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Mekkas der Moderne - Troja: Schauplatz einer dichterischen Fantasie

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Mekkas der Moderne - Troja Schauplatz einer dichterischen Fantasie

Von Homer besungen, von Archäologen ausgegraben, von Hollywood als Blockbuster inszeniert: Doch reisen Touristen dem Mythos Troja nach, finden sie nicht viel mehr als ein paar verfallene Mauern - Gemäuer bei denen man sich seit kurzem nicht mehr sicher ist, ob sie wirklich zu der sagenhaften Stadt gehören.
Von Justus Cobet

Katholiken haben den Vatikan, Juden die Klagemauer, Moslems Mekka. Aber wo sehen all jene ihren Mittelpunkt, die sich einem anderen Weltbild verpflichtet fühlen: weniger von einem Gott geprägt, sondern eher von Darwin, Newton und Einstein? Gibt es Orte, an denen sich wissenschaftlich orientierte Weltanschauungen manifestieren? Wo sind die Mekkas der Moderne? einestages stellt in Zusammenarbeit mit der Jungen Akademie mehrere dieser Orte vor.

Am Anfang war Homer, erster Dichter des Abendlandes; Troja war der Schauplatz seiner dichterischen Phantasie um einen Konflikt mythischer Helden und das exemplarische Schicksal der schließlich zerstörten Stadt. Das Wissen um diese groß erzählte Geschichte ging nie verloren. Am vorläufigen Ende sehen wir moderne Archäologen und Altertumswissenschaftler untereinander im Streit um Ort und Geschehen und um die Frage, ob wir dem Publikum mit den Ruinen einer vorgeschichtlichen Burg mehr Wirklichkeit bieten können als es das herrliche Wort des Dichters für über zweieinhalb Jahrtausende vermochte. Der Dichter und jüngste Übersetzer der Ilias Raoul Schrott goss soeben Öl ins Feuer mit neuen Thesen zur Person des ursprünglichen Erzählers und zur Lage des Ortes, dessen man sich seit Heinrich Schliemanns Ausgrabungen ganz sicher wähnt. Daran jedenfalls wird auch der neueste Streit vermutlich nichts ändern, wohl aber an unseren Vorstellungen für die Quellen der Inspiration des homerischen Dichters.

Keine wehrhafte Mauer, sondern ein übergroßes hölzernes Pferd begrüßt am Eingang der wohlbehüteten Ruinenstätte die modernen Touristen, die in großer Zahl in einer Tagesreise von Istanbul hierher gefahren werden. Das Pferd ruft den Mythos wach: Der trojanische Prinz Paris raubte einem Griechenfürsten die schöne Helena. Die Griechen zogen gegen Troja, doch erst eine List brachte nach zehn Jahren die Stadt zu Fall. Scheinbar waren die Angreifer abgezogen; die Krieger verbargen sich jedoch im Bauch eines hölzernen Pferdes, angeblich eine versöhnende Weihgabe an die Stadtgöttin; mit dem Pferd zogen die Trojaner ihre Feinde in die Stadt und gaben sie dem Verderben preis.

Vielen ist die Sage um Troja seit Kindheit vertraut; den einen durch Schwabs "Schönste Sagen des Klassischen Altertums", die Homers Epos seit dem 19. Jahrhundert handlich nacherzählen, den andern durch Cerams "Götter, Gräber und Gelehrte", 1949 erster großer Sachbucherfolg der jungen Bundesrepublik; wo Trojas Ausgräber und Entdecker des von ihm so genannten Priamos-Schatzes Heinrich Schliemann zum Gründungshelden der modernen Archäologie gemacht wird. Das hölzerne Pferd vor dem Eingang in die Ruinen ruft die Sage auf und mag manche Enttäuschung auffangen, die aufkommt, wenn die Besucher auf die ergrabenen Fragmente der Burgmauern aus verschiedenen Perioden hinabsehen, deren verwirrende Grundrisse auf Tafeln geordnet werden.

Moderne Wallfahrt

Mit der Ilias, legte Homer in den Jahrzehnten nach 700 vor Christi Geburt den Grundstein für die Literatur und die geschichtliche Erinnerung der Griechen. Könige inszenierten das Gedenken an die homerischen Helden, Touristen suchten ihre Grabhügel auf, Kaiser statteten den Ort der Sage mit Prachtbauten aus. Römer und mittelalterliche Fürstenhäuser leiteten sich von trojanischen Flüchtlingen ab; noch Franz I. von Österreich ließ sich als Nachkomme Hektors feiern. In der Zeit des Kaisers Augustus entstand Vergils Äneas-Epos, lateinischer Rivale der Ilias. Der Krieg um Troja war gemeineuropäisches Gut geworden. Dieses Wissen lenkte den Blick von Pilgern und Kaufleuten bei der Fahrt durch die Dardanellen auf die trojanische Ebene. Bisweilen stiegen sie aus, und ihre Nachfragen erzeugte bei den einheimischen Hirten und Bauern das Wissen, Brocken römischer Mauern stammten von Priamos-Palast. Dieses Wissen gaben sie den nächsten Reisenden weiter.

Eine moderne Wallfahrt in die historische Landschaft ganz anderer Art beginnt um die Zeit der Französischen Revolution - und mit ihr auch ein Krieg ganz anderer Art. Die Zahl der Reisenden wuchs, und zu den revolutionären Veränderungen in Europa gehörte auch ein neuer Sinn für Realität. Die einen wollten wissen: Wo genau liegt der Ort der Sage? Die anderen bezweifelten, ob es einen solchen Ort überhaupt gebe; die Sage müsse nicht Geschichte sein, reale Mauern brauche das Lied des Dichters nicht. Ein neuer Krieg um Troja galt der ersten Frage; Schliemanns Ausgrabungen brachten diesen nach drei Generationen zu einem Ende. Sein Sieg schien auch die zweite Frage zu erledigen. Doch flammen die Kämpfe darum bis heute immer wieder wie von neuem auf. Verbürgen Trojas Mauern denn nicht die Geschichtlichkeit der Sage? Und darüber hinaus: führte der Spaten nicht näher an die Realität als es der Text, geleitet von der Phantasie des Dichters, vermochte?

