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Maueröffnung: Ins Herz der Finsternis

Foto: Christian Hajer

Maueröffnung Ins Herz der Finsternis

In der DDR regiert das Böse: Da war sich Christian Hajer ganz sicher. Während nach der Maueröffnung alle nach Westen strömten, nutzte er die Gelegenheit und wagte sich ohne Visum ins menschenleere Ostberlin.

Der 9. November 1989 war in Berlin einer jener nasskalten regnerischen Herbsttage, die man am besten im Bett verbringt. Von dort aus verfolgte ich vorm Einschlafen mit halbem Auge die Nachrichten mit der Pressekonferenz von Günter Schabowski, dem Pressesprecher des Politbüros. Darin kündigte er überraschend die Möglichkeit für DDR-Bürger an, "über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen". Heiße Luft, dachte ich. Dass etwas passieren musste, war mir zwar klar, aber das mochte dauern. Doch gegen 23 Uhr wurde ich durch den Anruf eines Freundes geweckt. Er sagte, er sei in der verwaisten Moabiter U-Bahn-Station Turmstraße, und da führen lauter U-Bahnzüge in Richtung Zoo durch - gerammelt voll mit Ostberlinern!

Kurz drauf fanden wir uns am Ku'damm wieder. Beim erstmaligen direkten Vergleich konnten wir nun feststellen, dass man West- und Ostberliner in der Masse schwerlich auseinanderhalten kann. Mit den Freudenausbrüchen konnten wir wenig anfangen, denn wir waren Zugereiste. So standen wir also etwas teilnahmslos im Geschehen herum. Zwei 16-Jährige, die über den Übergang Bornholmer Straße gekommen waren, bekundeten lautstark ihre Enttäuschung über den öden Lichterglanz des Ku'damms, den sie sich in Pankow immer als eine Art Las Vegas vorgestellt hatten. Am Zoo stiegen wir in die S-Bahn in Richtung Lehrter Stadtbahnhof, um uns das Treiben am nahe gelegenen Grenzübergang Invalidenstraße anzuschauen. Überforderte alliierte Militärpolizei mühte sich hier redlich, die Kontrolle über die wogende Menschenmenge zu behalten.

Gegen den Strom

Aufgrund häufiger Besuche in der Hauptstadt der DDR hatten wir eine grobe geografische Vorstellung von der anderen Seite. Wir nutzten nun die Ausnahmesituation, um uns ohne Visa und Zwangsumtausch in Richtung Alexanderplatz und Unter den Linden aufzumachen, direkt ins Herz der Finsternis. Denn dass im Osten das Böse selbst regierte, war klar, unterstützt vom Schwachsinn von DDR-Intellektuellen, die uns bei nächtelangen Diskussionen versichert hatten, sie wollen keine menschenverachtenden Verhältnisse wie im Westen, sondern eine bessere DDR. Der bessere Sozialismus aber hatte sich bei unseren Bekannten aus anderen osteuropäischen Ländern schon längst erledigt, die sehnten nur noch dessen Ende herbei.

Auf der Ostseite der Grenzanlagen trafen wir auf einen genervten Stefan Heym, der mit gequältem Blick etwas unsinnige Fragen eines österreichischen oder schweizerischen TV-Teams beantworten musste. Er frage sich, wo die nächsten 100 DM Begrüßungsgeld herkommen sollen, sagte er. Weiter. Während man sich auf der Westseite schon freuen durfte, lag auf der östlichen Seite der Grenzanlagen das Gefühl gespannter Erwartung in der Luft (ich machte eine Aufnahme ins Innere eines Trabanten, der schon im Neonlicht der Grenze stand, aber eben noch nicht durch war). Auf dem Weg zum Alexanderplatz präsentierte sich die Stadt noch "toter" als sonst, denn diejenigen, die nicht im Bett waren, waren nun schon weg, um sich den Westen anzuschauen. Am Alexanderplatz zog eine einsame Kehrmaschine ihre Runde.

Angst vorm politischen Wettersturz

Mittlerweile war es weit nach 1 Uhr. Da wir keine Visa hatten und uns schwante, der Spuk könne im Falle eines plötzlichen politischen Wettersturzes vorbei sein, wollten wir nun zurück. Noch war nicht klar, wie das Ganze ausgehen würde. Auf der leeren Straße Unter den Linden rumpelten lange Kolonnen von Militärlastern an uns vorbei. Zwei Westberliner Kiffer mit Dreadlocks kamen uns entgegen und fragten nach dem Weg. Sie waren am Brandenburger Tor von der Mauer gesprungen. Dort sei aber bereits wieder abgesperrt und deswegen wollten sie einen anderen Ausgang in den Westen finden, sagten sie. Wir wollten trotzdem dorthin, denn auch wir hatten zunächst überlegt, durch das Brandenburger Tor zu gehen und uns von den Leuten auf der Mauer rüber in den Westen hieven zu lassen.

Beim Näherkommen sahen wir aber nun die Sondereinheiten in Kampfanzügen von den Lastwagen springen. Sie bezogen am Brandenburger Tor in langen Reihen Stellung, um den Grenzbereich großräumig abzusperren und alle Personen des Platzes zu verweisen. "Das war's dann wohl. Wirklich eine super Idee ohne Visum in den Osten zu gehen." Wir malten uns schon mal den DDR-Knast (und das sibirische Arbeitslager) aus. Dann konnten wir erkennen, dass die Spezialkräfte nicht bewaffnet waren. Den niedrigen Stahlzaun, der an der Luisenstraße den Pariser Platz sperrte und hier die Hinterlandmauer bildete, konnten wir noch überwinden, wurden aber kurz darauf aber von der ersten Postenkette gestoppt.

"Bitte gehen Sie zurück, hier kommen Sie nicht mehr weiter", bat uns höflich ein Offizier. Der Ton machte mich hellhörig. Die Mannschaften waren etwa Anfang 20, etwa in unserem Alter. "Hey Leute, wir kommen grade vom Ku'damm, die feiern dort 'ne große Party", rief ich ihnen zu. Lange Blickwechsel folgten. Schließlich sagte einer zu uns: "Da wären wir jetzt auch gerne." Ich hatte ein gutes Gefühl. Wir kehrten um.

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