

Das erste Foto, das er verkaufen konnte, zeigt einen Kioskbesitzer im April 1945 in New York. Der Mann hat den Kopf mit der Schiebermütze auf eine Hand gestützt und blickt kummervoll ins Leere. Die Zeitungen ringsum verkünden den Tod von Präsident Franklin Delano Roosevelt. Zu diesem Zeitpunkt fotografierte Stanley Kubrick gerade mal seit vier Jahren, seit ihm sein Vater, der Chirurg Jacques T. Kubrick, zum 13. Geburtstag eine Kamera geschenkt hatte. Es handelte sich um eine aufwändige, aber unverwüstliche "Graflex", und sie begleitete den Jungen bei seinen Streifzügen durch die Stadt.
Damals besuchte Kubrick die William Howard Taft High School in der Bronx, und er besuchte sie ungern. "Meine Eltern wollten, dass ich auch Arzt werde", sagte Kubrick später einmal, "aber ich war schon in der Highschool so miserabel, dass ich mit viel zu schlechten Noten abschloss, um das College zu besuchen".
Für das Foto vom Zeitungsverkäufer zahlte ihm das Magazin "Look" damals 25 Dollar, verbunden mit der Aussicht auf weitere Aufträge. Sechs Monate arbeitete der Teenager frei für die Illustrierte, bevor er schließlich 1946 fest angestellt wurde. Mit einem Gehalt von maximal 105 Dollar im Monat war der Job nicht überragend bezahlt. Aber er ermöglichte Kubrick, dem jüngsten Fotografen des Magazins, das Reisen, erst quer durch die USA, dann sogar nach Europa.
Er fotografierte Alte und Junge, Arme und Reiche, und er befreite sich schnell von der Vorgabe, pure "Reportagen" zu liefern. Vor allem aber lernte er hier das Handwerk der Fotografie auf so nachhaltige und akribische Weise, dass man in manchen der Bilder bereits seine Handschrift als Regisseur zu erkennen glaubt. Schon seine Fotos zeugen von der Vorliebe für strenge und manchmal sehr komplexe Symmetrien - als Regisseur zeigte Kubrick oft ein Faible für starre, eben fast fotografische Perspektiven auf ein möglichst perfektes Tableau.
Tatsächlich ging der junge Fotojournalist bald dazu über, sich als Künstler zu begreifen. Das hatte zur Folge, dass viele seiner Aufnahmen inszeniert waren - von der Beleuchtung über die Stellung der Figuren bis hin zum Arrangement ganzer Szenen. Immer haftet den gelungeneren Bildern eine künstliche, kühle Absurdität an.
Zugleich zeigt sich in den frühen Bildern eine Liebe zum Experiment. Manche Aufnahmen wurden in Infrarot hergestellt, und von ihnen verläuft eine direkte Linie zu einem Film wie "Barry Lyndon", der mit avanciertester Kameratechnik ohne jede zusätzliche Beleuchtung nur bei Kerzenlicht entstand. Erkennbar ist auch ein Interesse an sexuell aufgeladenen Szenen, zu denen Kubrick später in "Lolita" oder "Eyes Wide Shut" zurückkehren sollte.
Allzu sehr sollten die Auftragsarbeiten aber wohl nicht auf Anzeichen für spätere Großtaten abgeklopft werden - auch wenn die Fotografie immer das Rückgrat auch seiner filmischen Arbeiten blieb. Im Nachlass des Regisseurs sind noch schwarzweiße Polaroids enthalten, die den Astronauten aus "2001: Odyssee im Weltraum" zeigen. Anhand der Grauwerte dieser Bilder errechnete Kubrick die Belichtungseinstellungen für die Filmkamera.
Auch sein nie realisiertes "Napoleon"-Projekt hatte er in zahllosen Fotos - von Kostümen über Landschaften bis zu Modellen vom Set - bereits bis zur Filmreife vorbereitet. Es muss freilich nicht viel interpretiert werden, um unter den lange verschollenen Bildern auch das ganz handfeste "missing link" zwischen dem Fotografen und dem Regisseur Kubrick zu entdecken - es sind die Aufnahmen, die den Boxer Walter Cartier 1948 beim Kampf zeigen, blutig, geschwollen, verschwitzt.
Drei Jahre später drehte Kubrick über Cartier seinen ersten Film, die Dokumentation "Day Of The Fight", über den Kubrick später in einem Interview sagte: "Der Film kostete mich 3.900 Dollar, und ich verkaufte ihn für 4000 Dollar an RKO. Ich dachte, mit Dokumentarfilmen sei meine Zukunft gesichert, aber keiner meiner Filme brachte Geld ein."
Es war an der Zeit, sich dem Spielfilm zuzuwenden.
