Seine Erfindung von 1947 hat das Leben von Millionen fehlsichtigen Menschen vereinfacht.

Jetzt bitte stillhalten und Augen weit öffnen: In jahrelanger Detailarbeit entwickelte Heinrich Wöhlk (rechts) die moderne Kontaktlinse. Seine Erfindung von 1947 hat das Leben von Millionen fehlsichtigen Menschen vereinfacht.

Foto: SPIEGEL TV

Tüftler mit Durchblick Die schmerzhafte Erfindung der Kontaktlinsen

Heißwachs ins Auge, sofort das Gesicht ins Eiswasser – unter Qualen experimentierte Heinrich Wöhlk schon 1938 mit neuartigen Augenschalen aus Plexiglas. Ein Geistesblitz brachte den Kieler Elektriker auf den richtigen Weg.
Von Hendrik Behrendt

Behutsam spreizt Heinrich Wöhlk seine Lider mit zwei Fingern auseinander, setzt sich ein dünnes Wachsplättchen aufs Auge und hält eine Wärmelampe davor. Ab 40 Grad verflüssigt die Hitze langsam das Wachs. Blitzschnell taucht Wöhlk dann sein Gesicht mit geöffneten Augen in eine Schale voll Eiswasser – abruptes Ende des schmerzhaften Experiments.

So schildert Enkel Frank Wöhlk die Tortur, der sich sein Großvater 1938 mehrfach unterzog. Heinrich Wöhlk erzählte ihm auch den Grund: Er wollte Abdrücke seiner Augäpfel. Heute ermöglichen moderne Verfahren das sekundenschnell und kontaktlos, aber damals musste Wöhlk viele Fehlversuche und Qualen erdulden, bis er endlich brauchbare Wachsabgüsse bekam.

25 Jahre war er alt, stark weitsichtig und hatte schon als Kind eine dicke, schwere Brille getragen. »Da ohne sie für meinen Opa bei über neun Dioptrien so gut wie nichts ging, machte er sich früh auf die Suche nach Alternativen«, sagt Frank Wöhlk. »Seine Brille hat ihn schon immer tierisch gestört, besonders weil es noch keine leichten Plastikgläser gab.«

Bloß weg mit der klobigen Brille

1936 hatte Heinrich Wöhlk ein Schlüsselerlebnis: In einer Augenklinik wurden ihm sogenannte Skleralschalen eingesetzt. Sie bestanden damals meist aus Glas, bedeckten einen Großteil des Augapfels und ließen sich kaum länger als eine halbe Stunde aushalten. Die Gefahr von Verletzungen war hoch, der Tragekomfort gering. Dennoch war Wöhlk fasziniert und nahm sich vor, die Haftschalen weiterzuentwickeln.

Ende der Dreißigerjahre arbeitete der gelernte Elektriker bei der Kieler Firma Anschütz und Co., die Navigationsinstrumente produzierte. Wöhlk wurde als Konstrukteur bei der Herstellung von Kreiselkompassen eingesetzt. Zur Abdeckung diente Plexiglas, das der deutsche Chemiker Otto Röhm erst kurz zuvor entwickelt hatte. Der Tüftler erkannte, welche Chancen der neue Kunststoff bot.

»Mein Großvater hat gefragt, ob er Produktionsreste mit nach Hause nehmen darf. Sein Chef hatte nichts dagegen, und so konnte er mit dem Material experimentieren«, erzählt Frank Wöhlk von den Anfängen. Bald gelangen ihm erste Skleralschalen aus Plexiglas: schon besser als das gläserne Pendant, aber noch nicht angenehm genug.

Die kleinere Linse: ein Volltreffer

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde der Kieler zur Wehrmacht eingezogen und kam 1942 an die Ostfront. Sein Arbeitgeber beantragte die Freistellung, weil er bei der Produktion moderner Navigationsinstrumente einem kriegswichtigen Beruf nachgehe. So konnte Wöhlk nach Schleswig-Holstein zurückkehren.

