Augenblick mal Was steckt hinter diesem Bild?

Nationaal Archief/Collectie Spaarnestad/Het Leven
Es ist ein Anblick des Grauens: erbärmliche Gestalten mit starrem Blick. Ihre Kleidung ist zerschlissen, das Haar verfilzt. Auf dem Boden liegen abgetrennte Gliedmaßen und Köpfe mit weit aufgerissenen Augen. Was für ein Unglück!
Mit diesem Foto schockierte die niederländische Wochenzeitung "Het Leven" ("Das Leben") 1930 ihr Publikum. Es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise: Massenarbeitslosigkeit und Verelendung breiteten sich aus, Armut und Kriminalität waren sprunghaft angestiegen.
Doch dieses Bild hatte mit all dem nichts zu tun. Zur Zeit der Veröffentlichung war es bereits fünf Jahre alt - aufgenommen im März 1925 in London, bei einem Großbrand im Wachsfigurenkabinett Madame Tussauds an der Marylebone Road.
Zumindest in London dürfte dieses Ereignis damals niemandem entgangen sein, es machte weltweit Schlagzeilen: Zeitungen wie die neuseeländische "Evening Post" schrieben vom "spannendsten Feuerspektakel, das seit Jahren in London zu sehen war". Ausgelöst wurde es vermutlich durch einen Kabelbrand; seine Nahrung fand das Feuer in den unzähligen Wachsmodellen. Ein Augenzeuge berichtete dem "Manchester Guardian" von gigantischen roten und goldenen Flammen, die bis zu 15 Meter hoch aus dem Dach des Gebäudes schlugen. Rund 10.000 Zuschauer beobachteten den Großbrand.

London 1925: "Spannendstes Feuerspektakel seit Jahren"
imago/ United Archives International
Die Schaulust wich bald der Ernüchterung. Menschen kamen nicht zu Schaden, aber die Figuren zerschmolzen wie... wie Wachs eben. Das Museum war versichert, der Schaden dennoch enorm. Das Feuer hatte unter anderem eine Sammlung echter Reliquien Napoleons verschlungen - Kutschen und Krönungsroben, sein Teleskop und sein Sterbebett von St. Helena.
Zahlreiche Wachsfiguren waren zerstört. Immerhin blieben die Gussformen erhalten, die in einem anderen Gebäude lagerten. Der "Manchester Guardian" fand es dennoch "merkwürdig, an die vielen bedeutenden und hoch angesehenen Menschen zu denken, die bildlich verbrannt seien".
Eine riesige Kammer des Schreckens
Das Feuer hatte vor allem in der obersten Etage gewütet. Hitze und Löschwasser beschädigten auch darunterliegende Räume wie die berühmte Chamber of Horrors, wo Abbilder berüchtigter Mörder und sonstiger Verbrecher versammelt waren. Die Kriminellen, bemerkte lakonisch der "Manchester Guardian" in Anspielung auf die gruselige Darstellung der Hingerichteten, "hätten insofern nichts gespürt, als sie ja bereits alle tot sind".
Als das Feuer unter Kontrolle war, versuchten Helfer zu retten, was - zumindest im musealen Sinne - noch zu retten war, selbst einzelne wächserne Körperteile. Das ganze Museumsgelände glich danach einer einzigen riesigen Schreckenskammer.
Einen Eindruck davon vermittelt das obige Bild eines unbekannten Fotografen, veröffentlicht 1930 in "Het Leven". Was genau das Magazin seinem Publikum damit sagen wollte, ist nicht überliefert. Das sensationslüsterne satirische Wochenblatt erschien seit 1906 und hatte keinen Skandal und keine Horrormeldung ausgelassen.
35 Jahre nach der Gründung war "Het Leven" am Ende. Da hatte längst der reale Horror die Mitarbeiter ergriffen: Um einem Publikationsverbot zu entgehen, waren 1940 alle jüdischen Beschäftigten entlassen worden. Es half nichts. 1941 erschien die letzte Ausgabe. In den Niederlanden herrschten nun die deutschen Besatzer.
Und auf Madame Tussauds' regenerierte Wachsfiguren fielen deutsche Bomben.