
Anna Haags Tagebücher: 2000 Seiten aus dem Alltag im Krieg
Nachlass Anna Haag
Kriegstagebücher von Anna Haag »Kann ich Hitler mit dem Kochlöffel totschlagen?«
Dieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Was können Einzelne schon gegen das »Toben eines Geisteskranken« ausrichten, dem eine ganze Nation verfallen ist? »Kann ich Hitler mit dem Kochlöffel totschlagen?« Nein! Was also bleibt einem Menschen, der das Unrecht, das Morden, die Willkür Tag für Tag sieht, erlebt, begreift und zu der bitteren Erkenntnis kommt, »gar nichts ändern« zu können? »Mir selber treu bleiben und dem, was ich dank meiner unverbogenen Vernunft und meinem gesunden Instinkt als gut und recht und menschenwürdig erkannt habe.« Und auf das Ende des Wahnsinns und einen Neuanfang zu hoffen: »Wenn ich dann noch Kraft haben werde, noch ein wenig Kraft, dann will ich mitarbeiten, mitschaffen an dieser Welt, die ein anderes Gesicht haben soll.«
In diesem Spannungsfeld zwischen Ohnmacht und Zuversicht ging die Sozialdemokratin Anna Haag (1888-1982) in die innere Emigration und legte ihre moralische Richtschnur für jene Horrorjahre fest, in denen »in jeder Minute tausendfaches Elend von Menschen über Menschen gebracht« worden sei: »›Vernichtung‹ ist der Gott des Tages! Ihn beten wir an, nur ihn. Und wehe dem, der es wagt, abseits zu stehen bei diesem Götzendienst!«
Die Stuttgarterin war erfolgreiche Journalistin und Schriftstellerin, Pazifistin, Feministin und Mutter. Von 1940 bis 1945 führte sie Tagebuch und versteckte die 20 Schulhefte erst im Kohlenkeller, vergrub sie dann auf dem Land – stets im Bewusstsein der Lebensgefahr, wenn jemand sie verriete, wie sie im November 1942 notierte:
»…weil jeder von uns, dessen Herz nicht im Gleichtakt mit den Taten dieser Ungeheuer schwingt, seinen Kopf auf dem Schafott hat und keine Sekunde sicher ist, ob nicht das Fallbeil saust und allem ein Ende macht. Ein Denunziatiönchen, eine anschließende Haussuchung: und schon wäre ich meinen Kopf los!«

Doppelseite aus Anna Haags Tagebuch: Zwischen ihre Notizen klebte sie auch Zeitungsausschnitte und andere Dokumente, auf die sie sich bezog
Foto: Nachlass Anna HaagIhre Erlebnisse, Gedanken und Urteile auf rund 2000 Seiten sind Zeugnis von inneren Kämpfen. In den aktiven Widerstand fand Haag nicht, wofür sie sich regelrecht verdammte. Die Niederschrift diente der inneren Hygiene und dem Selbstschutz, sonst angesichts ihrer Machtlosigkeit durchzudrehen. Für ihre Vorsicht legte Haag folgerichtig die Grenze fest, nicht »zum Verräter an meinen Werten und Denken« zu werden.
Nicht nur wegen der Tagebücher ist es erstaunlich, dass die Frauenrechtlerin in völlige Vergessenheit geriet. Sie war es, die maßgeblichen Anteil daran hatte, dass der Satz »Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden« ins Grundgesetz aufgenommen worden ist. Erst Anfang 2019 erschienen Auszüge aus ihren Tagebüchern in größerem Umfang. Nun liegt endlich die Gesamtausgabe vor, herausgegeben von der Berliner Politologin Jennifer Holleis, die seit einem Jahrzehnt zu Haag forscht.
Kaum ein zeithistorisches Dokument gewährt ähnlich tiefe, schonungslose und vor allem authentische Einblicke in den Alltag und die Stimmung in der Bevölkerung. Früh schon stellte Haag die Frage, mit der sich sämtliche Nachkriegsgenerationen bis heute befassen: Wie konnte sich ein ganzes Volk von einem Massenmörder verführen lassen? Wie konnte eine gebildete Nation jeden Anstand, jede Moral und jedes Gefühl für Recht und Unrecht verlieren?
Gleich der erste Eintrag am 11. Mai 1940 widmet sich diesem zentralen Thema: »Wozu wohl ein Mozart, ein Beethoven, ein Goethe gelebt und ihre Werke geschaffen haben, wenn wir Heutigen nichts anderes wissen als töten und zerstören.« Die Sozialdemokratin, die nach dem Krieg in die Politik ging, grübelte immer und immer wieder, warum Mitglieder »kultivierter, christlicher« Familien einem Diktator »glauben, der befiehlt, Juden, Polen, Russen abzuschlachten«.
Haags Urteil über ihre Landsleute fiel vernichtend aus. Im Sommer 1941 schrieb sie und bezog sich selbst ein: »Eine Anzahl armseliger, kriechender, furchterfüllter, sich unter der Peitsche seines bestialischen ›Führers‹ drückender, vor jedem eigenen Gedanken sündhaft erschreckender Sklaven sind wir!«
Haag hatte Mitte der Zwanzigerjahre zum Pazifismus gefunden, in der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, die vergebens vor neuem Säbelrasseln warnte: »Frauen, wir können uns gegen den Wahnsinn stemmen, wenn wir nur wollen.« Von der Euphorie im deutschen Volk nach Hitlers Machtübernahme ließen sie und ihr Mann sich nicht anstecken. Das Paar ahnte, was auf die Welt zukommen würde, und war heilfroh, dass zwei der drei Kinder zu Kriegsbeginn bereits im Ausland lebten. Ihr »guter Mann« sah ihrem Treiben voller Angst zu: »Er bat, er weinte, er beschwor mich, doch ›klug‹ zu sein«, um nicht von der Gestapo abgeholt zu werden.
