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Zensurpolitik: Alles im Griff - die Staatspartei und die Medien

Foto: Siegfried Wittenburg

Medien in der DDR Offene Zensur? War gar nicht nötig

Die Partei hatte immer recht und die Medien auch ohne drastische Eingriffe fest unter Kontrolle. Eher subtil entfernte die SED verbotene Gedanken, gelernte DDR-Bürger waren verängstigt genug.

Ein gewöhnlicher Morgen im Arbeitstakt der sozialistischen Großstadt: Um 7 Uhr ist Arbeitsbeginn. Dann sollen die Stempeluhr betätigt, der Arbeitsplatz erreicht, der Umkleideraum bevölkert sein. Und der Heißwasserboiler für die Kaffeezubereitung laufen. Zuvor werden die Werktätigen aus den Plattenbausiedlungen mit Bussen, Straßen- und S-Bahnen in die volkseigenen Betriebe verteilt.

Einige Arbeiter und Angestellte kaufen beim Zeitungskiosk am Ende des Bahnsteigs, in der Nähe meines Betriebes, eine Tageszeitung. Oder gleich mehrere. Die Blätter kosten 15 Pfennige, selbst im sehr speziellen Preissystem der DDR spottbillig. Sie werden vom Staat hoch subventioniert. Stapelweise liegt "Neues Deutschland" als Zentralorgan der SED aus, daneben das Organ der SED-Bezirksleitung. Hier in Rostock ist es die "Ostsee-Zeitung", jeder Bezirk hat seine eigene. Hinzu kommen die regionalen Tageszeitungen der Blockparteien CDU, LDPD, NDPD und DBD.

Am auflagenstärksten sind die Zeitungen der SED-Bezirksleitungen. Sie verfügen über ein Heer von Journalisten, über moderne Bürogebäude und leistungsstarke Druckereien. Die tägliche Verteilung von Millionen Tageszeitungen ist eine Meisterleistung für den ansonsten nicht gerade flexiblen Staat. Ein Tag, an dem die Lieferung eines SED-Organs ausgefallen wäre? Mir ist kein einziger bekannt.

Man liest von hinten nach vorn

Die meisten Menschen haben ein Abonnement für 3,40 Mark im Monat, die Zeitung kommt vormittags ins Haus. Das Monopol liegt beim staatlichen Zeitungsvertrieb der Deutschen Post. Ein "Neues Deutschland"-Abo ist für Genossen der SED Pflicht, für Parteilose wegen der gestanzten Floskeln völlig uninteressant. Sie kaufen lieber eine Zeitung der Blockparteien, um wenigstens hier und dort andere Informationen zu erhaschen, etwa über Meldungen aus dem Westfernsehen oder -radio.

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Zensurpolitik: Alles im Griff - die Staatspartei und die Medien

Foto: Siegfried Wittenburg

Die Schlagzeilen sollen grundsätzlich positiv wirken, mitunter wirken sie ungewollt kurios: "1380 Rügener Kollektive erklärten ihren Arbeitsplatz zum Kampfplatz für den Frieden". Zum Westen Deutschlands gibt es stereotype Berichte über steigende Arbeits- und Obdachlosigkeit, über Kriminalität und Drogensucht, untermauert mit kopierten Schlagzeilen: "Wo Menschenrechte mit den Füßen getreten werden".

Wer die Zeitung früh kauft, kann während der Arbeitszeit im Kreise der Kollegen reagieren. Die politischen Inhalte sind in allen Zeitungen gleich, bleiwüstenhaft auf den ersten Seiten platziert. Man liest von hinten nach vorn: Die letzte Seite kreist um lokale Ereignisse; im Innenteil gibt es Neues aus der Kultur, aus der Hauptstadt Berlin und viel über Sport, dazu die Programme des DDR-Fernsehens, der Kinos und Theater.

Donnerstag ist Liefertag

Doch vorwiegend interessieren Tageszeitungsleser die Kleinanzeigen: Wohnungstausch, An- und Verkauf, Auto- und der Heiratsmarkt, Reise und Erholung. Manche Annoncen lassen auf private Schattenwirtschaft und einen florierenden Schwarzmarkt schließen.

  • "Biete altes Bauernhaus, stark rep.-bed., suche 2-Raum-Wohnung"
  • "Tausche Trabant 601 gegen PKW Lada, auch reparaturbedürftig"
  • "Gilt immer: Maler- und Tapezierarbeiten"
  • "Ehepaar mit 2 Kindern sucht Juli/August Urlaubsunterkunft in Wassernähe"
  • "Jg. Mädchen, 19/165, angen. Äußeres, sucht netten jungen Mann nicht unter 1,70"

Jeden Donnerstag bildet sich eine Extra-Schlange vor dem Kiosk: Rentner sind in der Frühe für ihre Familienangehörigen aufgestanden, um sich geduldig und diszipliniert ins "Wartekollektiv" einzureihen. Denn donnerstags kommen die wöchentlichen Illustrierten und monatlichen Magazine.

