Auschwitz-Überlebende Erna de Vries "Umgebracht zu werden ist etwas anderes, als zu sterben"

1943 überredete die damals 19-jährige Erna Korn Gestapo-Leute, sie nach Auschwitz zu deportieren. Sie wollte ihre Mutter nicht alleinlassen. Heute sagte sie: "Das habe ich nicht bereut. Nie! Ich hätte nie wieder froh werden können, wenn ich meine Mutter allein hätte fahren lassen."

Nur wenige können noch berichten, was wirklich im Konzentrationslager Auschwitz geschah. In dieser SPIEGEL-Serie erzählen Überlebende von ihrem Leidensweg durch den Holocaust.

Lathen im Emsland, 4. Januar. Erna de Vries, 91, lebt in einem hellen Backsteinhaus, auf einem Schrank stehen Familienfotos von drei Kindern, sechs Enkeln. 1943 hatte die damals 19-jährige Erna Korn Gestapo-Leute überredet, sie nach Auschwitz zu deportieren. Warum wollten Sie ins KZ?

Ich wollte meine Mutter nicht alleinlassen. Das war alles. Mein Vater ist schon 1930 gestorben, ich war das einzige Kind. Meine Mutter meinte, wir stünden unter einem gewissen Schutz durch meinen Vater, weil der ja kein Jude war. Um nahe bei ihr zu sein, hab ich meine Ausbildung in Köln unterbrochen und bin zurück nach Kaiserslautern gegangen.

Eines Tages kam ein Nachbar zur Gießerei, in der ich arbeitete, und warnte mich, dass bei uns Uniformierte seien. Als ich zu Hause ankam, hörte ich im Nebenzimmer, wie über Deportation gesprochen wurde. Ich holte Koffer heraus, da sagte der Beamte: "Nein, Sie nicht, nur Ihre Mutter!" Aber ich wollte doch unbedingt mit meiner Mutter zusammen sein, weil ich dachte, man kann einander helfen.

Ich habe mir vorgestellt: In zwei, drei Monaten werde ich ja doch deportiert, vielleicht sogar schon eher. Also sagte ich: "Lassen Sie mich doch mit meiner Mutter gehen!" Und er sagte: "Nein, nein, nein, das geht nicht!" Erst im allerletzten Moment sagte er: "Steigen Sie ein, aber nur bis Saarbrücken!"

Auf dem ganzen Weg bis nach Saarbrücken habe ich versucht, ihn umzustimmen. Meine Mutter neben mir weinte bitterlich, sie sagte: "Hör doch auf! Hör doch auf, du weißt doch genau, jeder Monat zu Hause kann lebensrettend für dich sein!" In Saarbrücken sagte der Beamte zur Schließerin am Gefängniseingang: "Das ist der Einweisungsschein für die Mutter, den für die Tochter bringe ich morgen." Ich konnte bei meiner Mutter bleiben. Sie war entsetzt.

Am nächsten Tag bin ich zur Gestapo gerufen worden, zu einem Herrn Zöller. Er fragte: "Sie wollen mit Ihrer Mutter?" Ich sagte: "Ja." Er sagte: "Ihre Mutter kommt nach Auschwitz." Das war für mich hart. Ich wusste sehr wohl, was Auschwitz bedeutet. Heimlich hatte ich in der BBC Berichte gehört von den Transporten in Viehwaggons, den Toten, den Schüssen auf der Rampe. Und er fragte mich noch mal: "Sie wollen also mit Ihrer Mutter?" Und ich sagte: "Wo meine Mutter hingeht, möchte ich auch hingehen." Und er sagte: "Sie wären ein schlechtes Kind, wenn das nicht so wäre." Wie zynisch! Er wusste ja, dass es unser Tod sein sollte!

Beim Tätowieren in Auschwitz haben wir noch Schimpfe gekriegt. Irgendwie hätte ich vor meiner Mutter gehen sollen, wahrscheinlich wegen des Vornamens, meine Mutter, Jeanette Korn, mit J und ich mit E. So habe ich die Nummer meiner Mutter bekommen, 50462, und sie hat meine gekriegt. Heute sehe ich die Nummer nicht mehr. Das ist, wie wenn man eine Narbe hat. Es gibt ja Leute, die sie haben wegmachen lassen. Das kann ich nicht verstehen. Es ist nicht meine Schande. Es ist die Schande derer, die tätowiert haben.

