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Legendäre Fotografien: "Aus dem Bild, du ruinierst die Komposition"

Foto: Tim Mantoani

Legendäre Fotografien "Aus dem Bild, du ruinierst die Komposition"

Ob Johnny Cashs Mittelfinger oder Panzer auf dem Platz des himmlischen Friedens: Manche Momente brennen sich mit einem einzigen Bild ins kollektive Gedächtnis. Die Fotografen kennt fast niemand. Ein Bildband zeigt die Künstler mit ihren Ikonen - und verrät, welche Aufnahmen ein Versehen waren.

Es war ihm gelungen, seine Fotoausrüstung an den chinesischen Sicherheitsleuten vorbeizuschmuggeln. Er hatte ein Zimmer im fünften Stock des Beijing Hotel mit Blick auf den Platz des himmlischen Friedens ergattert. Dann rollten die Panzer an. Er wartete mit dem Finger auf dem Auslöser - dann war der perfekte Moment gekommen. Die Reihe der bedrohlichen Fahrzeuge durchzog das Bild im Sucher in einer tadellosen Diagonale. Doch plötzlich rannte ein Mann auf die Straße und stellte sich direkt vor die anrollenden Tanks. "Raus aus meinem Foto", war Jeff Wideners erster Gedanke, "du ruinierst die Komposition." Dann schoss er eines der bekanntesten Bilder der Welt.

Millionen kennen das Motiv des "Tank Man", der sich am 5. Juni 1989, einen Tag nach dem Tiananmen-Massaker, der Panzerkolonne entgegenstellte. Wer der Fotograf des Motivs mit den vier Militärfahrzeugen ist, wissen nur wenige.

Es ist bei Weitem nicht das einzige Bild, das zu einer Ikone der Fotografie wurde, die ihren Schöpfer überstrahlt. Etliche Bilder haben sich in unser Gedächtnis geprägt, ohne dass wir je darüber nachgedacht hätten, wer sie eigentlich gemacht hat und wie es war, in diesem Moment vor Ort zu sein.

Robert F. Kennedy, erschossen auf dem Boden der Küche des Ambassador Hotels in Los Angeles.

Muhammad Ali triumphierend über Sonny Liston gebeugt, nachdem er seinen Rivalen mit dem legendären Phantom Punch nach nur 105 Sekunden auf die Bretter geschickt hatte.

Johnny Cash, der von der Bühne des Gefängnisses von San Quentin herab mit wütender Geste seinen erhobenen Mittelfinger in Richtung Linse streckt.

Der Bildband "Behind Photographs" zeigt nun die Fotografen hinter legendären Bildern wie diesen. 157 Menschen, die normalerweise auf der anderen Seite der Kamera stehen, allesamt Meister ihres Fachs, haben sich mit ihren liebsten Aufnahmen ablichten lassen. Für den Mann hinter dem Projekt ein wahres Mammutunterfangen.

Eine Kamera als Köder

Eigentlich ist Tim Mantoani ein erfolgreicher Sport- und Werbefotograf. Seine Bilder zieren landesweite Anzeigenkampagnen oder die Verpackungen erfolgreicher Videospiele. Für Reklame und Magazine porträtierte er schon einige der bekanntesten Sportler der USA, ob Golfer, Schwimmer, Football-, Baseball- oder Basketball-Profis. Vor elf Jahren dann erkrankte Mantoani an einer seltenen Form von Knochenkrebs, die er nur mit schweren Operationen und Chemotherapie überwinden konnte. Damals sei in ihm der Wunsch entstanden, etwas Bleibendes zu schaffen, sagt Mantoani im Gespräch.

2006 begann Mantoani mit dem Projekt. Er kontaktierte die bekanntesten Fotografen der USA, darunter viele seiner persönlichen Helden - und kassierte etliche Absagen. Doch es gelang ihm auch, Dutzende Legenden unter den Lichtbildnern vor die Linse zu bekommen, die sich zuvor nur selten hatten porträtieren lassen. Über den Grund hierfür macht Mantoani sich keine Illusionen. Er hatte einen genialen Köder: eine Sofortbildkamera.


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Genauer gesagt: Ein Ungetüm von einer Sofortbildkamera. Der Apparat von Polaroid macht 50 mal 60 Zentimeter große Instantposter, es existieren nur sechs Exemplare. "Die Kamera ist eine Art Mythos in der Fotoindustrie", erklärt Mantoani, "mit ihr hatte ich die Aufmerksamkeit der Fotografen." Als etwa Pete Turner wissen wollte, warum Mantoani ausgerechnet mit dieser Kamera arbeitet, fragte der nur, ob Turner hier wäre, wenn er digital fotografieren würde. "Nein", antwortete der 78-Jährige, "ich werde ständig gefragt, ob ich mich porträtieren lassen würde. Und ich habe mich bei niemandem außer dir zurückgemeldet."

