
Londoner Reggae-Plattencover: Und hier radelte Peter Tosh!
Jagd auf Plattencover-Motive "Ich könnte jederzeit als Detektiv anfangen"

Alex Bartsch, 35, hat 2014 mit der Suche nach Plattencover-Motiven begonnen. Der Fotograf ist in Straßburg geboren, er studierte Kunst und Medienwissenschaften. Zu seinen liebsten Reggae-Alben zählt "Marcus Garvey" von Burning Spear (1975). Seine Homepage: Alex Bartsch . Auf Instagram: Alex Bartsch
Etwas betreten blickt Carroll Thompson zur Seite. Die britische Sängerin thront auf der Kühlerhaube eines hellgrauen Wagens in einer menschenleeren Straße. Rechts identische Backsteinhäuschen mit weiß eingefassten Fenstern, links Bäume, Sträucher, ein Zaun.
Eine Straße wie fast überall in London. Und genau da beginnt das Problem.
Im Hintergrund ragt keine Touristen-Attraktion in den Himmel, nichts Markantes ist zu sehen, nur eine Allerwelts-Seitenstraße auf dem Cover des Albums "Hopelessly in Love", das 1981 erschien. Unmöglich, die Location allein aufzuspüren. Also fragte Alex Bartsch kurzerhand die Künstlerin.
Von Carroll Thompson erfuhr der Fotograf, dass es sich um die Milton Avenue im Nordwesten Londons handelt. Und auch, warum die Sängerin so verlegen schaut: Für das Foto musste sie einen grässlichen Pelzmantel tragen, geliehen von der Frau des Plattenfirmen-Bosses. Möglichst viel Sexappeal sollte Thompson verströmen, forderte der Fotograf - während Anwohner aus den Fenstern auf sie herabstarrten.

