
Berliner Lautsprecherkrieg: Das Dröhn-Duell an der Mauer
Berliner Lautsprecherkrieg Völkerverständigung mit 5000 Watt
Keiner der Soldaten konnte den Höllenlärm vorausahnen, der gleich über sie losbrechen würde. Die Angehörigen der DDR-Streitkräfte, die sich in der Kaserne bei Groß-Glienicke einfanden, hatten anderes im Sinn. Am 7. Oktober 1965 wollten sie hier den 16. Jahrestag der DDR feiern.
Zugleich geschah wenige Hundert Meter entfernt auf der anderen Seite der innerdeutschen Grenze Rätselhaftes: Zwischen den Baumkronen, die das Gelände des nahegelegenen Royal-Air-Force-Flugplatzes Gatow säumten, schoben sich Gestänge in den Himmel, die wie hydraulische Extremitäten eines Maschinenwesens aussahen. Nur waren an den Enden dieser Riesenarme keine Finger, sondern gewaltige Lautsprecherhörner.
Unterdessen begannen in der Kaserne die Feierlichkeiten zum Tag der Republik, mit Musik, einer Parade und Ansprachen zu Ehren des real existierenden Sozialismus. Bis die festliche Stimmung jäh unterbrochen wurde - durch eine ohrenbetäubende Trompetenfanfare von jenseits der Grenze.
Eine Stimme donnerte: "Achtung, Achtung! Hier spricht das Studio am Stacheldraht! Männer der Nationalen Volksarmee: Wer einen Menschen erschießt, begeht einen Mord. [...] Gestern früh verblutete in unmittelbarer Nähe eures Grenzübergangs ein Angehöriger der Nationalen Volksarmee. Er wurde von seinen Kameraden erschossen, nur weil er von Deutschland nach Deutschland gehen wollte. [...] Eure Schande wird um die ganze Welt gehen." Noch vier Kilometer hinter der Kaserne waren die Worte klar und deutlich zu verstehen.
Zwangsbeschallung nach Zeitplan
Es war der Höhepunkt eines Lautsprecher-Wettrüstens zwischen DDR und BRD, das schon kurz nach dem Bau der Mauer Mitte August 1961 begonnen und viele Berliner den Schlaf gekostet hatte. Mit immer lauteren Beschallungsanlagen versuchten Ost und West über Jahre, die Gegenseite zu übertönen. So bizarr wie der Wettstreit selbst war auch sein Ursprung - es hat mit einem Indianerhäuptling zu tun.
Noch am 15. Juni 1961 hatte DDR-Staatschef Walter Ulbricht behauptet: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!" Keine zwei Monate später stoppte er die Welle Tausender DDR-Flüchtlinge nach West-Berlin gewaltsam - und ließ am 13. August 1961 jene oft tödliche Barriere errichten, die Deutschland über Jahrzehnte spaltete.

Berliner Lautsprecherkrieg: Das Dröhn-Duell an der Mauer
Kurz darauf kam Bundeskanzler Konrad Adenauer am 22. August nach West-Berlin, um der Stadt seine volle Unterstützung zu versichern. Seine ernste Ansprache vor dem Brandenburger Tor wurde allerdings empfindlich gestört. Aus Lautsprechern der Ost-Grenzhüter dröhnte über die Mauer hinweg ein Schlager des US-Musikers und Soldaten Gus Backus. Seinen Hit vom alten Häuptling der Indianer hatte der DDR-Dramatiker Rudi Strahl zum Spottlied auf Berlins Bürgermeister Willy Brandt und den Kanzler umgedichtet:
Auch in Bonn Willy Brandt
Keine Hilfe nicht fand
Konrad rief ihm nur zu:
Wähl auch du CDU
Da sprach der alte Häuptling der Indianer:
Wild ist der Westen, schwer ist der Beruf!
Schon wenige Tage später ordnete Brandt die Gründung einer mobilen Propagandaeinheit an. Rund um die Uhr fuhren fortan entlang der Berliner Demarkationslinie Wagen des "Studios am Stacheldraht" (SaS).

Westberliner Beschallungsfahrzeuge im Einsatz, 1963
Foto: imago/ ZUMA/ KeystoneDie VW-Bullis mit vergitterten Fenstern und Lautsprecherbatterien auf dem Dach folgten einem strengen Zeitplan. Je 15 Minuten hielten die Redakteure vor Ost-Grenzposten und verlasen live Nachrichten und Aussagen geflohener NVA-Soldaten, umrahmt von flotter Musik. Vor allem ging es darum, Grenzer davon abzubringen, auf Flüchtende zu schießen. "Mord bleibt Mord - auch wenn er befohlen worden ist!", lautete ein Slogan.
"Det is ja furchtbar!"
Die Texte schrieben Journalisten wie Hanns-Peter Herz, Mitarbeiter des Senders Rias, mit dem Ziel, die Loyalität der Grenzer zur DDR-Obrigkeit zu untergraben. So hieß es in einer Sendung: "Fragt euch einmal, warum ihr hier stehen müsst. Eure Funktionäre sagen euch, dieser Unfug sei nötig, um den Frieden zu erhalten. [...] Das glauben nicht einmal eure Funktionäre. Wer den Frieden hier gefährdet, ist unschwer zu erkennen: Es ist Ulbricht. Er hat hier Mauern und Stacheldraht errichten lassen. [...] Er befiehlt euch sogar, auf eure eigenen Landsleute zu schießen."
Die DDR hielt dagegen: Aus 190 Lautsprechern an der Grenze schallten nun Schlager, Satiren über "Willy-Wein-Brandt" oder den "Sender Freies Baldrian", dazu Warnungen an die West-Berliner vor angeblichen Kriegsplänen ihrer Regierung. So ging das oft den ganzen Tag, auch bis spät in die Nacht.
"Wir und alle Anwohner waren vollkommen entnervt", erinnert sich Michael Klatt, der die Lärmattacken als Elfjähriger erlebte. Sein Elternhaus stand nur 100 Meter von der Grenze entfernt: "Immer haben sie diese umgetexteten Schlager gedudelt, in wahnsinniger Lautstärke. Es gab zum Beispiel den Vico-Torriani-Song 'Mimi hat 'nen Mister, fast wie ein Minister sieht der Mister aus', daraus hatten sie gemacht: 'Fast wie'n Kriegsminister sieht der Mister aus'."

