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Montagsdemonstrationen: Als das Volk sich gegen den Staat stellte

Foto: Marko Lakomy

Leipzig, 9. Oktober 1989 "Wir sind das Volk!"

Zwei Tage nach dem 40. Geburtstag der DDR stehen sich in Leipzig 70.000 Demonstranten und 8000 schwerbewaffnete SED-Kader gegenüber. Einen Moment droht die friedliche Herbstrevolution in Ostdeutschland in einem Blutbad erstickt zu werden.

Erich Honecker geht es nicht gut. Dem Mann mit den vielen langen Titeln - Generalsekretär der SED, Staatsratsvorsitzender der DDR, Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR - steht ein weiterer Demonstrations-Montag in Leipzig bevor. Zwar wird am Abend im DDR-Fernsehen Karl-Eduard von Schnitzler, Moderator der Propaganda-Sendung "Schwarzer Kanal", die Machenschaften der BRD entlarven, deren Hetzkampagne tausende DDR-Bürger zur Flucht verleitetet. Aber was würde sonst noch an diesem 9. Oktober 1989 geschehen?

Auch von seinem Gallenleiden abgesehen sind diese Herbsttage für Honecker bitter - dabei hatte er sich alles so schön vorgestellt. Am 7. Oktober war der 40. Gründungstag der DDR gefeiert worden, mit Volksfesten und Gästen aus aller Herren Länder. Billiges Bier und Bockwürste fürs Volk hatte es gegeben und Festakte zu Ehren des "Sozialismus in den Farben der DDR" im Berliner Palast der Republik.

Vor dem aber waren Tausende von Menschen aufmarschiert und hatten "Gorbi, Gorbi hilf uns!" gerufen. Das hatte seinem höchsten Gast gegolten, Michail Gorbatschow, dem Chef des kommunistischen Blocks und zugleich reformwilligen Hoffnungsträger. Ähnliches war in Dresden, Plauen, Leipzig, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg und sogar im kleinen Arnstadt vorgefallen.

Zukunftsraubende Misere des Sozialismus

Honecker weiß wohl, dass die Hochrufe der Menschen für Gorbatschow zugleich der Schrei nach Reformen seines eigenen erstarrten Regimes sind. Und der Mann aus Moskau, der doch den SED-Sozialismus mit der ganzen Macht der Sowjetunion hätte schützen sollen, hatte ebenfalls Veränderung angemahnt: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", so oder so ähnlich hatte er es Honecker am Jubeltag des ersten deutsche Arbeiter- und Bauernstaates gesagt.

Tags darauf, der hohe Gast ist noch nicht abgeflogen, erlässt Honecker einen Befehl an die Bezirksleitungen der SED: Es seien neue "Krawalle" zu erwarten, die Bezirkseinsatzleitungen mögen zusammentreten. Die Chefs von Volkspolizei samt den Kampfgruppen von SED, Volksarmee und Staatssicherheit sollen weitere "Zusammenrottungen" von "Randalierern" in Leipzig schon "im Entstehen verhindern".

Das stolze Leipzig, einstmals geprägt von Bürgersinn, Hochkultur wie einer selbstbewussten Arbeiterbewegung, ist in den Jahren kommunistischer Herrschaft dem architektonischen Verfall preisgegeben, seine Luft vergiftet und sein Geist geknebelt. Trotz allem regt sich in der Stadt sächsischer Fleiß und ein Schuss Weltoffenheit. Seit Anfang September 1989 sind die montäglichen Friedensgebete in der Nikolaikirche Fokus einer wachsenden DDR-Opposition. Ausreiseantragsteller, die das Land verlassen und Oppositionelle, die es demokratisieren wollten, finden unter dem Dach dieser Kirche des Pfarrers Christian Führer zusammen.

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"Wir wollen raus!" lautet die Parole der einen, "Wir bleiben hier!" der Slogan der anderen. Aber beide Gruppen wissen, dass die Misere des Sozialismus allen miteinander die Zukunft raubt. Nach den ersten größeren Friedensgebeten haben Sicherheitskräfte die anschließenden Demonstrationen gewaltsam aufzulösen versucht und viele Menschen verhaftet. Dennoch sind am 25. September wie am 2. Oktober mehrere tausend Menschen gekommen, die Polizeiexzesse dabei lösen Proteste von Oppositionellen in der ganzen DDR aus.

Schützenpanzer und Blutkonserven

Am 6. Oktober dann stellt die SED-Führung ihren Untertanen ein berühmt gewordenes Ultimatum, in Form eines Zeitungsartikels: Gegen die "gewissenlosen Elemente", die kirchliche Veranstaltungen missbrauchten, ließen die Herrschenden dort einen Kampfgruppenkommandeur schreiben, müssten die "Werte und Errungenschaften des Sozialismus" geschützt werden: "Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!" Diese Drohung wird verstanden, nicht nur in Leipzig. Immer hat die SED Gewalt angewendet, wenn es um ihre Macht ging: Sie hat schießen lassen am 17. Juni 1953 und sie lässt schießen an der innerdeutschen Grenze. Gerade in den ersten Oktobertagen hat sie mehr als 3000 Menschen prügeln und verhaften lassen, viele von ihnen schwer misshandelt.

