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Diplomaten im Nationalsozialismus: "Die Demokratie in Deutschland hat einen Schlag erhalten"

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"Machtergreifung" aus Diplomatensicht "Na, es hätte schlimmer ausfallen können"

Für ausländische Diplomaten war der 30. Januar 1933 ein normaler Arbeitstag. Als Hitler Reichskanzler wurde, blieben sie gelassen. Sie hielten den Schritt für eine kurze Episode und die NSDAP für nicht regierungsfähig. Schon bald mussten sie ihr Urteil revidieren - und prophezeiten eine düstere Zukunft.
Von Christoph Strupp

"Die politische Situation ist nun so kompliziert und von so vielen psychologischen Faktoren beeinflusst, dass es unmöglich ist, irgendeine klare Vorhersage zu machen." Am 3. Februar 1933 bemühte sich George S. Messersmith, der amerikanische Generalkonsul in Berlin, dem State Department die neue politische Lage in Deutschland zu erklären.

Vier Tage zuvor war Reichskanzler Kurt von Schleicher nur wenige Wochen nach seiner Ernennung wieder aus dem Amt entfernt worden. Hitler war nun an der Macht. "Man kann aber annehmen", vermutete Messersmith, "dass das Hitler-Regime, ob es ein paar Monate oder länger währt, nur eine Phase in der Entwicklung zu stabileren politischen Verhältnissen ist und dass auf diese Regierung eine folgen wird, die größere Stabilität zeigen wird als diejenigen, die Deutschland in den letzten Jahren hatte. Die Menschen sind politisch erschöpft."

Ebenso wie viele übrige Beobachter empfanden auch die Diplomaten in Berlin den erneuten Regierungswechsel keineswegs sogleich als welthistorischen Einschnitt. Niemand sah in den ersten Tagen voraus, dass das NS-Regime zwölf Jahre überdauern und in einer Katastrophe wie dem Zweiten Weltkrieg enden werde. Stattdessen schien das Kabinett Hitlers zunächst nur eine weitere in der Reihe mehr oder weniger kurzlebiger Regierungen zu sein.

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So ergänzte US-Botschafter Frederic M. Sackett einen Tag nach Messersmith, dass die politische Spannung spürbar ansteige, und dass "das gegenwärtige Kabinett mit seinen normalerweise disharmonischen Elementen" ein "fruchtbares Feld für Ärger” biete. Sackett traute den Nationalsozialisten die Regierung schlicht nicht zu. Anzahl und Art der Ministerien, die sie nun besetzten - Wilhelm Frick wurde Innenminister, Hermann Göring Minister ohne Geschäftsbereich - schien dies zu bestätigen.

Hitler unter Kontrolle?

Die wahre Macht lag für Sackett bei Vizekanzler Franz von Papen und dem deutsch-nationalen Wirtschaftsminister Alfred Hugenberg. Der Botschafter griff damit auch Einschätzungen seiner Mitarbeiter aus den Vortagen auf. Die ersten Meldungen über die Ernennung Hitlers und die Zusammensetzung des neuen Kabinetts hatte die Berliner US-Botschaft telegrafisch noch am 30. Januar 1933 versandt. Dabei hatte man bereits den "reaktionären und monarchischen Einfluss" in der neuen Regierung betont. Viele Diplomaten meinten zunächst, diese konservative "Einrahmung" Hitlers werde schon dafür sorgen, dass die radikalen Parolen der NSDAP nicht das Regierungshandeln bestimmten.

Der Schweizer Gesandte Paul Dinichert schilderte am 2. Februar in einem ausführlichen Bericht nach Bern, wie er die Machtübernahme erlebt hatte: "Ich saß vorigen Montag Mittag, bei einem gesellschaftlichen Anlasse, zusammen mit hochgestellten deutschen Persönlichkeiten, als uns die Nachricht von der Bildung der neuen Regierung erreichte", berichtete er. "Keiner der Anwesenden schien davon eine Ahnung gehabt zu haben." Man habe sich gefragt, wie lange das wohl dauern könne und war der Meinung: "Na, es hätte ja schlimmer ausfallen können."

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Diplomaten im Nationalsozialismus: "Die Demokratie in Deutschland hat einen Schlag erhalten"

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Doch in den Wochen danach begann sich die ganze Dynamik des Regimes zu entfalten - auf Regierungs- und Verwaltungsebene ebenso wie im Terror auf der Straße. Erst als die Nachfrage nach Auswanderungsvisa in den Konsulaten anstieg und Fluchtbewegungen in die Nachbarländer einsetzten, wurde den diplomatischen Beobachtern langsam die Bedeutung des 30. Januar klar.

