
Kreuzberg in den Siebzigern Der Hinterhof West-Berlins

Amateurfotograf Osterkamp
Foto: Steffen OsterkampNa, willst du mitspielen? Dann haben wir die Fußballmannschaft voll! Erwartungsvoll blicken die zehn Kids in die Kamera, mit ihrem Lederball, den Schlaghosen, den extrabreiten Krägen. Die älteren Jungs machen Faxen, posieren breitbeinig-cool. Die kleinen, vielleicht vier, fünf Jahre alt, sind einfach nur stolz, mit aufs Foto zu dürfen.
Die Fußballer-Gang scheint den Fotografen zu kennen, der sie da vor dem Schaufenster von Möbel Olfe in der Dresdener Straße Nr. 8 ablichtet. Doch der will gar nicht mitspielen. Steffen Osterkamp drückt auf den Auslöser - und zieht weiter durch den Kiez.
Besonders weit kommt er bei seinen fotografischen Streifzügen nicht. Dresdener Straße, Adalbertstraße, Oranienstraße, Bethaniendamm: Osterkamp flaniert mit seiner Minolta-Spiegelreflex-Kamera im Wesentlichen rund um das Kottbusser Tor und das 1974 fertiggestellte "Neue Kreuzberger Zentrum", ein zwölfgeschossiges, seelenloses Betongeschwür, errichtet als Puffer für die geplante Autobahntangente.
Sehnsuchtsort der Neinsager
Amateurfotograf Osterkamp
Foto: Steffen OsterkampSelten entfernte sich Osterkamp, Jahrgang 1941, aus "SO 36", jenem legendären Fleckchen Erde, das an drei Seiten vom real existierenden Sozialismus eingekeilt war. Wo Kinder durch Abrisshäuser tobten, das Klo auf halber Treppe nervte, die Bulldozer lauerten. Wo türkische Migranten, sozial Schwache und Rentner ebenso lebten wie schwäbische Studenten, Punks, Wehrdienstverweigerer und all die anderen Neinsager: vereint in der Sehnsucht nach alternativen Lebensentwürfen, vereint im Groll auf den bürgerlichen BRD-Mief.
Gehörte auch Osterkamp, der 1973 aus der ostfriesischen Provinz nach Kreuzberg gezogen war, zu den Aussteigertypen von damals? Sein Neffe Claas weiß es nicht so genau. "Links" sei er schon gewesen, der in Kreuzberg beim Jugendamt beschäftigte Sozialarbeiter. Doch wie eng Osterkamp mit der Szene verwoben war, die er ablichtete, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Der Hobbyfotograf, der bis 1980 in der Dresdener Straße Nr. 8 lebte, starb 1996 - und hinterließ seiner Familie einen wahren Fotoschatz: zwei dicke Aktenordner voller Klarsichtfolien, rund 6000 Negative. Davon knapp 950 Berlin-Bilder, allesamt unbeschriftet.
Neffe Claas entdeckte die beiden Ordner, als er die Wohnung seines Onkels ausräumte. Er nahm die Negative mit nach Hause und kümmerte sich nicht weiter darum. Erst jüngst hat der 49-jährige Vermessungsingenieur begonnen, sich mit dem Erbe auseinanderzusetzen. "Ich fand es einfach schade, dass die tollen Bilder weiter unbeachtet herumliegen", sagt Wahlberliner Osterkamp im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Zumal er die Erinnerung an den verstorbenen Verwandten wachhalten möchte.
Auf den Spuren des Onkels durch den "Hinterhof West-Berlins"
Osterkamp scannte 1200 Negative ein und begab sich mit den Aufnahmen in der Hand auf Spurensuche durch den "Hinterhof West-Berlins", wie die "Berliner Zeitung" den Bezirk Kreuzberg einmal titulierte: Wo lief der Onkel damals genau entlang? In welchem Jahr könnten die Fotos entstanden sein? Es begann eine minutiöse Detektivarbeit, die noch immer nicht abgeschlossen ist.