Eindrucksvoller als die Ruinen selbst erscheint vielen Besuchern der mächtige Graben, den der Kaufmann Heinrich Schliemann 1871 quer durch den Siedlungshügel treiben ließ. Er tat das ohne besondere Rücksicht auf die jüngeren Schichten auf der fieberhaften Suche nach dem Palast des Königs Priamos, den er ganz in der Tiefe erwartete. Hier fand er einen reichen Hort von Metallgefäßen und Schmuck aus Gold und Silber, und er glaubte, den Schatz des Priamos in Händen zu halten. Später stellte sich heraus, dass Schliemanns Funde 1000 Jahre tiefer lagen als die Mauern, die von seinen grabenden Nachfolgern bis heute mit der Sage verknüpft werden.

Beweisführung mit Spaten und Spitzhacke

Bald wurden Troja und Schliemann zum weltweiten Gesprächsstoff dank spektakulärer Funde wie des Priamosschatzes (1873), vor allem aber dank seiner beispiellosen Publikationstätigkeit in Zeitungen und Büchern um die von Jahr zu Jahr wieder fast gelösten Rätsel, die die Mauern Trojas bargen. In diesen Publikationen stilisierte er publikumswirksam seine Biographie vom armen Pfarrerssohn, der seinen Traum, einst Troja wieder ans Licht zu holen, nur über den Umweg der Geschäfte zu verwirklichen gemocht habe. Von der Frau seiner Zeit als Kaufmann in St. Petersburg trennte er sich, heiratete eine junge Griechin, "meine homerische Frau", und führte in Athen ein großes Haus. Das Ehepaar empfing 1881 Schliemanns Ehrenbürgerwürde der jungen Reichshauptstadt Berlin, nachdem sie die Trojanischen Schätze dorthin verbracht hatten - vieles davon hüten heute Petersburg und Moskau.

"Möge diese Forschung mit Spitzhacke und Spaten mehr und mehr beweisen", schrieb Schliemann 1880, "daß die in den göttlichen Homerischen Gedichten geschilderten Ereignisse keine mythischen Erzählungen sind, sondern auf wirklichen Thatsachen beruhen [...]". Die Handgreiflichkeit der archäologischen Beweise - auch damit gewann Schliemann sein Publikum - müsse die "Kathederweisheit" der Gelehrten besiegen. Die Ausgräber Trojas nach Schliemann folgten ihm in seiner Grundannahme und stehen darum mit Philologen und Historikern im Streit. Denn die durch Schliemanns Spaten beschämten Gelehrten waren auf einer erfolgversprechenden neuen Spur. Der Dilettant hatte sich und das staunende Publikum mit seiner naiven Gleichung von Text und Ruine in eine methodische Falle gelockt. Die aufgeklärte historisch-philologische Kritik an den geschichtlichen Erzählungen des Alten Testaments war vorangegangen und ist inzwischen, im 21. Jahrhundert, so weit fortgeschritten, dass sie nur noch Fundamentalisten eins zu eins lesen. Auch Homers Epos ist seitdem immer mehr als eine vielschichtige Erzählung aus kunstvoll verknüpften Motiven unterschiedlicher Herkunft analysiert worden. Dass die Ilias in den zu des Dichters Zeit mächtig anstehenden Ruinen der spätbronzezeitlichen Mauern Trojas spielt, beweist nicht, dass diese Mauern einst erlebten, was er erzählt. Auf welche "Tatsachen" der Stoff der Ilias zurückgreift, darüber streiten sich die Gelehrten bis heute.

Raoul Schrotts angekündigtes Trojabuch verlegt den Ort der Sage nach Kilikien ganz im Südosten der Türkei. An der Lage Trojas an den Dardanellen, dem antiken Hellespont, lässt die Ilias allerdings keinen Zweifel zu. Doch hat die von Schrott bereits entfachte Debatte nicht zu jedermanns Gefallen die Bezüge der Ilias zu Texten aus den Keilschriftbibliotheken Mesopotamiens, auch dem Alten Testament, ins grelle Licht unserer Aufmerksamkeit gerückt: orientalische Inspirationen unseres griechischen Dichters? Der Text gewinnt gegen den Spaten Terrain zurück.

Ganz anders vereinnahmt die moderne Türkei, ihren EU-Beitritt im Blick, die bronzezeitliche Ruine. Vordergründig setzt sie Ort und Dichtung gleich, um "die Wiege Europas" für sich zu reklamieren. Seit 1996 ist Troja ein "Historischer Nationalpark" und "Weltkulturerbe" seit 1998. Noch finden sich im Gelände Spuren der Schützengräben von 1915; der Militärposten an der Einfahrt in die Meerenge wurde erst in den letzten Jahren abgezogen. Eine Brücke über die Dardanellen steht in Aussicht. Troja würde nach Verlassen Europas zur ersten Raststätte in Asien.

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Hilmar Schmundt (Hrsg.):
Mekkas der Moderne

Pilgerstätten der Wissensgesellschaft.

Böhlau-Verlag; 424 Seiten; 24,90 Euro.

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Mekkas der Moderne im Internet 

Justus Cobet ist Professor am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen
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