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»Wunderkind? Das ist der Name einer Krankheit, die kaum einer überlebt« – Superhirne in der Geschichte

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»Lübecker Wunderkind« Christian Henrich Heineken Der Höchstbegabte

Mit eins soll er aus der Bibel rezitiert, mit zwei Französisch und Latein gesprochen haben: Vor 300 Jahren wurde Christian Henrich Heineken geboren. Der Lübecker Junge teilte das traurige Schicksal vieler Mini-Gelehrter seiner Zeit.

»Zuerst sollte man die Eltern aller Wunderkinder erschießen und dann das Kind an die Wand stellen und Schluss machen!« So lautete die drastische Forderung des US-amerikanischen Stargeigers Ruggiero Ricci (1918 bis 2012) – er wurde schon als Dreikäsehoch gedrillt und vorgeführt. Und der große Violinist Jascha Heifetz (1901 bis 1987) formulierte es einmal voller Bitterkeit so: »Wunderkind? Das ist der Name einer Krankheit, die kaum einer überlebt.«

Beide haben dennoch bis ins hohe Alter durchgehalten. Obwohl sie schon als kleine Jungen permanent zu Höchstleistungen angespornt und um eine unbeschwerte Kindheit betrogen worden waren. Einer großen Schar Wunderkinder indes war kein langes Leben vergönnt.

Christian Henrich Heineken, geboren am 6. Februar 1721, verzeichnete in dieser Liga der Hochbegabten einen tragischen Rekord: Das »Wunderkind von Lübeck« wurde nur vier Jahre, vier Monate und 21 Tage alt. Der Knirps soll bereits mit 14 Monaten das Alte Testament rezitiert, mit zwei Jahren Französisch sowie Latein beherrscht und mit knapp drei die Mitglieder aller europäischen Herrscherhäuser heruntergerattert haben.

»Es ist ein Miraculum«, rief der dänische König Frederik IV. aus, als man ihm 1724 den Dreijährigen präsentierte. Ein Wunder! Fortan sprachen alle vom »Wunderkind«. Christian, letzter Spross des Künstler-Ehepaares Paul und Catharina Elisabeth Heineken, wurde herumgereicht wie ein dressierter Affe. Und selbst nach seinem Tod, mit Lorbeer bekränzt, noch öffentlich zur Schau gestellt: »Also lag nun auf einem Trauer-Gerüste, unsers Abgestorbenen gekleidete Leiche, welche von vielen Tausenden (...) zwo Wochen lang belagert wurde«, schrieb Christian von Schöneich, Lehrmeister und Biograf des Jungen.

1726 erschien Schöneichs Schrift mit dem schwülstigen Titel: »Merkwürdiges Ehren-Gedächtnis von dem christlöblichen Leben und Todes des weyland klugen und gelehrten Lübeckischen Kindes Christian Henrich Heineken«. Ob alles stimmt, was er darin behauptete? Fakt ist: Mehrere Intellektuelle überzeugten sich zu Lebzeiten von Christians exorbitanten Fähigkeiten. Sie veröffentlichten lateinische und deutsche Abhandlungen über den Mini-Gelehrten; am ausführlichsten hat sich damit bisher der italienische Wissenschaftler Guido Guerzoni befasst.

»Dat is een Peerd!«

Am 3. Dezember 1721 soll das Baby erstmals sein Talent preisgegeben haben, auf Plattdeutsch. Es zeigte auf die blau-weißen Ofenkacheln und wiederholte die Worte, mit denen seine Amme Sophie ihm am Tag zuvor die Bilder erklärt hatte: »Dat is een Peerd, dat is 'n Katt un dat is een Kerkturm«. Pferd, Katze, Kirchturm – sogleich engagierten die Eltern einen Privatlehrer: Christian Schöneich, Untermieter im Hause Heineken.

Der schlesische Adelige begann, mit dem Baby die Bibel durchzuarbeiten: Schon mit 14 Monaten soll der Kleine Passagen aus dem Alten und Neuen Testament rezitiert, 80 Psalmen und 200 Kirchenlieder auswendig gekannt haben. Es folgten Weltgeschichte und Geografie, wöchentlich 150 neue Lateinvokabeln sowie Französisch.