Voller Sorgen rechnen die Menschen mit dem Schlimmsten. Am Abend des 8. Oktober sendet der Kölner Deutschlandfunk ein Interview mit Christa Wolf. Sie will vermitteln, zur Gewaltlosigkeit und Geduld mahnen, fordert Dialog. In Leipzig sind derweil Polizei, Armee, MfS und Kampfgruppen bereitgestellt. Die Bürger sind aufgefordert die Innenstadt zu meiden, Gerüchte über bereitgestellte Krankenhausplätze und Blutkonserven gehen um.

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Montagsdemonstrationen: Als das Volk sich gegen den Staat stellte

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Vieles der Vorbereitungen bekommen die Leipziger mit - wenn sie auch nicht im Detail wissen, dass 6000 Mann mit Wasserwerfern, LKW mit Sperrschilden, Schützenpanzerwagen und anderem Gerät bereit stehen. Hinzu kommen 5000 so genannte "gesellschaftliche Kräfte": zuverlässige SED-Genossen, die auf Demonstranten einwirken sollen.

Ein Bischof zwischen den Fronten"

Seit dem Vormittag des 9. Oktobers versuchen verschiedene Initiativen in Leipzig ihrerseits, der Gewalt vorzubeugen. Die Oppositionsgruppe "Neues Forum" ruft zur Friedfertigkeit auf und warnt vor Provokationen. Ein Appell von Leipziger Menschenrechtsgruppen mahnt beschwörend:

"Enthaltet Euch jeder Gewalt! Durchbrecht keine Polizeiketten, haltet Abstand zu Absperrungen! Greift keine Personen oder Fahrzeuge an! Werft keine Gegenstände und enthaltet Euch gewalttätiger Parolen! Seid solidarisch und unterbindet Provokationen! An die Einsatzgruppen appellieren wir: Enthaltet Euch der Gewalt! Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt! Wir sind ein Volk!"

Auch der sächsische Landesbischof Johannes Hempel bemüht sich um Deeskalation. Gegenüber hohen SED-Funktionären kündigt er an, am Friedensgebet in der Nikolaikirche teilzunehmen. Der Staat müsse mit den Menschen reden, Drohungen seien ungeeignet. Gespräch oder Gewalt, das seien die Alternativen, sagt der Kirchenmann. Er verweist darauf, dass am Vortag in Dresden ein friedlicher Weg aus der Konfrontation gefunden worden ist.

"Genossen, heute ist Klassenkampf!"

Hempels Verhandlungspartner sagen zu, am nächsten Tag Gespräche mit der Opposition zu führen - wenn der Bischof im Gegenzug die Montagsdemonstranten überredet, friedlich nach Hause zu gehen. Gegen 14.00 Uhr beziehen die Sicherheitskräfte Stellungen. "Genossen, heute ist Klassenkampf!", werden sie zuvor noch einmal instruiert.

Um 17 Uhr beginnen die Friedensgebete in den vier überfüllten Gotteshäusern der Leipziger Innenstadt. Der Bischof eilt von Kirche zu Kirche, mahnt zur Gewaltlosigkeit und berichtet von der Gesprächszusage der SED-Genossen. Zugleich fordert er ein Ende der staatlichen Zensur und die Freilassung der Verhafteten.

Auch die Friedensgebete selbst nehmen die Angst vor der drohenden Gewalt auf. Die Predigten thematisieren den Sinn freien bürgerschaftlichen Engagements: "Durch Geduld wird ein Fürst überredet, und eine linde Zunge zerbricht Knochen!", heißt es in einem Andachtstext. "Es wird ein langer Weg, es wird ein schwerer Weg. Es wird an Knüppeln nicht fehlen, die man uns über den Kopf schlagen oder zwischen die Beine werfen wird, doch dieser Weg kann nicht zurückgegangen werden", predigt ein anderer Pfarrer: "Wir haben begonnen abzutun, was kindlich ist. Wir werden laufen und laufen und laufen und werden uns nicht wieder wie Kinder behandeln lassen."

Die "Sechs von Leipzig"

Als die Menschen aus den Kirchen strömen, trauen sie ihren Augen nicht: Rund 70.000 Demonstranten verstopfen den Leipziger Innenstadtring. Die Marschierer rechnen noch damit, dass geschossen wird, doch mit jeder Minute verfliegt die Angst. "Wir sind das Volk!" schallt es aus der Masse, und: "Keine Gewalt!"

Dann verbreitet sich über den Stadtfunk rasch eine aufregende Neuigkeit: Der Gewandhaus-Kapellmeister Kurt Masur, der Theologe Peter Zimmermann und der Kabarettist Bernd-Lutz Lange haben gemeinsam mit drei SED-Bezirkssekretären einen Aufruf verfasst. Die "gemeinsame Sorge" habe sie "zusammengeführt", um eine "Lösung" zu suchen, heißt es darin. Und die Unterzeichner versprechen, sich "dafür einzusetzen, dass dieser Dialog" auch "mit unserer Regierung geführt wird."