Das exklusive Format hat seinen Preis. Schon zu Beginn des Projekts kostete jede Aufnahme 75 Dollar. Seit vor zwei Jahren Polaroid die Produktion einstellte, schossen die Preise auf 200 Dollar pro Bild. Bei 157 Porträts und bis zu acht Aufnahmen pro Sitzung kostete sein Projekt Mantoani ein stattliches Vermögen. Dafür wurden die Sessions zu spannenden Geschichtsstunden, bei denen der junge Fotograf die Storys hinter vielen berühmten Bildern erzählt bekam.

"Wer sind die Beatles?"

"Diese Menschen trafen Elvis, die Beatles und Johnny Cash nicht nur, um schnell ein Foto zu schießen. Oft gingen aus diesen Treffen auch Freundschaften hervor", schwärmt Mantoani und erzählt begeistert, wie Harry Benson erst überhaupt keine Lust gehabt habe, die Beatles zu fotografieren. "Eigentlich wollte er grad nach Afrika, um dort einen Auftrag für seine Zeitung zu erledigen. Als sein Redakteur anrief und ihm sagte, er solle nach Paris fliegen, um die Beatles zu fotografieren, fragte Harry nur: Wer sind die Beatles?"

Im dem Pariser Hotelzimmer schoss er dann das berühmte Bild, auf dem die Fab Four sich eine hysterische Kissenschlacht liefern. Sie hatten gerade erfahren, dass "I Want to Hold Your Hand" auf Platz eins der US-Charts gelandet war. Das Foto der brandneuen Stars machte auch Harry Benson berühmt. Er freundete sich mit der Band an, begleitete die Beatles auf ihrer Tour durch die USA. Heute zählt er zu den großen Dokumentaren der Musikgeschichte.

Muss man also nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, um ein Foto zu schießen, das Geschichte schreibt? Mantoani widerspricht heftig: "Es reicht nicht, da zu sein. Du musst da sein. Wenn du nicht im richtigen Moment die Kamera in der Hand hast, wenn du den Auslöser eine Sekunde zu spät drückst, hast du das Bild nicht." Ein gutes Beispiel hierfür sei das Bild von Nick Ut. Auch er hat eines dieser Bilder gemacht, die man nicht mehr vergisst. Es zeigt die schreienden vietnamesischen Kinder, die am 8. Juni 1972, nach einem Napalm-Angriff der US-Truppen in Panik aus ihrem Dorf fliehen.

"Meist", so Mantoani, "wird eine beschnittene Version des Bildes gezeigt." Zum Shooting brachte Ut das ganze Foto mit. Auf diesem sieht man am rechten Straßenrand einen Fotografen, der gerade seinen Film wechselt. Dies sei ein klassisches Beispiel dafür, dass ein anderer da war, genau an dem Ort, genau in diesem Moment, der das Bild nicht bekam. "Und das war nicht irgendjemand", so Mantoani, "sondern David Burnett, selbst ein unglaublich bekannter Fotojournalist."

Projekt mit Verfallsdatum

Auch Burnett ließ sich von Mantoani porträtieren. Die Bilder wurden dabei stets zu Kooperationen. Denn die Sofortbilder aus der riesigen Polaroidkamera brauchen vom Abdrücken bis zum fertig entwickelten Bild nur 90 Sekunden. So schaute er mit einigen der bekanntesten Fotografen der USA auf seine Porträts und hörte sich umgehend ihre Kritik an. Für Mantoani kein Problem. Als er etwa Steve McCurry ablichtete, sagte dieser zu ihm, dass es vielleicht gut wäre, die Kamera eine Spur anders auszurichten. Dann habe er sich sofort entschuldigt: "Es ist dein Bild. Ich sollte gar nichts sagen."

Doch McCurry ist einer der angesehensten Porträtfotografen. Sein Bild des "Afghanischen Mädchens" mit den intensiv strahlenden grünen Augen ging in den achtziger Jahren um die Welt und gilt bis heute als eines der besten Porträts der Geschichte. Mantoani nahm McCurrys Rat mit Vergnügen an.

Tim Mantoanis Projekt "Behind Photographs" ist in Umfang und Art einzigartig und wird es gewiss auch bleiben. Obwohl es noch einige Fotografen gäbe, die er gerne fotografieren würde, will er nun erst mal versuchen, die gigantische Summe, die er in den letzten Jahren investiert hat, irgendwie wieder hereinzubekommen. "Sonst würde meine Frau mich umbringen."

Doch das Projekt hat auch ein natürliches Verfallsdatum. Dadurch, dass Polaroid seine Produktion eingestellt hat, gibt es nur noch sehr begrenzte Bestände des Materials für die Riesensofortbilder. "In ein oder zwei Jahren wird nichts mehr davon übrig sein", meint Mantoani. Zum Glück hatte der Fotograf seine phantastische Idee zum richtigen Zeitpunkt. Mantoani war nicht nur da. Er war da.

Zum Weiterlesen:

Tim Mantoani: "Behind Photographs: Archiving Photographic Legends". Channel Photographics, 2012, 208 Seiten.

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