Um beliebte Blätter wie "Guter Rat", "NBI" oder die "Wochenpost" zu ergattern, entsenden auch umliegende Betriebe rasch einen Kollegen, bevor die Lieferung womöglich ausverkauft ist. Ist der Lieferwagen pünktlich, sind die Papierstapel schnell verteilt. Der entsandte Kollege sammelt in der Werkstatt Münzen ein, die Zeitschriften werden auch untereinander getauscht.

Täglich geht eine Propagandaflut auf die Menschen nieder. Nur wenige Publikationen können sich einen gewissen Freiraum erhalten. So genießen die Kirchen etwas mehr Beinfreiheit; ihre Druckerzeugnisse finden die Öffentlichkeit über interne Wege statt über Zeitungskioske.

Selbstzensur reicht völlig aus

Natürlich liest stets jemand alle Texte, Meldungen und auch Kleinanzeigen mit. Die Inhalte werden zentral gesteuert, öffentlich ausgetragene Konflikte vermieden. Wo der Staat in Veröffentlichungen und Meinungsäußerungen eingreift, geschieht das zumeist in eher subtiler Weise.

"Eine Pressezensur findet nicht statt", hieß es in Artikel 9 der ersten DDR-Verfassung von 1949. Und in den späteren Varianten von 1968 und 1974: "Die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens ist gewährleistet" (Artikel 27). So weit die Theorie. In der Praxis behält die SED auch ohne klar erkennbare Verbote und Streichungen jederzeit die Kontrolle.

Die Menge des importierten Papiers, die Druckereien, die Verteilungsstrukturen, die Vervielfältigungsgeräte, die Ämter zur Erteilung von Druckgenehmigungen, die Ausbildungsstätten von Journalisten und Fotografen - das alles obliegt der Partei, die immer recht hat. Eine offene Zensur mit drastischen Zugriffen braucht sie selten. Die dem "gelernten DDR-Bürger" eingeflößte Angst reicht zur Selbstzensur vollkommen aus.

Alle DDR-Medienschaffenden haben ein ausgeprägtes Gefühl dafür entwickelt, welche Äußerungen Anstoß erregen könnten. Wagt sich ein Herausgeber, Autor oder Redakteur mit einer Meinung zu weit vor, so wird ein vielschichtiges System verdeutlichen, wer letztlich das Sagen hat. Und wenn die Ausrede herhalten muss, dass aus Gründen, die natürlich dem sabotierenden Klassenfeind zugeschrieben werden, das Papier gerade knapp ist und die Auflagenhöhe stark reduziert werden muss. Den Wahrheitsgehalt überprüfen kann niemand.

Für ihre eigenen Printmedien und ihren Buchverlag hat die allmächtige SED immer ausreichend Papier. Die Regierungssicht auf die scheinbar heile Welt des Sozialismus und auf die Weltpolitik, die Losungen für den alljährlichen Massenaufmarsch zum Kampf- und Feiertag der Werktätigen - das muss zuverlässig unters Volk gebracht werden. Flankierenden "Rotlichtbestrahlungen" kann sich kaum jemand entziehen. Die zentralen Druckpunkte der ideologischen Beeinflussung und Machtausübung befinden sich im Arbeits- und im Volkskunstkollektiv, in der Freizeitvereinigung und NVA-Einheit.

"Ganz das Gegenteil von dem, was in den Massenmedien dargestellt wird"

Pluralismus verhindert das zentralistische Dirigat gründlich. Dennoch erscheinen erstaunliche 1770 Zeitungen und Zeitschriften, ein beachtlicher Teil davon wissenschaftlich, in einer Gesamtauflage von 40 Millionen Exemplaren, zudem Abertausende und lesenswerte Buchtitel, sofern sie der undurchsichtig organisierten "kalten Bücherverbrennung" entgangen sind. Doch das ist insgesamt nur ein Zehntel im Vergleich zur Bundesrepublik.

Am 9. September 1989, zwei Monate vor dem Mauerfall, haben bereits Tausende DDR-Bürger die Prager Botschaft besetzt. An diesem Tag schickt das Ministerium für Staatssicherheit an seinen Auftraggeber, die SED, einen umfangreichen und streng geheimen Bericht.

Darin heißt es, das wirkliche Leben sei "ganz das Gegenteil von dem, was in den Massenmedien dargestellt wird". Den Veröffentlichungen über "erfüllte und übererfüllte Pläne" stehe eine "Vielzahl nichterfüllter Wünsche gegenüber". Für solche späte Selbstkritik zum zerrütteten Verhältnis zwischen Staat und Bürgern beschäftigte die SED 89.000 gut bezahlte Festangestellte und 180.000 Zulieferer von Informationen.

Heute sind die Bahnhöfe, die Züge und die Plattenbauten modernisiert. Der marode Betrieb, vor dem der Zeitungskiosk stand, wurde dem Erdboden gleichgemacht. Viele der dort einst Beschäftigten habe eine andere Arbeitsstelle, wurden während der Transformation arbeitslos, sind pensioniert, ausgewandert oder selbstständig. Das wirkliche Leben hat sie oft schmerzlich eingeholt. Und die tägliche Propagandaflut, sie wurde von der Werbung abgelöst.

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