"Die Demokratie hat einen Schlag erhalten"

Einflussreiche Figuren des diplomatischen Korps wie der französische Botschafter André François-Poncet, der britische Botschafter Horace Rumbold und sein Nachfolger Eric Phipps oder der dänische Gesandte Herluf Zahle und Generalkonsuln wie George Messersmith, den seine Kollegen in Washington nicht umsonst mit dem Spitznamen "40-Seiten-George" bedacht hatten, berichteten ausführlich darüber, wie die Nationalsozialisten die verschiedenen politischen Ebenen, die Wirtschaft und deren Verbände, die Presse, das kulturelle Leben und den Bildungsbereich "gleichschalteten".

"Die Demokratie in Deutschland hat einen Schlag erhalten, von dem sie sich vielleicht nie erholen wird", schrieb Frederic Sackett nach den Reichstagswahlen vom 5. März. Deutschland sei von einer großen "Nazi-Welle überschwemmt" und das "oft angekündigte Dritte Reich" Realität geworden. André François-Poncet beklagte Anfang April, dass die Ereignisse "weder Helden noch Märtyrer auf den Plan gerufen" hätten. Die deutsche Demokratie habe "sich nicht zu retten, nicht einmal ihr Gesicht zu wahren gewusst".

Die Diplomaten versuchten, den Lesern in den Ministerien zu Hause zu vermitteln, was es bedeutete, in einer Diktatur zu leben, von der als "Neuanfang" nach den Krisen der letzten Jahre zugleich eine diffuse Attraktivität ausging. Zumal diese in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen bis hin zu früheren Anhängern der Arbeiterparteien Rückhalt fand. Sie machten deutlich, dass rechtliche Willkür und Verfolgung nicht nur bestimmte Gruppen politischer Gegner und die deutschen Juden erfassten, sondern weite Teile der Bevölkerung davon betroffen waren. Die Atmosphäre sei vielfach von Angst und eingeschüchterter Anpassung an die neuen Umstände geprägt. Ebenso berichteten die Diplomaten von Anfang an aber auch von propagandistisch aufgestachelten und fanatisierten "Massen", die mit ihren Erwartungshaltungen die offizielle Politik an Radikalität noch zu übertreffen schienen.

Düstere Prognose

Diese Widersprüche in der Berichterstattung finden sich ganz unabhängig von den politischen Standpunkten der Beobachter. Sie sind bei den späteren Kriegsgegnern ebenso wie bei neutralen Mächten und selbst bei Vertretern des faschistischen Italien nachzuweisen. Sie gingen letztlich auf den Charakter des Regimes selbst zurück, das zum einen von Anfang an Menschen ausgrenzte und gnadenlos verfolgte, zum anderen aber für die Angehörigen der "Volksgemeinschaft" auch attraktive ideelle und materielle Angebote bereit hielt.

So schrieb der französische Botschafter François-Poncet bereits Ende März 1933: In vielen Bereichen "zeigt sich bei den Nazis eine doppelte Tendenz: die eine, die alles zerstören will, alles beansprucht, alles beherrscht und den eifrigen Revolutionären der Sturmabteilung (...) weitgehende Befriedigung zugesteht." Die andere wolle im Gegensatz dazu eine Vorstellung von Mäßigung, Vernunft, konziliantem politischen Geist erreichen und bemühe sich um die Zustimmung der ernsthaften Teile der Bevölkerung.

Zuverlässige Prognosen ließen sich unter solchen Bedingungen in den ersten Wochen kaum erstellen. Doch immer wieder kam es zu Übergriffen gegen politische Gegner, Andersdenkende und vor allem Juden. Die Beobachter waren sich einig: Diese Gewalt und die "praktisch uneingeschränkte Verfolgung einer Rasse", wie es Messersmith am Vorabend des "Juden-Boykotts" vom 1. April formulierte, würde irgendwann auch in Aggression nach außen umschlagen.

Es sei klar, dass die deutsche Regierung für die nächsten Jahre Frieden wünsche, um ihre Position zu festigen, schrieb Messersmith am 9. Mai, aber es gebe allen Grund anzunehmen, "dass das 'neue Deutschland', wenn diese Festigung einmal erreicht ist, in jeder Weise danach streben wird, dem Rest der Welt seinen Willen aufzuzwingen".

Der Autor: Dr. Christoph Strupp ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH).

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