Zahlreiche Fotos konnte Claas Osterkamp bereits lokalisieren, teilweise ließ sich sogar das Aufnahmejahr rekonstruieren. Mal half ihm ein spezielles Automodell oder Zeitschriftencover bei der Datierung, mal ein Veranstaltungsplakat. Etwa der Hinweis auf den "Tunix"-Kongress, zu dem sich Anfang 1978 Tausende Spontis in West-Berlin versammelten, um die Alternativbewegung einzuläuten.
"Ist doch ein guter Anlass, um durch Kreuzberg zu laufen. Der Jagdinstinkt kommt irgendwann von selbst", begründet Claas Osterkamp seine Hartnäckigkeit. Und wenn auf einem Foto beispielsweise nur die Hausnummer 12 als Anhaltspunkt zu sehen ist? Dann wird er eben alle Hausnummern 12 im Kiez abklappern, um das Foto zu verorten.
Selbst wenn sich nicht alle Bilder zweifelsfrei zuordnen lassen: Von den Aufnahmen geht just jene Faszination aus, die Ausgeflippte aller Couleur einst in den östlichsten und ärmsten aller West-Berliner Bezirke lockte. Dorthin, wo das bundesrepublikanische Establishment weit genug entfernt war und die Kinder sich noch nicht in DIN-genormten Sandkisten langweilen mussten - weil die Straße selbst der allerschönste Abenteuerspielplatz war.
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"Überzeugend im Geschmack": Zwei ältere Damen spazieren durch das vom Abriss geprägte Kreuzberg - von den jungdynamischen Jägern der Lord Extra-Werbung nehmen sie keinerlei Notiz (Aufnahme von 1976). Während zahlreiche BRD-Kritiker das Viertel als Aussteiger-Mekka verklärten, äußerten sich die Medien vielfach schockiert von dessen marodem Zustand. So beschrieb die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" Kreuzberg in einem Artikel von 1976 als "hässlich-abstoßendes" Ghetto "mit allen Zeichen des Zerfalls, der Verwahrlosung, des Elends". Und die "Welt" fragte bereits 1973 mit Blick auf Kreuzberg bang: "Bald Zustände wie in Harlem?" mehr...
Wasser marsch! Ein Sprengwagen fährt durch die hochsommerliche Dresdener Straße und sorgt für Erfrischung. Das Foto nahm Steffen Osterkamp vom Balkon seiner Wohnung auf. Durch den Bau des monströsen Neuen Kreuzberger Zentrums (NKZ) mutierte die Straße zur Sackgasse.
Pfützen-Cruiser: An der gleichen Stelle in der Dresdener Straße tummeln sich die Kinder nach dem Regen mit ihren Dreirädern und Kettcars in einer herrlich großen Wasserlache (undatierte Aufnahme).
"Nieder mit der sozialfaschistischen Diktatur der Honecker-Clique!" Zwei Kinder stehen vor der Mauer am Bethaniendamm, im Hintergrund sind die Häuser am Engeldamm zu sehen. Steffen Osterkamp stand für diese Aufnahme in der Adalbertstraße.
Kahlschlag in Kreuzberg: So trostlos sah die Adalbertstraße Nr. 5 kurz nach dem Abriss aus - heute befindet sich an dieser Stelle ein Parkplatz. Entstanden ist das Foto im Jahr 1978, wie Claas Osterkamp rekonstruiert hat. Bei der Datierung der Aufnahmen seines Onkels halfen Plakate wie etwa jenes, das das "Treffen in Tunix" ankündigt. Zum sogenannten "Tunix"-Kongress versammelten sich Ende Januar 1978 Tausende von Spontis in West-Berlin und läuteten die Alternativbewegung ein.
"Fronburg": Blick auf den Südblock des eingerüsteten NKZ (Neues Kreuzberger Zentrum) am Kottbusser Tor. Die Aufnahme stammt von Anfang 1978. Der vom SPIEGEL einst als "Fronburg" verunglimpfte, halbkreisförmige Betonklotz wurde zwischen 1969 und 1974 errichtet. Das zwölfgeschossige NKZ sollte als Puffer für die geplante, jedoch nie realisierte Autobahntangente dienen - und ruinierte die Dresdener Straße nachhaltig.
"Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt": Wo früher diese Baulücke klaffte, ragt heute das FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum empor. Im Hintergrund ist die Rückseite der Elefanten Press Galerie in der Dresdener Straße zu erkennen.