Aber Haag, der ihre Hilflosigkeit schwer zu schaffen machte, konnte gar nicht anders, als sich Wut und Trauer über das Morden und die Erniedrigung der Juden von der Seele zu schreiben. Einmal zeigte sie sich erschüttert über ein junges Mädchen, das sich darüber beschwerte, dass manche Juden ihren gelben Stern versteckten und »andere gar so unverschämt sind, ihn mit einer Geste des Stolzes zu tragen!«.
Gerade solche Beobachtungen verleihen ihr Glaubwürdigkeit. Sie schaute nicht weg und zeigte Mitgefühl. Das Nachdenken, was sie tun könnte, verband Haag ständig mit Selbstgeißelung: »In die Markthalle gehen und von der Brüstung herunterrufen: ›Judenmörder!‹ Ach, ich bin zu feige dazu. Zu feige, um sinnlos zu sterben.«
Ungeachtet aller Verbote hörte Haag BBC. »Unser Haus ist allmählich eine richtige ›Tankstelle‹ geworden«, schrieb sie im Mai 1942. »Von überall strömen Bekannte und Bekannte von Bekannten herbei, um bei uns von Radio London Mut, Zuversicht und Wahrheit zu tanken.« Durch die Sendungen sowie durch Berichte aus ihrem Umfeld und Briefe wusste sie von den Deportationen, von den »Judenmassakern« in Osteuropa und den Konzentrationslagern, wenn auch nicht von den Gaskammern.
Immer dachte Haag über die Möglichkeit – oder besser: Unmöglichkeit – nach, Hitler zu ermorden. Ihre Ausführungen zeigen, wie engmaschig die Überwachung war und wie perfekt die NS-Propaganda funktionierte. Die Bevölkerung beschrieb sie im Mai 1942 unter anderem als »gründlich entwaffnet und so entrechtet, geknechtet, geknebelt, bespitzelt, innerlich zerrissen, misstrauisch, machtlos, heimatlos«, was jeden ernsthaften Widerstand gegen das Regime unmöglich mache: »Womit? Mit dem Schürhaken, dem Teppichklopfer? Dem Spazierstock?«
Um ihrer Verbitterung Herr zu werden, griff die Autorin zu Sarkasmus. Nach der deutschen Niederlage in Stalingrad schilderte sie Ende Januar 1943 die Gemütslage ihres Umfelds so: »Die Stimmung des ›heldischen‹ deutschen Herrenvolkes ist tief unter null gesunken! Man glaubt nicht mehr an Sieg und Fanfaren, man hat Angst, Angst, Angst.«
Zur Nazi-Mär, Russland habe mit dem Schlachten begonnen, schrieb sie voller Verachtung für den NS-Apparat: »Es war mir geschwind als – als hätte Deutschland angefangen.« Inzwischen habe sie kapiert: »Polen hat angefangen, Russland hat angefangen! Das Gesindel bekommt seinen Lohn! Weg mit ihm! Lebensraum für uns!«
Keine Verzerrung, keine Beschönigung
Besonders eindringlich sind die vielen Passagen unmittelbarer Eindrücke, etwa nach nächtlichen Fliegerangriffen, die sie als nachvollziehbare Reaktion der Alliierten auf den Bombenterror der Deutschen in Großbritannien rechtfertigte, obwohl ihr Haus selbst schwer getroffen worden war: »Verstört, zitternd, frierend warten wir auf den Tag, der das ganze Elend offenbar machen wird. Und als der Tag da war, war vieles, vieles nicht mehr. Unsere Siedlung, der nahe Wald: wie zerzaust! Grauenvoll.«
Die Tagebücher haben auch wissenschaftlichen Wert, weil Haag neben ihre Aufzeichnungen Hunderte Zeitungsausschnitte klebte und sich darauf direkt bezog. Fest steht zudem, dass die Einträge keine Verzerrungen der Erinnerung oder Verniedlichungen tragischer Erlebnisse beinhalten – und Haag sich nicht im Nachhinein zur entschiedenen Nazigegnerin stilisierte.
Die Herausgeberin schildert im Nachwort den akribischen Vergleich des handgeschriebenen, etwa 2000 Seiten starken Originals mit dem deutlich gekürzten Manuskript, das die Autorin selbst kurz nach Kriegsende diversen Verlagen erfolglos angeboten hatte. »Wir konnten nichts Beschönigendes entdecken, alles entsprach den Aufzeichnungen während des Krieges«, sagt Jennifer Holleis im SPIEGEL-Gespräch.
Auch wenn Haag keine aktive Widerstandskämpferin war, belegen viele Passagen ihren Mut. Sie nahm im Freundeskreis selten ein Blatt vor den Mund – es verwundert, dass sie der Verhaftung entging, zumal ihr Bruder glühender Nazi war. »Anna Haag war schlau. Sie wusste, wann sie sich besser zurückhielt, war sehr beliebt und geschäftig. In brenzligen Situationen wurde sie immer wieder geschützt«, so die Herausgeberin. »Und natürlich hatte sie auch einfach sehr viel Glück.«