
Flucht aus Sobibor: "Lasst die Welt wissen, was hier geschehen ist!"
KZ-Aufstand von Sobibor "Wir wollten wie Menschen sterben"
Der jüdische Schneider machte letzte Markierungen auf dem Rücken des Deutschen. Ja, hier vielleicht noch ein paar kleine Änderungen, aber eigentlich passt der neue Ledermantel dem Herrn Niemann schon ganz vorzüglich, oder? Stopp, ein paar kleine Kreidestriche noch, und jetzt bitte ganz stillhalten.
Es waren Todesmarkierungen. Sekunden später spaltete ein Axthieb dem Deutschen, Johann Niemann, den Schädel; ein weiterer Mann hatte sich von hinten an ihn herangeschlichen. Der SS-Untersturmführer war auf der Stelle tot. Seine Leiche wurde in der Schneiderei versteckt und das frische Blut mit alten Lumpen vom Boden gewischt.
14. Oktober 1943, 16 Uhr: Was nach einem hinterhältigen Mord klingt, war in Wahrheit eine Verzweiflungstat jüdischer Häftlinge im Vernichtungslager Sobibor. Mit dem Axthieb begann der größte Aufstand, der je in einem KZ stattgefunden hat. Es sollte die einzige Erhebung dieses Ausmaßes bleiben, die selbst die Nazis in ihren Akten als "Aufstand" klassifizierten. Bei keinem anderen Aufruhr wurden so viele SS-Männer an einem Tag getötet, und aus keinem Todeslager entflohen bei einer vergleichbaren Aktion derart viele Juden.
Und doch geriet die Revolte von 1943 bald in Vergessenheit: Noch heute denkt man beim Namen Sobibor zuerst vor allem an die monströse Tötungsmaschine der Nazis; an die bis zu 250.000 Juden, die dort in anderthalb Jahren getötet wurden; an den ukrainischen SS-Schergen John Demjanjuk, der für seine Verbrechen in Sobibor von einem Münchner Gericht verurteilt wurde - wegen Beihilfe zum 27.900-fachen Mord. Der Aufstand hingegen blieb wie viele Facetten des jüdischen Widerstands eher unbekannt.
Flucht vor dem sicheren Tod
Die Aufständischen kämpften um nichts Geringeres als ihre Menschenwürde: "Wir wollten nicht wie Schafe getötet werden, wir wollten wie Menschen sterben", erklärte der Überlebende Yehuda Lerner nach dem Krieg dem französischen Dokumentarfilmer Claude Lanzmann - und erzählte, wie er als 16-Jähriger zum Töten gezwungen war, um selbst zu überleben. Dass die Verschwörer ihn zu einem der wichtigsten Attentäter kürten, empfand er zeitlebens als große Ehre. "Lieber bei dem Aufstand umkommen, als im Krematorium zu enden."
Mit diesem Kampfwillen hatten die SS-Männer nicht gerechnet. Sie hatten nicht geglaubt, dass die vermeintlich minderwertigen "Untermenschen" überhaupt Widerstand leisten könnten. Und sie waren überzeugt gewesen, dass ihr System des Terrors und der Überwachung zu perfekt sei, um jemanden entkommen zu lassen. Genau in dieser Überheblichkeit hatten die Gefangenen ihre einzige, winzige Chance gesehen, dem sicheren Tod im Lager zu entrinnen.
Töten, überrumpeln, fliehen
Denn auch wenn die Arbeitshäftlinge nach ihrer Ankunft in Sobibor nicht erschossen oder vergast wurden, wussten sie, dass ihre Vernichtung fest eingeplant war. Die SS hatte sie nur vorübergehend verschont, um sie als Handwerker, Schneider oder Mechaniker auszubeuten. Es war ein Leben auf absehbar kurze Zeit. Die Arbeitshäftlinge lebten in den Lagern I und II, daneben befanden sich die Gaskammern.

Flucht aus Sobibor: "Lasst die Welt wissen, was hier geschehen ist!"
Wochenlang spielten die Verschwörer um Leon Feldhendler und Alexander "Sasha" Petchersky verschiedene Pläne durch: Sollten Jugendliche, die als Diener für die SS arbeiten mussten, ihre Herren mit Messern erstechen? Doch würden 14-Jährige dazu körperlich in der Lage sein? Oder sollte man versuchen, einen Tunnel unter dem Stacheldraht und dem dahinter liegenden Minenfeld zu graben? Aber wie hätte man wochenlang unbemerkt graben und die geschätzt 25 Kubikmeter Erde im Lager verstecken können?
Schließlich entschieden sie sich für einen Plan, der allein auf den Überraschungseffekt setzte: Binnen kurzer Zeit wollten etwa 50 Verschwörer möglichst viele SS-Männer mit den Werkzeugen der Handwerker töten. Unmittelbar danach sollte der Rest der etwa 550 Arbeitshäftlinge beim Nachmittagsappell von dem Aufstand erfahren und zur Massenflucht animiert werden. Sie sollten die Wachposten überrumpeln, das Lagertor durchbrechen und in den nahen Wald fliehen.
"Wir verließen uns auf die Habgier der Deutschen"
"Am meisten verließen wir uns auf die Habgier der Deutschen", erinnerte sich später der Aufständische Thomas Blatt. "Die Deutschen sollten zu ihren Hinrichtungen unter den Vorwänden gelockt werden, dass wertvoller Schmuck oder feine Kleidung gefunden worden sei, die sie vielleicht selbst gerne haben wollten."