Das »frühkluge Wunderkind von ephemerischer Existenz«, so der Philosoph Immanuel Kant, konnte sämtliche Flüsse und Hauptstädte Europas aufsagen, auch in Mathematik und Anatomie brillierte er. Ein »ganzes Menschengerippe« habe Christian »in allen Theilen begriffen«, reportierte Lehrer Schöneich stolz.

Genie mit Zöliakie

Nur bei Tisch machte der Kleine Probleme: Er verweigerte jegliche feste Nahrung und wollte ausschließlich gestillt werden. Statt zu essen, habe er alles über »Namen, Ursprung, Kräffte und andere Umstände der Speisen betreffend« in Erfahrung bringen wollen, so Schöneich. Und bekam mit 20 Monaten schweren Durchfall, trocknete aus, magerte ab.

Dass nicht die Ammenmilch schuld war, wie Schöneich mutmaßte, sondern das Kind wohl unter Zöliakie (Glutenunverträglichkeit) litt, konnte kein Arzt wissen: Die Krankheit war damals noch unbekannt. Sobald Christian genesen war, paukte Schöneich Jura mit ihm.

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»Wunderkind? Das ist der Name einer Krankheit, die kaum einer überlebt« – Superhirne in der Geschichte

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Im Januar 1724 kam Johann Henrich von Seelen, Rektor des Lübecker Katharineums, zu Besuch, um das Wissen des Kleinen zu testen. Er lobte das »wunderwürdige Gedächtnis« Christians, der ihm die Namen aller römischen Kaiser aufsagte, über Karl den Großen referierte, lateinische Sprichwörter aufsagte.

Doch sorgte sich Seelen auch ob Christians »grosser Schwachheit«: 20 Mal rief der kleine Kerl bei der Examination nach der Brust der Amme. Und als Christian sein Steckenpferd besteigen wollte, musste er von zwei Personen gestützt werden, fiel hin – »und ratterte alles herunter, was er über Steckenpferde wusste«, so Seelen. Quod cito fit, cito perit: »Was schnell entsteht, schnell vergeht«, reimte der Rektor und prophezeite dem Kind einen frühen Tod.

Warnung vor »Treibhauserziehung«

Seelens Gutachten über Christian erschien im Januar 1724 in der Hamburger Wochenzeitschrift »Der Patriot«. Trotz seines körperlichen Leids wurde das Kind als glänzendes Beispiel dafür angeführt, was Erziehung bewirken könne: »Sinnet der Wirkung eines klugen Unterrichts ein wenig nach und gestehet mir aufrichtig, dass es keine Unmöglichkeit sey, mit ganz jungen Kindern das Werck der Erziehung glücklich anzufangen.«

Das Zeitalter der Aufklärung zog herauf – und damit der Glaube an die schier unbegrenzte Macht der Pädagogik. Zahlreiche Menschen machten sich daran, ihren Nachwuchs mit »Lerntortouren« zu drangsalieren, so der Kinderpsychiater und Psychoanalytiker Gerhardt Nissen.

»Ich schwor mir, die Geschichte dieses Kindes zu schreiben«
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Es begann mit einem persönlichen Drama: Lesen Sie hier, warum ausgerechnet der italienische Historiker Guido Guerzoni das Rätsel um Christian Henrich Heineken lüften wollte.

Neben Heineken gab es etwa Jean-Philippe Baratier; der Sohn eines hugenottischen Priesters soll mit sechs Jahren fünf Sprachen gesprochen und mit zehn ein Universitätsstudium begonnen haben. Oder den kleinen Johann Gotthilf Kirsten, der angeblich schon mit acht Monaten als Student immatrikuliert wurde.

Obwohl seine Freunde ihm von der »Treibhauserziehung« abrieten, versuchte auch der Reformpädagoge Johann Bernhard Basedow, die eigene Tochter zum Wunderkind zu formen. Ihm tat es sein Kontrahent gleich, der Gelehrte August Ludwig von Schlözer.