Londoner Reggae-Plattencover: Und hier radelte Peter Tosh!
"Wenn du lang genug suchst, findest du alles", sagt Bartsch, 35, im einestages-Gespräch. Drei Jahre lang radelte er kreuz und quer durch London, um Plätze ausfindig zu machen, wo zwischen den Sechziger- und Achtzigerjahren Reggae-Musiker für Plattencover posierten. "Ohne Reggae wäre die Stadt heute deutlich langweiliger", sagt Bartsch. Jetzt hat er seine Funde im Buch "Covers" (One Love Books, London) veröffentlicht.
"Gegenwart und Vergangenheit übereinandergelegt"
Die Idee hat Bartsch nicht exklusiv - vor ihm setzte sich etwa der New Yorker Bob Egan auf die Fährte von Musikern wie Bob Dylan, The Who oder Billy Joel. Für Reggae-Fan Alex Bartsch begann alles 2014 mit "Brixton Cat" der Band Joe's All Stars. Er hatte sich die LP gekauft - und erkannt: Auf dem Cover war der Markt in Brixton, auf dem er selbst jede Woche sein Obst kauft.
Der Fotograf radelte zur richtigen Straßenecke, hielt das Album auf Armlänge vor den Auslöser und probierte so lange herum, bis das 1969 entstandene Foto perfekt in die Umgebung passte: "Ich habe Gegenwart und Vergangenheit übereinandergelegt."
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10.06.2023 12.40 Uhr
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Kurz darauf zog er aus seiner Plattensammlung eine zweite Scheibe: "Cockney Translation" von Smiley Culture (1984). Auf dem Cover lehnt der Reggae-Star im Schaffellmantel an einem knallroten Chevrolet Nova, im Hintergrund eine gewöhnliche Eisenbahnbrücke. Hier halfen Label-Angestellte weiter - und Bartsch hatte sein Foto im Kasten: "Ab da war es um mich geschehen."
Der gebürtige Straßburger, seit 2005 in London, ging viele Wege, um die Plätze aufzuspüren: Wo Künstler und Label nicht helfen konnten, kontaktierte er Produktionsfirmen, Werbeagenturen, Fotografen. Bei markanten Gebäuden nutzte er Google Maps und Street View. Manchmal wussten Passanten oder Parkwächter mehr.
Sekretärin und Hausmeister auf dem Cover
Etliche Motive wurden in unmittelbarer Nähe der Labels und Studios improvisiert, wie beim Album "Liquidator" von Harry J Allstars. Auf dem Cover: eine finster blickende Frau, grüner Mantel, Maschinengewehr im Anschlag; ihr zu Füßen liegt ein leblos wirkender Mann. Wie Bartsch herausfand, entstand das Motiv auf dem Dach einer Design-Agentur in Soho - es zeigt die Sekretärin und den Hausmeister der Firma.
"Als Models posierten oft Menschen, die an dem Tag gerade zufällig zur Stelle waren", schreibt Reggae-Experte und Verleger Al Newman. Britische Labels hätten damals wenig Geld für Cover ausgegeben, zudem fehlte es an Fotomaterial aus Jamaika.
Mit der Zeit wagte Bartsch sich an kniffeligere Motive - Innenaufnahmen wie den gigantischen weißen Kamin, vor dem Reggae-Sänger John Holt 1973 für sein Album "1000 Volts of Holt" posierte. Wer stellt sich bloß so ein Monstrum ins Wohnzimmer? Der Plattenproduzent nannte den Namen des früheren Wohnungsbesitzers, Bartsch fand die Adresse und hinterließ eine Nachricht. Noch am selben Abend rief der aktuelle Inhaber an. "Ich könnte jederzeit als Detektiv anfangen", sagt Bartsch und lacht.
Nur einmal hätte er beinah aufgegeben. Das Cover des Albums "Greetings" (1986) zeigt den Jamaikaner Half Pint - weißes Netzhemd, schwarzes Käppi, dicke Goldkette - irgendwo in London auf einem Hochhausbalkon. "Ich war sicher, dass ich die Location nie finden würde", erzählt Bartsch.
Schnitzeljagd mit Suchtpotenzial
Doch dann erkannte er die Türme im Hintergrund und entdeckte drei Wohnblocks, in denen das Foto entstanden sein könnte. Mit dem Hausmeister kletterte er auf die Dächer, klapperte die Etagen und Wohnungen ab. Der richtige Balkon befand sich im 17. Stock, bereitwillig schoben die Bewohner die Couch zur Seite, damit Bartsch das Foto, halb aus dem Fenster gelehnt, schießen konnte.

Bartschs kniffeligster Fall: Reggae-Star Half Pint 1986 auf dem Balkon irgendeines Hochhauses in London.
Foto: Alex BartschWas den Fotografen bei seiner Zeitreise zu den Reggae-Spots verblüffte: Selbst in der dynamischen Metropole London sehen viele Plätze noch nahezu so aus wie vor Jahrzehnten. Zoomt man nah genug heran, hat sich die Stadt gar nicht so dramatisch verändert.
Längst beschränkt sich Bartsch nicht auf Plattencover aus London, sondern schaut sich weltweit um. Wohin er auch reist: Ein paar Alben hat er immer mit im Gepäck.
So ging Bartsch zur der Stelle am Fuß des Eiffelturms, an der 38 Jahre zuvor der Kameruner Künstler François Missee Ngoh gestanden hatte. In Miami fand er die Verkehrsinsel, wo die Hip-Hopper Jurassic 5 im Jahr 2000 für das Album "Quality Control" posiert hatten. Und in Los Angeles die Straßenkreuzung auf dem Cover von "AmeriKKKa's Most Wanted" des US-Rappers Ice Cube.
Aufhören will und kann der Fotograf mit seiner Schnitzeljagd nicht: "Mittlerweile bin ich süchtig." Außerdem gebe es kaum eine nettere Art, mit Menschen in Kontakt zu treten. "Jeder will helfen", sagt Bartsch. "Weil jeder von uns tief im Innern selbst gern ein Detektiv wäre."