Das Eis zwischen Volk und Staat scheint gebrochen, der Dialog begonnen. Geschickt zielt der Aufruf der "Sechs von Leipzig" einerseits auf die Friedfertigkeit der Demonstranten. Andererseits bietet er der SED einen Weg zum Gewaltverzicht ohne Gesichtsverlust. Bei vielen Montagsdemonstranten erweckt die Erklärung den Eindruck, dass sich der Staatsapparat für ein gewaltloses Vorgehen entschieden hat, zumal hohe SED-Funktionäre unter den "Sechs" sind.

Später Rückruf aus Berlin

Davon allerdings kann keine Rede sein: Helmut Hackenberg etwa, der Befehlshaber der Bezirkseinsatzleitung, hatte sich aus den Gesprächen für den Aufruf bewusst herausgehalten.

Entscheidend für den Gewaltverzicht des SED-Regimes ist etwas ganz anderes: die Überraschung, geradezu die Überrumpelung, der Sicherheitsorgane angesichts der ungeheueren Menschenmenge am 9. Oktober, die die der vorangehenden Demonstrationen um ein Vielfaches übersteigt. Polizeiliche Maßnahmen wie Abdrängen, Umleiten, Spalten, Verhaften müssen angesichts der schieren Menschenzahl scheitern.

So wird der Einsatz der Truppen zunächst verschoben, Hackenberg will sich in Berlin rückversichern. Doch Honecker ist nicht erreichbar; Hackenberg spricht kurz mit Krenz, der um Bedenkzeit bittet. Erst gegen 19.15 Uhr ruft Krenz zurück - und billigt den Gewaltverzicht.

Mit der Kamera auf dem Kirchturm

Die Nachricht, dass die Leipziger Demonstration friedlich verlaufen ist, löst im ganzen Land eine kaum zu beschreibende Freude aus. An diesem Abend jubeln in der Gethsemanekirche in Ost-Berlin, dem Zentrum der Opposition in der "Hauptstadt der DDR", über eintausend Besucher. In der Nacht gehen die Bilder aus Leipzig um die Welt.

Das bundesdeutsche Fernsehen, dessen Korrespondenten in Leipzig nicht drehen durften, hatte die Aufnahmen von dem oppositionellen Filmer Siegbert Schefke bekommen, dem es gelungen war, seine MfS-Verfolger abzuschütteln. Mit einer Videokamera filmte Schefke den Demonstrationszug vom Turm der Reformierten Kirche am und gab die Filmkassetten anschließend sofort weiter.

Mit dem friedlichen Ausgang war die SED noch längst nicht entmachtet. Aber dieser Tag hat sich in die Erinnerung vieler Beteiligter in Leipzig wie der vieler Zuschauer in Ost und West als Schlüsseldatum der friedlichen Revolution von 1989 festgesetzt. "Der Tag der Deutschland veränderte", hieß später ein Buch über die Ereignisse. Doch weitere wichtige Tage sollten folgen, voran der 9. November mit dem Mauerfall.

Die Helden von Leipzig

Wem ist der friedliche Verlauf des 9. Oktober zu verdanken? Die glücklichen Leipziger erwählten früh den Dirigenten Kurt Masur von den "Sechs von Leipzig" zu ihrem Wundertäter. Eine Frau schrieb: "Im Namen meiner Kinder, meiner Familie und meiner Freunde bedanke ich mich bei Ihnen, dass sie uns das Leben gerettet haben!" Als seine persönliche Leistung sieht den friedlichen Verlauf des 9. Oktober vor allem Egon Krenz. Doch das trifft ebenso wenig zu, wie spätere Behauptungen, es habe Absprachen zwischen Staatsmacht und Demonstranten gegeben.

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Strategisch Handelnde gab es letztlich nicht. "Jeder von den Politikern, der jetzt in Anspruch nehmen will, dass er das verhindern wollte, dem kann man nur sagen, es wurde ja nicht verhindert, dass die Menschen in Todesangst auf die Straße gegangen sind", resümierte Kurt Masur rückblickend: "Sonst hätte man ihnen ja vorher am Fernsehschirm sagen können: 'Hört zu Leute, wir sprechen mit euch, wir tun nichts'. Das hat man nicht getan, man hat gehofft, dass allein die Drohung ausreichen würde, um die Menschen wieder zur Raison zu bringen. Und allein das war ein Verbrechen, allein das war unmenschlich."

Ausschlaggebend waren 70.000 Demonstranten und die Aussicht auf ein nie dagewesenes Blutbad, die die Leipziger Befehlshaber zögern ließen, bis keine andere Option als das Nachgeben mehr möglich war. Die wahren Helden von Leipzig waren Bürger, die sich von den Kommunisten nicht mehr knechten lassen wollten.

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