
Versöhnungsversuch mit der Vergangenheit: Der Überlebende und die Aufseherin
Versöhnungsversuch mit einer ehemaligen KZ-Wächterin "Eine Mörderin, keine alte Bekannte"
Der alte Mann konnte die Tränen nicht zurückhalten. Fast 60 Jahre lang hatte Tomas Reichental geschwiegen. 2004 erzählte er in der Schulklasse seines Enkels zum ersten Mal über seine Kindheit. Seine Stimme zitterte, als er beschrieb, wie der leblose Körper seiner Großmutter fortgeschleppt und achtlos auf einen Haufen Leichen geschmissen wurde. Wie er selbst als neunjähriger Junge tagtäglich im Konzentrationslager Bergen-Belsen ums Überleben kämpfen musste.
Am Ende weinten Schüler und Lehrer mit ihm. Seit diesem Tag berichtete der Holocaustüberlebende in seiner neuen Heimat Irland Tausenden Kindern und Jugendlichen von seinem Schicksal. "Ich bin es den Opfern schuldig", meint Reichental und wendet sein Gesicht zu den alten Familienfotos an der Wand. Viele seiner Verwandten starben als Opfer der Judenverfolgung.
2012 hörte eine Irin Reichentals Geschichte im Radio. 25 Jahre lang hatte die Frau in Hamburg gelebt. Als Freundin und Nachbarin einer gewissen Hilde Michnia - die vor 70 Jahren ebenfalls in Bergen-Belsen gewesen war.
Ein Jahr später lehnte Tomas Reichental deshalb an einem Geländer am Hamburger Jungfernstieg. Ein Fernsehteam aus Irland hatte den kleinen Mann nach Deutschland begleitet. Reichental sprach in die Kamera: "Ich kam nach Hamburg, um Hilde Michnia zu treffen. Als ich ein kleiner Junge in Belsen war, war sie eine meiner Aufseherinnen. Ich kam, um ihr die Möglichkeit zu bieten, Reue zu zeigen - sich zu entschuldigen." Der Film "Close to Evil" sollte die beispiellose Versöhnung zwischen einem Opfer des Holocaust und einer Täterin dokumentieren.
Die Reise war Reichental unendlich schwergefallen. In Irland führt er ein sorgenfreies Leben: Er besitzt ein Haus in Dublins südlichem Vorstadtidyll, hat drei Söhne und Enkel. Warum trat er diese Reise nach Hamburg überhaupt an?
Eingepfercht im Viehwaggon
Geboren wurde Tomas Reichental 1935 in dem kleinen Dorf Meraice in der Slowakei. Im Oktober 1944 erlebte der Neunjährige zum ersten Mal die Brutalität der Nationalsozialisten. Mit seiner Großmutter, seiner Mutter und seinem Bruder Miki wurde er in einem kleinen Laden in Bratislava von Deutschen eingesperrt und geschlagen.
Einige Tage später fand er sich in einem Viehwaggon wieder, in dem seine Familie und Tausende anderer Juden nach Bergen-Belsen deportiert wurden. Als der Zug in Bergen-Belsen haltmachte, beobachtete Reichental den rauchenden Schornstein des Krematoriums durch kleine Spalten zwischen den Holzdielen des Waggons.
Der kleine abgemagerte Tomas hatte Glück und überlebte. Am 15. April 1945 befreite die britische Armee Bergen-Belsen. Mit ihm zusammen überlebten seine Mutter und sein Bruder. Doch 35 Familienmitglieder fielen dem Holocaust zum Opfer. Die Bilder an den Wänden seines Arbeitszimmers in Dublin erinnern an sie.

Versöhnungsversuch mit der Vergangenheit: Der Überlebende und die Aufseherin
Nach der Befreiung schwieg Tomas Reichental fast sein ganzes Leben über seine Erlebnisse im Konzentrationslager. "Nicht, weil ich nicht darüber reden wollte", erklärt der heute 79-Jährige. Er atmet tief ein und sagt mit zitternder Stimme: "Sondern weil ich es nicht konnte." Da erscheint der Wunsch dieses Mannes umso befremdlicher, sich mit einer ehemaligen SS-Aufseherin zu treffen.