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Früh übt sich:Bodybuilder Gene Jantzen und seine Ehefrau Pat haben ihren elf Monate alten Sohn Kent an die Stange gehängt - der Junge schaffte es tatsächlich, sich ein kleines Stück hochzuziehen. Stanley Kubrick fotografierte Familie Jantzen am 2. Juni 1947 für das New Yorker Magazin "Look".
Bahnhofsszene: Von der "Look"-Chefredaktion erhielt Stanley Kubrick 1949 den Auftrag, Facetten des Chicagoer Lebens abzulichten - hier Berufspendler auf dem Bahnsteig. Den Job bei "Look" hatte ihm eine Freundin vermittelt, die bei dem US-Magazin arbeitete.
Backstage: Zwei Models in ihrer Garderobe - auch dieses Bild stammt aus der "Look"-Auftragsarbeit für das Stadtporträt von Chicago mit dem Titel "Stadt der Kontraste". Als Kubrick 1946 in der Bildredaktion des Magazins seinen Job antrat, war er mit seinen 18 Jahren der jüngste Fotograf in der Geschichte des Magazins.
Abgestellt: Ein Unterwäsche-Model einer Chicagoer Dessousfabrik pausiert bei einer Zigarette im Büro einer Sekretärin. Für ein gutes Motiv setzte Fotograf Kubrick die porträtierten Menschen wie Schauspieler in Szene - schon früh war damit in seinen Bildern das Faible für den Film zu erkennen.
Rind in Reih und Glied: Ein Chicagoer Schlachter im Kühlhaus posiert mit einem Fleischstück. Für sein erstes Foto hatte das US-Magazin "Look" Kubrick 25 Dollar gezahlt. Auch später sollte er nicht mehr als 105 Dollar pro Woche verdienen, "aber ich kam viel im ganzen Land herum, reiste auch nach Europa", erinnert sich Kubrick.
Funkenregen: In einer Stahlfabrik in Chicago dokumentierte Stanley Kubrick die einzelnen Produktionsschritte, hier die Schmelzanlage. Seine Freude am Fotografieren hatte Kubrick bereits mit 13 Jahren entdeckt, nachdem ihm sein Vater eine Graflex-Kamera geschenkt hatte.
Kubricks Look: Viele seiner Bilder arrangierte der junge Fotojournalist Stanley Kubrick, inszenierte mit Licht eine bestimmte Stimmung und positionierte die abgebildeten Personen. Wie ein Regisseur gab er ihnen Anweisungen, wie sie zum Beispiel zu schauen hatten - hier ein müde dreinblickender Schuljunge im Kunstunterricht.
Am Boden: Die "Look"-Chefredaktion schickte den jungen Fotografen Stanley Kubrick zu Box- und Wrestlingveranstaltungen. 1951 drehte Kubrick seinen ersten Film zu dem Thema - die Doku "Day of the Fight" über den Boxer Walter Cartier.
Blick ins Publikum: Kubricks Chicago-Fotoreportage von 1949 sollte, so lautete der Auftrag, die unbekannten Seiten der Stadt und ihrer Bürger aufzeigen. Hier porträtierte er die Zuschauerin eines Wrestlings-Kampfs - im Ring stand "Gorgeous George", damals einer der größten und bestbezahlten Profi-Wrestler.
Leben im Ghetto: Eine afroamerikanische Mutter mit ihren Kindern in einem Chicagoer Armenviertel, fotografiert 1949 vom späteren Starregisseur Stanley Kubrick.
Verregnet: Besucher strömen ins "Chicago Theatre" an der North State Street, wo eine Vorstellung mit Jack Carson, Marion Hutton und Robert Alda in den Hauptrollen läuft. Das markante Vordach des Gebäudes ist ein beliebtes Motiv bei Fotografen und gilt als inoffizielles Emblem der Stadt.
Börsen-Business: Stanley Kubrick hielt mit seiner Kamera das hektische Treiben auf dem Parkett der Chicago Board of Trade fest, der weltältesten Terminbörse. Das Bild wurde am 12. April 1949 in der "Look" veröffentlicht, den Artikel dazu mit der Überschrift "Stadt der Extreme" schrieb der Journalist Irving Kupcinet.
Kurve der L: Mit Blick von oben fotografierte Stanley Kubrick für die "Look" den städtischen Schienenverkehr, den die Chicagoer auch "die L" nennen - als Abkürzung für "elevated" ("erhöht").
Nebulös: Ein Zug der "Chicago L" auf einer der erhöhten Bahnbrücken, die dem Schienensystem ihren Namen gaben. Im Hintergrund ragt ein riesiges Hochhaus empor, vor dessen Kulisse das Schienenfahrzeug wie ein Miniaturmodell wirkt. Der zweite Wolkenkratzer auf dem Bild ist im Nebel untergetaucht.
Verkehr: Fußgänger passieren unter einer Brücke der "L" die Straße.
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