SaS-Fahrzeuge, 1963
Foto: ullstein bildDie Dauerdröhnung rieb viele auf. "Det is ja furchtbar!", klagte ein Anwohner im Rias-Interview am 14. Dezember 1961. "Um acht Uhr, da haben wir uns die Ohren zugehalten, wie die Brüder hier die große Schnauze aufgerissen haben! Schlafen ist gar nicht mehr dran zu denken, wenn die anfangen." Wütende Westberliner versuchten, die Beschallung mit Hupkonzerten zu übertönen - es half nichts.
Ein Wettrüsten des SaS und der DDR-Propagandaeinheit "Studio 13. August" begann. Auch im Osten fuhren Lautsprecherfahrzeuge, im Westen spöttisch die "Roten Hugos" genannt. Per Funk koordinierte man die Einsätze an der Mauer, um ihre West-Pendants zu übertönen.
Trafen Lautsprecherkommandos aus Ost und West zusammen, konnte es zu absurden Rededuellen kommen, so ein SaS-Mitarbeiter im Oktober 1961 zum Rias: "Allerdings, mein Kontrahent, der wusste sich dann nicht mehr so recht zu helfen und machte nur noch lakonisch die Feststellung, dass ich doof sei. Seit dieser Zeit ist man drüben sehr sparsam geworden, spricht nur kurz, dann wird schnell wieder Musik gegeben."
Tränengas und Pflastersteine
Eine herbe Niederlage erlebte West-Berlin am 1. Mai 1962: Die DGB-Feierlichkeiten zum Tag der Arbeit versanken vor dem Reichstag in einer Lärmlawine aus dem Osten. Zwar hatte das SaS technisch die Nase vorn - seine Anlagen brachten es auf je 120 Phon Lautstärke, die der DDR nur auf 95 bis 105. Aber die 15 "Roten Hugos" spielten den SaS-Fuhrpark, der zunächst nur vier Bullis umfasste, an die Wand.
Ein Krisenstab aus Redakteuren und Technikern plante sofort eine Geheimwaffe, um den NVA-Soldaten Sehen und vor allem Hören vergehen zu lassen. Kosten: 320.000 DM. Die Genehmigung kam prompt. Und so wurde das SaS um vier Mercedes-Lkw mit Kränen aufgestockt, die gewaltige Lautsprecher-Batterien 13 Meter in die Höhe heben konnten. Reichweite der infernalischen Gettoblaster: über fünf Kilometer.
Der Propagandawettstreit eskalierte über verbale Auseinandersetzungen hinaus. DDR-Grenzer warfen über die Mauer Gasbomben auf SaS-Busse, westliche Einheiten schmissen ihrerseits Tränengasgranaten. Aus dem Osten trafen Pflastersteine die Bullis, Volkspolizisten richteten Wasserwerfer auf sie - und manchmal sogar ihre Maschinenpistolen. Doch es blieb bei Warnschüssen.
Zum Showdown kam es schließlich am Tag der Republik 1965 vor der Kaserne Groß-Glienicke. Um die DDR-Feierlichkeiten zu stören, fuhr das SaS noch einmal seine Fahrzeugflotte vor. "Unser Studio", sagte Redakteur Hanns-Peter Herz 2009 der "Zeit", "rückte mit einer 5000-Watt-Anlage an."
Als das Fest begann und die Beschallung startete, verstand man offenbar in der Kaserne sein eigenes Wort nicht mehr. "Die DDR musste einsehen", so Herz, "dass sie den Lautsprecherkrieg nicht gewinnen konnte." Das SED-Regime habe ab diesem Tag sämtliche Lärmkanonaden eingestellt und daraufhin auch das SaS seine Arbeit beendet. Rückblickend wunderte sich Herz selbst: "Eine wirklich merkwürdige Geschichte" sei dieser Wettstreit gewesen.
Nach vier Jahren wurde es ruhig, das SaS damit allerdings nicht arbeitslos. Es brachte seine Nachrichten fortan ganz still unter die Leute - mit fahrbaren Plakatwänden, Leuchtschriftanlagen und Dia-Projektionen. Nur manchmal, so SaS-Mitarbeiter Günter Jetschmann, hätten sie dabei noch lautstarke Antwort aus dem Osten bekommen: "Halt, nicht so schnell, wir sind noch nicht so weit!"