
Legendäre Verbrechen: Die Erfindung des Getaway-Cars
Legendäre Verbrechen Die Erfindung des Getaway-Cars
Der mächtige Motor heulte und die Ballonreifen quietschten, als der schwarz-grüne Luxusschlitten vom Typ Delaunay-Belleville vor dem Haus Nummer 148 in der Pariser Rue d'Ordemer mit einem Satz anfuhr. Auf dem Trottoir lagen ein Geldbote und ein Sicherheitsmann in ihrem Blut, mit Schüssen niedergestreckt von einem der drei Männer, die sich nun in dem schweren Wagen zu fliehen anschickten. Dann sprang einer der Räuber unvermittelt wieder aus dem Fond und feuerte aus einer Pistole in Richtung herbeieilender Passanten. Er griff die Umhängetasche des Boten, die beim Einsteigen aus dem Wagen gefallen war, und hechtete wieder hinein. Dann raste die Limousine in hohem Tempo davon.
Der Coup, der an diesem 21. Dezember 1911 beinahe zur Posse geraten wäre, schrieb Geschichte: Er gilt heute als das erste Verbrechen überhaupt, bei dem ein Automobil eingesetzt wurde - sozusagen die Geburtsstunde des Fluchtwagens, ohne den seither kein halbwegs gut organisierter Raub mehr auskommt und der zahllose Hollywood-Filme um spektakuläre Verfolgungsjagden bereichert hat.
Damals allerdings war die Verfolgungsjagd noch ziemlich langweilig. Die französische Polizei nämlich musste bei der Hatz auf die bald als "Autobanditen" bekannten Gangster ganz auf Lowtech vertrauen - zu Pferde und per Fahrrad nahmen Beamte erfolglos die Nacheile auf, als die motorisierten Übeltäter drei Monate später nach einem Banküberfall wieder einmal davonrauschten, denn die französische Polizei verfügte landesweit über gerade einmal vier Kraftwagen. Die Dienstanweisung, wonach die Reifen fliehender Automobilisten mit dem Dienstsäbel zu zerstechen seien, erwies sich gleichfalls als ziemlich unpraktikabel - zumal die Gangster den Beamten auch waffentechnisch voraus waren: Sie setzten hochmoderne Repetiergewehre für ihre Überfälle ein.
Bunte Truppe aus Berufsrevolutionären und Kleinkriminellen
Als Kopf der Bande galt bald ein gewisser Jules Bonnot - spätestens, seit der Gangster gänzlich unverfroren in der Redaktion der auflagenstarken Pariser Tageszeitung "Le Petit Parisien" zum Interview erschien. Bonnot, geboren 1876, stammte aus kleinsten Verhältnissen, doch wegen seines Faibles für teure Kleidung riefen seine Komplizen ihn gleichwohl "Le Bourgeois". Mit 17 war er zum ersten Mal ins Gefängnis gewandert, weil er einen Polizisten verprügelt hatte. Auch sonst war Bonnot überall angeeckt, nicht zuletzt, weil er politisch mit dem Anarchismus sympathisierte. Mehrfach verlor der geschickte Techniker deswegen seine Stellung, dann ließ er sich 1906 als Mechaniker in Lyon nieder - seine Werkstatt diente allerdings hauptsächlich als Tarnung für seine nächtliche Nebentätigkeit als Tresorknacker.
1910 zog es Bonnot kurzzeitig nach London, wo er als Chauffeur für den Kriminalschriftsteller Sir Arthur Conan Doyle, Erfinder des genialen Privatdetektivs Sherlock Holmes, gearbeitet haben soll. Vielleicht kam ihm dort die Idee zu motorisierten Verbrechen - jedenfalls beging er im November 1911, nach seiner Rückkehr aus England, in einem Automobil seinen ersten Mord: Weil die Polizei ihm auf die Pelle rückte, setzte sich Bonnot im geklauten Kraftwagen mit fünf Brownings im Gepäck nach Paris ab - und erschoss unterwegs kurzerhand seinen Assistenten Platano, der eine Erbschaft von 40.000 Francs bei sich hatte. Bonnot behauptete später, Platano habe sich versehentlich selbst mit der Schusswaffe verletzt, er habe ihn nur von seinem Leiden erlöst.
In Paris kam Bonnot bei einem buntgescheckten Haufen von Anarchisten unter, die der Theorie der "individuellen Wiederaneignung" anhingen - sprich: die sich ihren Lebensunterhalt zusammenklauten. Bald überzeugte der Mittdreißiger Bonnot mehrere der oft noch jungen Mitglieder des obskuren Zirkels, dass man mit modernen Waffen und fahrbaren Untersätzen ein größeres Rad drehen könne - die Geburtsstunde der "Bonnot-Bande". Die bestand schließlich aus rund zwanzig Mitgliedern - aus Frankreich, Italien, Belgien und Russland, darunter Fahnenflüchtige und Berufsrevolutionäre ebenso wie Berufseinbrecher, Fälscher und ein tuberkulosekranker Lebensmittelhändler. Neben dem Namensgeber wurden Raymond Callemin, genannt "Raymond der Wissenschaftler", und der Ex-Schlachter Octave Garnier zu Köpfen der Gang - beide Kleinkriminelle, die unter dem Einfluss anarchistischer Ideen zu strengen Vegetariern geworden waren, bevorzugt ungeschälten Reis aßen und nur Wasser tranken.