Der Trick funktionierte. Als Erster lief Johann Niemann, am Tag des Aufstands Lagerkommandant, in die Falle. Um 16.15 Uhr wurde dann SS-Scharführer Siegfried Graetschus, Befehlshaber der gefürchteten ukrainischen Wachmänner, in der Schusterei von dem 16-jährigen Yehuda Lerner erschlagen. "Ich kann behaupten, dass ich ihm den Schädel spaltete, als hätte ich im Leben nichts anderes getan", sagte Lerner nach dem Krieg stolz. Als Graetschus' Stellvertreter kurz danach unerwartet die Baracke betrat, konnte auch er getötet werden.
Innerhalb von Minuten waren damit die wichtigsten Männer im Lager liquidiert worden. In der nächsten halben Stunde wurden noch weitere acht SS-Männer auf ähnliche Weise getötet. Ein tschechischer Elektriker konnte alle Telefonleitungen kappen und einem vermeintlichen Reparateur gelang es, Gewehre aus der Waffenkammer zu stehlen. Plötzlich war das KZ fast führerlos, ohne dass es die ukrainischen Wachposten an den Lagerzäunen bemerkt hätten.
Sturm auf das Lagertor
Jetzt begann die kritischste Phase des Aufstands: Um kurz vor 17 Uhr rief ein eingeweihter "Kapo", einer der privilegierten Aufseher, alle Häftlinge zum 17 Uhr-Appell. Anführer Sasha Petchersky sprang auf einen Tisch und hielt auf Russisch eine kurze Rede. "Dies war kein heroisches Anfeuern, wie man es aus Kriegsfilmen kennt", erinnerte sich Thomas Blatt später. "Seine Stimme, klar und laut, damit ihn jeder verstehen konnte, war vielmehr ruhig und gelassen." Petchersky schloss mit den Worten: "Diejenigen von euch, die überleben, können Zeugnis ablegen. Lasst die Welt wissen, was hier geschehen ist!"
Sobibor - der vergessene Aufstand: Bericht eines Überlebenden
Preisabfragezeitpunkt
04.06.2023 09.52 Uhr
Keine Gewähr
Die Wachposten konnten aus der Ferne die Rede nicht verstehen und vermuteten, dass es sich um einen normalen Appell handelte. Sie begriffen erst, als die Häftlinge das Tor und die Zäune stürmten. Etwa zur gleichen Zeit entdeckten die verbliebenen SS-Männer den ersten ermordeten Kameraden. Nun brach Chaos aus.
"Das ist mein Ende"
"Ein Kugelhagel ging auf uns nieder", berichtete Blatt nach dem Krieg. "Die Häftlinge kletterten nicht einer nach dem anderen durch die Öffnung (im Lagertor - d. Red.), sondern stiegen gleich über den Zaun. Obwohl wir vorgehabt hatten, die Minen mit Steinen und Holz zum Explodieren zu bringen, taten das nur die wenigsten; dafür war keine Zeit. Die Leute drängten mit aller Kraft in die Freiheit."
Als Blatt an der Reihe war, brach der Zaun unter dem Gewicht der Flüchtlinge zusammen und begrub den 16-Jährigen unter sich. "Erst dachte ich, das sei mein Ende", schrieb er später. "Stattdessen rettete mir dieser Zwischenfall wahrscheinlich das Leben, denn während ich im Stacheldraht festhing und die Menge über mich hinwegtrampelte, sah ich, wie die Minen explodierten und die Menschen in der Luft zerrissen wurden. Hätte ich mich nicht im Zaun verfangen, wäre ich mit ihnen umgekommen." Irgendwann war er allein unter Toten. Blatt rannte schnell durch die Minenlöcher und erreichte in der Abenddämmerung als einer der Letzten den rettenden Wald, während hinter ihm die Maschinengewehre knatterten.
Etwa 360 der 550 Flüchtlinge schafften es vermutlich aus dem Lager. 200 von ihnen erreichten das Waldstück. Nur 53 sollten die nächsten Monate überleben.
Gnadenlose Hetzjagd auf die Mitwisser
Denn nur einen Tag nach dem für die Nazis ungeheuerlichen Vorfall trafen in Sobibor 50 hochrangige NS-Funktionäre ein. Die im Lager verbliebenen oder gefangenen Juden wurden erschossen. Auf Befehl Himmlers sollte Sobibor in den nächsten Wochen komplett abgerissen, die Spuren der Tötungsfabrik sollten getilgt werden. Gleichzeitig begann mit mehr als 400 Einsatzkräften eine gnadenlose Hatz auf die flüchtigen Zeugen des Holocaust.
"Wir rannten wie die Verrückten", schrieb Thomas Blatt später in sein Tagebuch. "Jedes Mal, wenn eine niedrig fliegende Beobachtungsmaschine über unseren Köpfen kreiste, ließen wir uns flach auf den Boden fallen und deckten uns mit Zweigen zu. Bei Tageslicht warteten wir im Schutz der Bäume. Nur nachts bewegten wir uns vorwärts."
Einige verirrten sich und liefen versehentlich Richtung Sobibor zurück. Andere gerieten zwischen die Schusslinien verfeindeter Partisanengruppen oder wurden von den polnischen Bauern der Region aus Angst vor Vergeltung verraten oder aus tief verwurzeltem Antisemitismus sogar ermordet.
Und so nahm auch das Leben Leon Feldhendlers, der den Aufstand mit angeführt hatte, ein tragisches Ende: Der polnische Jude hatte das KZ überlebt, die Flucht organisiert, und 1944 den Rückzug der deutschen Besatzer gefeiert. Dann, im April 1945, wurde er von einem Landsmann erschossen - vermutlich von einem antisemitischen und antikommunistischen Freikorps-Soldaten.