»Schont ihre Fasern noch!«

Wunderkinder waren so in Mode, dass der Arzt Johann Peter Frank 1780 eindringlich vor brachialer Frühpädagogik warnte: »Schont ihre Fasern noch, schont ihres Geistes Kräfte. Verschwendet nicht im Kind des künft'gen Mannes Säfte.«

Auch Joachim Heinrich Campe betonte 1786 die »große Schädlichkeit einer allzu frühen Ausbildung der Kinder«. Den Erzieher der Humboldt-Brüder graute es: »Sehet um Euch – alle diese kleinen Gelehrten – was werden sie? Schaale, seichte Köpfe«, schrieb er.

Doch solche Mahnungen verhallten vielfach ungehört. Denn Wunderkinder dienten ehrgeizigen Pädagogen nicht nur als Beweis der eigenen Brillanz, sie ließen sich auch perfekt vermarkten. Vor allem, wenn sie musisch begabt waren. An dem kleinen »Wolferl« und dessen Schwester »Nannerl« verdiente der alte Leopold Mozart so gut, dass er einen veritablen Wunderkindboom auslöste.

Immerhin scheint er seine Kinder nicht mit physischer Gewalt drangsaliert zu haben. Anders der von Wolfgang Amadeus bemitleidete Wundercellist Zygmontofsky: Der arme Kerl wurde von seinem Vater mit Hunger und Prügel konditioniert und starb mit nur elf Jahren.

Gold vom dänischen König

Mit dem kleinen Christian Henrich Heineken konnte sein Mentor Schöneich nicht nur angeben – der berühmte Wunderknirps trug auch kräftig zum Familieneinkommen bei. Nach einer weiteren Krankheitsattacke reiste der Kleine im Sommer 1724 mit Lehrer, Amme und Mutter nach Dänemark.

In Kopenhagen kam es Schöneich zufolge zu Volksaufläufen und Straßenverstopfungen; Schaulustige beschenkten Christian mit »güldenen Ducaten«, über deren Münzbilder er sogleich kleine Vorträge hielt. Auch die königliche Familie ließ dem Lübecker Besucher ein »gnädiges Geschenk in Golde« zukommen: Kurz zuvor noch fiebrig, glänzte Christian bei einer Privataudienz im Schloss Fredensborg zwei Stunden lang mit seinem Wissen. Pause machte er nur zum Trinken an der Ammenbrust.

König Frederik IV. war schwer beeindruckt, aber auch beunruhigt über den Gesundheitszustand des Kindes. Ob nicht »die übermässige Arbeit des Gemüthes die nöthigen Leibeskräfte verzehre«, fragte der Monarch. Schöneich wiegelte ab – und hielt Christian an, sein enormes Geografiewissen zum Besten zu geben.

»Kind, dessen Gleichen nie vorhin ein Tag gebahr! Die Nachwelt wird dich zwar mit ew'gem Schmuck umlauben, doch auch nur kleinen Teils, dein grosses Wissen glauben, das dem, der dich gekannt, selbst unbegreiflich war.«

Georg Philipp Telemann über den kleinen Christian

Zurück in Lübeck, riss der Besucherstrom nicht mehr ab. Alle wollten den Knaben bestaunen, aus Hamburg reiste im Januar 1725 der Komponist Georg Philipp Telemann an. »Wahrlich, wäre ich ein Heide, ich würde meine Knie beugen und dieses Kind anbeten!«, rief der Hamburger Musikdirektor aus und verfasste ein Gedicht zu Ehren Christians.

Telemanns Verszeilen gerieten zum Nachruf auf das »Lübecker Wunderkind«: Nachdem er von der Ammenbrust entwöhnt worden war, aber partout keine feste Nahrung vertrug, hauchte Christian Henrich Heineken am 27. Juni 1725 erschöpft sein junges Leben aus. »O, Herr Jesu! Nimm meinen Geist auf!«, sollen die letzten Worte des sterbenden Superhirns gewesen sein.

Zum Weiterlesen:

  • Guido Guerzoni: Il bambino prodigio di Lubecca, Allemandi 2006

  • Joachim und Angelika Konietzny: Das Lübecker Wunderkind Christian Henrich Heineken und der Preußische Hofmaler Johann Harper. Bestellbar auf der Website des Ehepaares .

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