"Ich werde ihren Sieg teuer machen"
Ihren größten Coup landete die seltsame Truppe am 25. März 1912. An diesem Tag kaperten fünf Bandenmitglieder auf offener Straße zunächst eine schwere Limousine vom Typ De Dion Bouton. Bandenchef Bonnot wedelte mitten auf der Straße mit seinem Schnupftuch, der irritierte Fahrer hielt an - und wurde von Garnier und Callemin kaltblütig erschossen. Es war das wohl erste Carjacking der Geschichte. Kurze Zeit später stürmten die Ganoven in Chantilly im Norden von Paris die dortige Niederlassung der Bank Société Générale, erschossen drei Bankbeamte und türmten mit 50.000 Francs Beute in ihrem luxuriösen Achtzylinder.
Die öffentliche Reaktion war ungeheuer, die Medien überschlugen sich - zumal Garnier die Polizei wenige Tage zuvor in einem Brief an die Zeitung "Le Matin" für unfähig erklärt und orakelt hatte: "Ich weiß, dass ich besiegt und der Schwächste sein werde, aber ich werde sie dafür gut bezahlen lassen und ihren Sieg teuer machen." Das Schreiben war mit seinem Fingerabdruck unterzeichnet worden. Diese Provokation kam endgültig einer Kriegserklärung an den französischen Staat gleich. Und der warf nun seine Maschine an: Für die Polizei wurden 800.000 Francs zusätzlich bereitgestellt, die Fahndung wurde auf die Pariser Anarchistenzirkel konzentriert. Die beraubte Bank setzte zusätzlich ein Kopfgeld von 100.000 Francs für die Ergreifung der "Autobanditen" aus.
In den folgenden vier Wochen fiel tatsächlich ein Gang-Mitglied nach dem anderen in die Fänge der Sûreté, darunter auch Raymond Callemin. Am 24. April sollte es Bonnot selbst an den Kragen gehen. Doch als der stellvertretende Polizeichef von Paris den Gangster im Vorort Ivry-sur-Seine im Pariser Süden persönlich festnehmen wollte, schoss Bonnot sofort. Während der Präfekt tödlich getroffen darniedersank, entkam Bonnot über die Dächer. Seine Tage allerdings waren gezählt. Selbst durch Schüsse verwundet, musste der Bandenchef medizinische Hilfe suchen. Der Apotheker, dem er weiszumachen versuchte, er sei von der Leiter gefallen, hatte allerdings schon von der Schießerei in Ivry gehört und informierte die Polizei. Mit einem Großaufgebot durchkämmte die daraufhin die Gegend und stellte den Flüchtigen schließlich im nur sechs Kilometer entfernten Choisy-le-Roi, nordöstlich des heutigen Flughafens Paris-Orly.
Allein gegen alle
Nur dachte Bonnot nicht daran aufzugeben. Er verschanzte sich, bis an die Zähne bewaffnet, in einem freistehenden Haus. Der folgende Showdown währte volle neun Stunden. An die 500 Soldaten und Gendarme, eine volle Kompanie der Republikanischen Garde mit einem hochmodernen Hotchkiss-Maschinengewehr, zahlreiche Jäger und Mitglieder eines Schützenvereins belagerten den eingekreisten Outlaw. Zu ihnen gesellten sich immer mehr Schaulustige, bald waren es Tausende - manche Angaben sprechen von 30.000 Menschen.
Bonnot blieb locker. Gelegentlich zeigte sich der Gangster ostentativ auf der Freitreppe und gab ein paar Schüsse ab, nur um rechtzeitig wieder hinter den Mauern zu verschwinden und dort - wie sich später herausstellte - in aller Ruhe sein Testament zu verfassen. Polizeipräfekt Lépines ließ schließlich einen mit Dynamit beladenen Pferdekarren an das Haus heranführen. Die Explosion verletzte Bonnot schwer, aber er gab nicht auf. Zum Schutz eingerollt in eine dicke Matratze, schoss er weiter auf die nun heranstürmenden Polizisten, bis eine Kugel seinen Kopf traf. Er starb wenig später im Krankenhaus.
Es war noch nicht das Ende des Dramas. Keine drei Wochen später wiederholte sich die Geschichte, als die beiden letzten noch flüchtigen Mitglieder der Bonnot-Bande, Octave Garnier und René Valet, in einem westlichen Pariser Vorort aufgestöbert wurden. Wieder verschanzten sich die Banditen, wieder zogen Armee und Polizei auf, wieder versammelten sich Gaffer, wieder wurde das Versteck in die Luft gejagt und die Verbrecher aus nächster Nähe erschossen. Es heißt, dass die Polizei ihre Leichen anschließend mit Gewalt vor dem wütenden Mob schützen musste.
Die beiden spektakulären Shootouts erregten Frankreich und ganz Europa. Der gesamte Ablauf war von Pressefotografen in allen gruseligen Details festgehalten worden, die Sensationsbilder fanden in Zeitungen und als Postkarten reißenden Absatz. Die Staatsmacht, die sich so lange und so mächtig hatte düpieren lassen, kam in der öffentlichen Meinung nicht gut weg. "Es war der erste Sieg der französischen Armee seit Sedan", ätzte Schriftsteller und Journalist Jean Galtier-Boissière. Die übrigen, bereits gefassten Bandenmitglieder wurden im Februar 1913 abgeurteilt, drei starben unter der Guillotine.