Verabredung mit der Vergangenheit
Der erste Kontaktversuch scheiterte. Vermittelt hatte ihn Hilde Michnias irische Freundin. "Die Nachbarin kontaktierte mich, und wir trafen uns", berichtet Reichental. "Während unseres Treffens rief sie Hilde an - erzählte ihr, sie sei bei mir, einem ehemaligen Häftling. Ich hörte, wie Hilde fragte, ob es mir gut gehe, sie wollte mit mir reden. Ich konnte nicht antworten."
Später fasste Tomas Reichental den Entschluss, sich mit der ehemaligen KZ-Wächterin zu treffen und diese Begegnung von einem Kamerateam aufnehmen zu lassen. "In den Schulen rede ich immer von Versöhnung. Mit einem Treffen hätte ich zeigen können, was das wirklich bedeutet", sagt er. "Ich das Opfer, sie der Täter. Das wäre das erste Treffen dieser Art gewesen."
Sein älterer Bruder Miki Reichental hielt ihn für verrückt: "Warum ich sie treffen wolle, fragte er mich. Sie sei eine Mörderin und keine alte Bekannte." Aber Reichental dachte damals anders: "In meiner Naivität glaubte ich, dass sie zwar 1945 diese Person war, aber heute eine andere, und ich dazu in der Lage bin, mich mit ihr zu versöhnen. Ich wollte zeigen, dass auch sie ein Opfer ist - ein Opfer ihres Hintergrunds und der Zeit, in der wir lebten", erklärt der alte Mann und schaut über seinen Brillenrand in den grünen Garten.
Aus der Schublade seines Schreibtischs kramt Tomas Reichental die Briefe hervor, die er an Hilde Michnia geschrieben hat. Hinter ihm hängt eine eingerahmte Zeitung vom 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation. "Es ist mein großer Wunsch, einmal jemanden zu treffen, der damals 'auf der anderen Seite' stand", schrieb er nach Hamburg. "Dabei geht es mir ausdrücklich NICHT um Anklage oder Abrechnung, sondern um Versöhnung. Sowohl Sie als auch ich sind in unsere jeweilige Lebenssituation hineingeboren und entsprechend erzogen worden. Es ist viel Leid geschehen, aber man muss nach so vielen Jahren neu aufeinander zugehen." Hilde Michnia sagte zu, Reichental kam nach Deutschland.
"Nichts gesehen"
Kurzfristig ließ sie das Treffen jedoch über ihre Tochter aus gesundheitlichen Gründen absagen. Der Film "Close to Evil" dokumentierte damit lediglich eine gescheiterte Versöhnung. Nachdem der Streifen im Januar 2015 in Lüneburg das erste Mal einem deutschen Publikum vorgeführt wurde, erstattete Hans-Jürgen Brennecke Strafanzeige gegen Hilde Michnia, geb. Lisiewicz.
In den letzten Kriegsmonaten soll die heute hochbetagte Frau als Aufseherin an einem Todesmarsch aus dem KZ Groß-Rosen beteiligt gewesen sein. Von den rund zweitausend gefangenen Frauen starben dabei bis zu 1400. Im September 1945 war Michnia bereits im Lüneburger Bergen-Belsen Prozess zu einem Jahr Haft verurteilt worden - bis heute behauptet sie, von den monströsen Verbrechen im Konzentrationslager nichts gewusst zu haben. "Ach, ich habe nichts gemacht, ich war nur in der Küche", beteuerte sie Anfang dieses Jahres gegenüber der "Welt".
Tomas Reichental bereut es mittlerweile nicht mehr, dass er Hilde Michnia damals nicht getroffen hat. "Ich hätte wohl ihre Hand geschüttelt oder sie sogar umarmt, obwohl sie vielleicht nicht einmal irgendeine Form von Reue gezeigt hätte. Mir tut es leid, dass sie heute immer noch der Meinung von 1945 ist, immer noch beteuert, nichts gesehen zu haben."
Reichental hingegen berichtet in Irland Woche für Woche von den Untaten in Bergen-Belsen, die ihm und seinen Mitgefangenen angetan wurden. Im Arbeitszimmer führt Reichental Buch über seine Vorträge. "73.071 Schüler haben bisher meinen Vortrag gehört", erzählt er stolz.