Mit dem Krieg endete 1945 auch seine Arbeit bei Anschütz. Er hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und steckte das Geld zum Großteil gleich in die Suche nach komfortablen Sehhilfen. 1946 begann die Zusammenarbeit mit der Augenklinik der Kieler Universität. Dort schätzte man Wöhlks feinmechanisches Geschick und seine Erfahrungen mit Plexiglas, wie sein Enkel berichtet. Unter medizinischer Aufsicht fertigte er Wachsabdrücke der Augen von 70 Probanden an, daraus wurden Standardformen künftiger Sehhilfen.

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Kontaktlinsen - wie alles begann

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Wöhlk machte sich selbstständig und vertrieb seine Skleralschalen aus Plexiglas – mit mäßigem Erfolg. Sie waren noch groß, zu unbequem und daher Ladenhüter. Bis Wöhlk 1947 einen Geistesblitz hatte: »Er hat den kleinen optischen Teil, der über der Iris sitzt, aus der großen Haftschale gelöst und die Ränder abgerundet«, erklärt sein Enkel. »Diese neue kleine Linse hat er sich ins Auge gesetzt und sofort gemerkt: Das ist ein Volltreffer.«

Das Patent verpasste er

Das neue Modell maß nur zwölf Millimetern im Durchmesser, schwamm frei auf der Tränenflüssigkeit und bedeckte einen viel kleineren Teil des Auges als die Haftschalen zuvor. Das erhöhte die Sauerstoffversorgung und den Tragekomfort beträchtlich. Wöhlk gab seiner Erfindung den Namen »Contactlinse«, bewusst mit C, um auch internationale Kunden anzusprechen.

DER SPIEGEL

Für eine Patentanmeldung fehlte ihm allerdings das Geld. Und so beantragte der US-Amerikaner Kevin Tuohy 1948 als erster ein Patent auf Plexiglaslinsen, die nur die Hornhaut bedecken. Der Optiker hatte ebenfalls an der Weiterentwicklung der Sehhilfen gearbeitet und ähnliche Ergebnisse erzielt.

»Das schmälert nicht die Leistung Heinrich Wöhlks«, sagt Wolfgang Sickenberger, Professor für Physiologische Optik in Jena. »Seine Idee ermöglichte die passgenaue Herstellung kleiner und formstabiler Linsen, die man deutlich länger tragen konnte. Was heute selbstverständlich ist, war damals ein Novum.«

Die US-Übernahme blieb ein Intermezzo

Auch ohne Patent startete Heinrich Wöhlk in einer Gartenlaube die Produktion seiner »Contactlinsen« und vertrieb sie an Optiker. Zunächst musste er sich Geld leihen und auch sonst viel improvisieren: Mehrere Maschinen baute er um, etwa eine Uhrmacherdrehbank. Bald waren neben den Linsen auch seine Maschinen gefragt, die er nachbaute und an Mitbewerber verkaufte.

Die Firma wuchs rasch und bezog einen neuen Standort in Schönkirchen vor den Toren Kiels, die Mitarbeiterzahl stieg zwischenzeitlich auf gut 600, darunter auch Wöhlks Sohn Peter und sein Enkel Frank. 1991 starb Wöhlk im Alter von 78 Jahren und erlebte nicht mehr, wie der US-Optikkonzern Bausch & Lomb das Familienunternehmen übernahm. Das deutsch-amerikanische Kapitel war jedoch bald beendet, Wöhlk schon 2005 wieder eine eigenständige Firma.

In Schönkirchen ist man bis heute stolz auf den »Vater der modernen Kontaktlinse«, der 1977 mit seiner Firma auch die Silikon-Kautschuk-Linse auf den Markt brachte, eine Weiterentwicklung der Ende der Sechzigerjahre erfundenen weichen Kontaktlinse. Unverändert blieb die Grundidee einer kleinen komfortablen Sehhilfe. Mit seinem Innovationsgeist hat Heinrich Wöhlk sich selbst von seiner ungeliebten Brille befreit – und auch das Leben Millionen anderer fehlsichtiger Menschen vereinfacht.

Sendehinweis: Zur Erfindung der Kontaktlinse

Mehr zu dieser und zwölf anderen verblüffenden Geschichten sehen Sie am Sonntag, 21. Mai 2023, ab 20.15 Uhr in der Sendung »Deutschlands größte Geheimisse«  bei Kabel Eins.

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