
Hausbesetzer in London: "Wir wählten es aus, weil es nett aussah"
London in den Siebzigern Einzug mit Stemmeisen
"Bin ich hier sicher vor der Polizei?" Die WG-Bewohner waren verblüfft über die komische Frage des burschikosen Mädchens, das da in der Tür stand und bei ihnen einziehen wollte. Eine junge Deutsche, 26 Jahre alt, kaum Gepäck dabei. Nur mit einer Adresse in der Tasche war Astrid Proll im August 1974 nach London gekommen. Sie suchte eine Bleibe, wollte möglichst wenig Aufsehen erregen. Sie war auf der Flucht. Ein Mann hatte sie mit nach Camden Town genommen.
In einem Squat, einem illegal bezogenen Haus im Norden der britischen Metropole, konnte sie bleiben. Es war ein idealer Ort - denn hier fragte niemand nach Papieren. Die junge Deutsche war mit einem gefälschten Pass eingereist. Sie wurde per internationalem Haftbefehl gesucht - als "anarchistische Gewalttäterin" der Baader-Meinhof-Gruppe. 1970 hatte sich die Architektentochter aus Kassel der RAF angeschlossen, rund ein Jahr später war sie in Hamburg festgenommen worden. 1973 hatte sie wegen Mordversuchs und Bankraubs in Frankfurt vor Gericht gestanden, war aber wegen lebensbedrohlicher Kreislaufstörungen aus der Haft entlassen worden - und verschwunden. Nun würde sie in der Londoner Hausbesetzerszene untertauchen.
Die britische Metropole befand sich zu dieser Zeit in einer Art Belagerungszustand. Die Squatter, Londons Hausbesetzer, hatten sich genommen, was man ihnen nicht hatte geben können: Mietshäuser, Villen, leer stehende Ladenlokale. Nach Jahren verfehlter Wohnungsbaupolitik war die Stadt in Aufruhr: Noch Ende der sechziger Jahre hatten Zehntausende Londoner Familien in Slums und provisorischen Wohlfahrtsunterkünften gehaust. Die baufälligen Quartiere waren geräumt worden, doch mit dem Bau neuer Wohnungen kam die Stadt nicht nach. Gleichzeitig standen viele Häuser leer - Objekte von Immobilienspekulanten. In der Bevölkerung wuchs der Unmut, auch darüber, dass vor allem historische Altbauten abgerissen werden sollten. Squatter versuchten, dies zu verhindern, und sie ermunterten Obdachlose, dort einzuziehen. Etwa 30.000 Häuser waren so Mitte der siebziger Jahre in ihrer Gewalt. Sobald ein Gebäude geräumt wurde, bezogen die Squatter ein anderes. Londons Polizei kapitulierte.
Frei, illegal, glücklich
Proll kamen diese Umstände nicht ungelegen. "London war eine Befreiung, die Stadt ein Glücksfall für mich", erinnert sich die heute 63-Jährige, "in diesem riesigen multikulturellen Konglomerat, in dem man nicht einmal einen Ausweis brauchte, fiel ich nicht weiter auf."
Die ehemalige RAF-Aktivistin lässt die Epoche noch einmal aufleben. In ihrem 2010 im Hatje Cantz Verlag erschienen Buch "Good bye to London" hat sie bislang unveröffentlichte Fotos aus jener Zeit zusammengetragen, sie lässt Zeitzeugen zu Wort kommen und entwirft das Bild einer "Gegenkultur" der siebziger Jahre, die in der kollektiven Erinnerung zwischen 68er-Revolte und dem 1976 beginnenden Punk "zu unrecht" zurückstehe. Denn genau diese Phase sei "für die Liberalisierung der britischen Gesellschaft entscheidend" gewesen. Anders als etwa in der Bundesrepublik oder Italien sei die radikale Linke in Großbritannien eher schwach gewesen, konstatiert Proll, das alternative London stärker von Solidarität geprägt - und damit wohl auch besser kompatibel mit der Mehrheitsgesellschaft.

Hausbesetzer in London: "Wir wählten es aus, weil es nett aussah"
Die Farbaufnahmen von Nick Wates zeigen eine Art späte Flower-Power-Idylle. Wates, der heute als Architekt und Stadtentwickler im englischen Seebad Hastings lebt, war selbst Squatter und so etwas wie der Chronist der Szene rund um den Tolmers Square nahe der Euston Station. Seine Bilder von 1975 zeigen junge Leute mit langen Haaren und weiten Hosen auf der Straße sitzend: friedlicher Protest gegen die Zwangsräumung des besetzten Viertels im Londoner Norden. Andere Fotos dokumentieren das Innenleben der Squatter-Quartiere: zerwühlte Betten, abgewetzte Sessel, Kleider, aufgehängt an der freiliegenden Wasserleitung.
Einfach leben
"Unser Leben war ziemlich einfach", schreibt Tolmers-Bewohnerin Sacha Craddock in ihren Erinnerungen: "Es gab Wasser, aber keine Badewanne oder Dusche und kein anderes Waschbecken als die Spüle in der Küche." Das Kanalisationssystem in Tolmers war mehr als bescheiden: "Wir schütteten alle Abwässer in eine riesige Blechwanne, die wir dann aus dem Fenster im ersten Stock in den Hinterhof ausleerten."