Zehn Freunde sollt ihr sein! Mit Schlaghosen und Fußball ausgerüstet, posieren diese bärenstarken Kumpels vor dem Möbelladen Möbel Olfe in der Dresdener Straße 8. Steffen Osterkamp wohnte über dem Geschäft.
Kicken statt Krawall: Mit KPD-Parolen wie "Gegen Mietwucher und Bodenspekulation" konnten diese Kreuzberger Kinder ebenso wenig anfangen wie mit den alljährlichen Mai-Demonstrationen in ihrem Kiez - sie nutzten die Straßen lieber zum Kicken und Radfahren.
Mal schauen! Was links des Fotos passierte, ist nicht mehr zu rekonstruieren - diese beiden Bewohner der Wrangelstraße 8 scheinen es jedenfalls recht spannend gefunden zu haben (Aufnahme von 1976).
Ins Bild gemogelt: Das kleine Mädchen (r.) hat sich erst im allerletzten Moment dazu entschieden, doch mit aufs Foto zu wollen - und lugt schüchtern hinter dem Erwachsenen hervor. Straßenszene in Kreuzberg (Aufnahme von 1976).
Adalbertstraße: Wo die beiden Jungs mit dem Rollsessel wohl hinwollen? Blick in die Adalbertstraße am "Neuen Kreuzberger Zentrum" (undatierte Aufnahme). Laut SPIEGEL war im Jahr 1977 jeder vierte Kreuzberger Ausländer und sprach jeder fünfte türkisch.
"Kredit bis 60 Monatsraten": Wer hier einkaufen wollte, genoss beste Bedingungen - selbst Rentner und Ausländer waren willkommen, wie dieses Schild verheißt. Möbelgeschäft in der Oranienstraße 37 (undatierte Aufnahme).
Aussteigerparadies oder Getto? Zwischen Mülltonnen und Wäscheleine vergnügt sich diese Kinderschar (undatierte Aufnahme). In den Siebzigerjahren geriet Ost-Kreuzberg mit dem Wedding zum "Hinterhof West-Berlins", wie es die "Berliner Zeitung" einmal auf den Punkt gebracht hat: Wer es sich leisten konnte, zog aus dem Viertel weg, Wohnungsbauunternehmen kauften die Häuser auf - um sie auf Abriss verfallen zu lassen. Zurück blieben die finanziell schlechter gestellten Kreuzberger, zu denen zahlreiche türkische Einwanderer zählten.
Besser als jede Sandkiste: Was die Großen für marode halten, ist für die Kleinen ein gigantischer Abenteuerspielplatz - Kinder buddeln in einem Erdloch, das sich auf dem Bürgersteig aufgetan hat. Blick vom Oranienplatz in die Dresdener Straße (Foto von circa 1976).
Polstermöbel-Paradies: Flohmarkt oder Möbellagerauflösung? Sessel und Sofas säumen die Dresdener Straße (Aufnahme von 1973).
Autofriedhof: Ein nicht mehr wirklich fahrtüchtiger Wagen steht in einem völlig heruntergekommenen Parkhaus. Möglicherweise handelt es sich um das Parkhaus, das einst in der Dresdener Straße stand. An dieser Stelle steht heute eine Kita.
Niemandsland: Recht verloren wirkt dieser Verschlag, der mitten auf dem Platz steht. Nur das Straßenschild weist darauf hin, dass man es mit dem Leuschnerdamm zu tun hat, den die Berliner Mauer in zwei Hälften zerschnitten hatte (undatierte Aufnahme).
Bedürfnisaufschub: Eventuell am Moritzplatz entstand diese Aufnahme der Kreuzberger Oranienstraße (Foto von circa 1976). Wer mal musste, musste einhalten - bis er unten in der U-Bahn war.
Vom Möbelladen zur Trinkhalle: Selbstbewusst posieren diese vier Mädels mit ihrem Fahrrad vor Möbel Olfe in der Dresdener Straße Nr. 8. Das Geschäft, das einst wuchtige Chippendale-Sessel verkaufte, gibt es nicht mehr - dafür aber eine alternative Szenebar namens Möbel Olfe, die sich selbst als "Trinkhalle" bezeichnet.
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