Eines Tages war Selektion. Das heißt, ein Arzt kommt und sucht aus, wer arbeitsfähig ist und wer nicht. Ich hatte eitrige Stellen an beiden Beinen. Den Schlüpfer durften wir tragen, alles andere mussten wir zusammennehmen, über den Kopf halten und in einer Reihe am Arzt vorbeigehen. Meine Mutter ging etwa 10, 15 Meter vor mir und hat nicht gemerkt, dass ich rausgenommen wurde. Sie musste ja weiterlaufen. Als sie sich umdrehte, war ich schon weggebracht auf Block 25, den Todesblock.

Wir kriegten nichts mehr zu essen, wir durften nicht mehr zu den Latrinen - da wussten wir: Am nächsten Tag ist Vergasung. Umgebracht zu werden ist etwas anderes, als zu sterben. Die Frauen haben sich die Haare gerauft, wenn sie welche hatten, haben sich zerkratzt. Ich habe gebetet: "Ich möchte leben, aber wie du willst!" Noch einmal wollte ich die Sonne sehen, solange ich lebte. Und da stieg sie über dem Nachbarblock auf.

Ich war völlig getröstet. Wir waren nackt. Die Frauen wurden auf den Wagen geprügelt. Da hörte ich auf einmal jemand meine Nummer rufen! Der SS-Mann verglich die Nummer auf meinem Arm mit der Karteikarte. Er machte die Blocktür auf, schubste mich rein und sagte: "Du hast mehr Glück als Verstand!"

Als "Mischling ersten Grades" sollte ich in Ravensbrück für die Rüstung arbeiten, im Telefon- und Mikrofonbau bei Siemens.

Aber ich wollte mich noch von meiner Mutter verabschieden. Sie hat sich gefreut, dass ich aus Auschwitz rauskam. Wir standen auf der Lagerstraße. Sie sah abgemagert aus. Wir haben uns verabschiedet in dem Wissen, dass wir uns nie wiedersehen. Wie macht man das? Auf jeden Fall nicht mit "Auf Wiedersehen". Ich erinnere mich überhaupt an kaum ein Wort. Es war tränenreich. Wir haben uns umarmt, geküsst. Und als Letztes hat sie mir gesagt: "Du wirst überleben, und du wirst erzählen, was man mit uns gemacht hat." Am 8. November 1943 ist meine Mutter gestorben.

Fast jeden Tag gibt es irgendetwas, was mich an Auschwitz erinnert. Zum Beispiel, wenn jemand ein Stückchen Brot wegwirft. Das kann ich nicht ertragen.

Ich habe keinen Hass. Wenn man Hass in sich hat, zerstört der einen selber. Ich habe das Leben gern, es ist ein Geschenk.

Ich bin damals freiwillig - gezwungen nach Auschwitz gegangen. Das habe ich nicht bereut. Nie! Ich hätte nie wieder froh werden können, wenn ich meine Mutter allein hätte fahren lassen.

DER SPIEGEL

Protokoll: Karoline Kuhla
Foto/Kamera: Dmitrij Leltschuk, Sara Naomi Lewkowicz
Video: Marco Kasang, Lorenz Kiefer, Marie Joana Loidl, Hannes Opel, Bernhard Riedmann
Illustration: Christian Eisenberg, Ludger Bollen, Elsa Hundertmark, Jens Kuppi
Dokumentation: Ulrich Kloetzer, Heiko Buschke, Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Nadine Markwaldt-Buchhorn, Margret Nitsche, Stefan Storz, Ursula Wamser
Schlussredaktion: Regime Brandt, Sylke Kruse
Programmierung: Guido Grigat
Foto- und Text-Produktion: Sabine Döttling, Philine Gebhardt, Maxim Sergienko; Gesche Sager
Koordination: Jule Lutteroth

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