Craddock hatte gerade erst ihre A-Levels, das englische Abitur, in der Tasche, als sie mit ihrem Freund zusammen ihr erstes Haus besetzte - nach offenbar eher konventionellen Kriterien: Das Gebäude stand in der Drummond Street in U-Bahnnähe, zwischen dem ersten indisch-vegetarischen Restaurant der Stadt und einem kleinen Tante-Emma-Laden, "und wir wählten es aus, weil es nett aussah." Ganz unkonventionell dagegen der Einzug: "Wir brachen mit dem Stemmeisen in unser Haus ein", und "nachdem wir es in Besitz genommen hatten, schlossen wir die Tür nie wieder ab."
Arbeitslose und Studenten, Künstler, Drogenabhängige, Frauen und Kinder unterschiedlichster Nationalität - sie alle waren in den Squats zu finden. Während die einen normaler Erwerbsarbeit nachgingen, widmeten sich andere verstärkt dem politischen Kampf - nicht nur um kommunalen Wohnungsbau. In der Hausbesetzerszene formierten sich auch Frauen- und Schwulenbewegung.
Alles wurde geteilt - auch der Partner
"Schwule Menschen kamen aus vielen unterschiedlichen Gründen in die besetzten Häuser", erklärt der Archivar und Zeitzeuge Ian Townson. Manche seien aus ihrem alten Leben geflohen, andere einfach froh gewesen, nach ihrem Outing nicht isoliert leben zu müssen. "Es gab viele Besucher aus Übersee. Immer wurde alles geteilt, einschließlich der Sexualpartner."
Es war eine sehr offene Gesellschaft, die sich da im Untergrund zusammenfand - das zeigen auch Townsons gesammelte Bilder: Offene Türen, eingerissene Gartenmauern, Gemeinschaftsgärten. Der damals 25-jährige Peter Cross zog 1975 in eines der Schwulenhäuser in Brixton: "Wenn man an einem langen heißen Hochsommerabend heimkam, waren wenigstens zehn Leute da, die um den Tisch im Garten saßen - es gab Kerzen, Essen, Zigarren, Wein, eine Gitarre oder eine Geige."
Cross erinnert sich besonders an eine Nacht: In der "hatten so etwa fünf von uns stundenlang Sex auf dem großen Bett von irgendjemandem. Wir zogen die Konturen unserer Schatten mit Bleistift auf der Wand nach; dort blieben sie eine zeitlang und wurden dann mit politischen Plakaten und Art-déco-Tüchern zugedeckt."
Abschied von der Parallelwelt
Die besetzten Häuser waren "zu einer Art von Parallelwelt" für Cross geworden - und nicht nur für ihn. Auch für Astrid Proll. Im September 1978, vier Jahre nach ihrer Ankunft in London, war für sie das Leben in Illegalität und Freiheit plötzlich vorbei. Jemand hatte die junge Frau, die zuletzt als Ausbilderin in einer Autowerkstatt arbeitete, erkannt. Die Deutsche, für die Londoner Zeitungen jetzt nur noch "Miss Terror", wurde verhaftet.
Die britischen Genossen aber hielten zu ihr. Im Gefängnis von Brixton bekam sie täglich Besuch, Freunde brachte ihr Essen mit. Einer, der sie damals bekochte, war der junge Schwule Peter Cross. Ein Jahr nach der Festnahme wurde Proll nach Deutschland ausgeliefert. Das Gericht verurteilte sie am 22. Februar 1980 wegen Raubüberfalls und Urkundenfälschung zu einer Haftstrafe von fünfeinhalb Jahren, die nach Anrechnung der Untersuchungshaft zur Bewährung ausgesetzt wurde. Seither arbeitet Astrid Proll als Autorin, Fotografin und Redakteurin für verschiedene Medien.
Goodbye to London: Radical Art and Politics in the Seventies: Radical Art and Politics in the 70's
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Auch das alternative London steuerte Ende der siebziger Jahre auf Veränderungen zu. Die Wahl der konservativen Margaret Thatcher 1979 zur britischen Regierungschefin gilt vielen ehemaligen Squattern als endgültiger Bruch. Das Land erlebte einen wirtschaftlichen Aufschwung, in der Metropole stiegen die Immobilienpreise. Häuser wurden saniert - und obwohl dabei auch Sozialwohnungen entstanden, verschwand vor allem die Jugend aus dem Londoner Zentrum.
Sacha Craddock, heute Kuratorin in London, erinnert sich an den Moment ihres Auszugs: "Das Klavier wurde runtergebracht, und ein Freund spielte noch draußen vor dem Haus darauf." Ein paar Tage später fuhr sie noch einmal mit dem Bus an der alten Wohnung vorbei. Das Haus war eingerissen, in der Wand klaffte ein Loch und gab den Blick auf die Tapeten frei. "Es war herzzerreißend."