

Jeder, der schon mal darunter gelitten hat, weiß: Heimweh ist ein Gefühl, gegen das man sich kaum wehren kann. Dass Heimweh sogar die Kraft haben kann, militärische Großoperationen zum Wanken zu bringen, zeigen jetzt von den National Archives veröffentlichte Dokumente des britischen Geheimdienstes MI5.
Die 137 Top-Secret-Akten stammen aus der Zwischenkriegszeit, dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit bis in die Mitte der Sechzigerjahre. Darunter befinden sich auch Schriftstücke zu Juan Pujol Garcia, einem der wichtigsten Doppelagenten des Zweiten Weltkriegs.
Pujol Garcia, genannt "Garbo", von Haus aus spanischer Hühnerzüchter, war der Mann, dem es gelang, die Nazis zu foppen. Indem er ihnen im Auftrag des britischen Geheimdienstes gezielt Falschinformationen über eine angebliche Landung der Alliierten bei Calais zuspielte, trug er wesentlich zum Erfolg des D-Day am 6. Juni 1944 bei. Die jetzt publik gemachten MI5-Akten zeigen: Es gab einen Moment, in dem Doppelagent "Garbo" beinahe aufgeflogen wäre - weil seine heimwehkranke Ehefrau die Nerven verloren hatte.
Abneigung gegen englisches Essen und Wetter
"Ich möchte keine fünf Minuten länger mit meinem Mann zusammenleben", brüllte Araceli Gonzalez de Pujol bei einem Treffen mit Tomás Harris, wie der MI5-Mitarbeiter in einem Bericht über "Mrs. G.'s akutes Heimweh" schrieb.
Die Ehefrau von Doppelagent "Garbo" habe kein Englisch gelernt und sich nie an die englische Lebensart und das Wetter gewöhnt, so Harris. Besonders fürchterlich fand Araceli Gonzales das Essen: "Zu viele Nudeln und Kartoffeln, zu wenig Fisch." Aus Angst davor, verraten zu werden, verbot "Garbo" seiner Frau, sich mit anderen Spaniern zu treffen. Er zwang sie, das vom MI5 gestellte Haus im Norden Londons möglichst nicht zu verlassen.
Wie die MI5-Dokumente belegen, drohte Araceli Gonzales nach einem erbitterten Streit mit ihrem Ehemann im Juni 1943, zur spanischen Botschaft zu gehen und dort die Geheimdienstaktivitäten "Garbos" auszuplaudern.
Die Frau des Doppelagenten geriet zusehends außer Kontrolle - bis der begnadete Trickser und Täuscher Pujol Garcia einen perfiden Plan ersann, um sie mundtot zu machen. "Garbo" schlug vor, seine eigene Gefangennahme zu inszenieren, und verschwand spurlos.
Am Tag, nachdem Araceli Gonzales damit gedroht hatte, zur Botschaft zu gehen, tischten MI5-Mitarbeiter der heimwehkranken, einsamen Spanierin das Märchen auf, Pujol Garcia sei aufgrund ihrer kompromittierenden Aussagen eingesperrt worden. Araceli Gonzales fiel auf die Lüge herein und war so verzweifelt, dass sie das Gas in der Küche ihres Hauses aufdrehte und damit drohte, sich und die zwei Kinder umzubringen. Was dann aber nicht geschah.
Angelogen, eingeschüchtert, gefügig gemacht
Am nächsten Nachmittag verband man Araceli Gonzales die Augen und fuhr sie in das MI5-Camp 020 im Süden Londons. Dort wurde sie zu ihrem Mann gebracht, der unrasiert war und Lagerkleidung trug. "Sie versprach, alles zu tun, um ihn bei seiner Arbeit zu unterstützen, wenn er nur freigelassen würde", notierte Harris in seinem Bericht. "Dann verließ sie Camp 020, etwas gefestigter, aber noch immer weinend."
Um Araceli Gonzales vollends einzuschüchtern, brachte man die Agentengattin anschließend zu MI5-Major Edward Cussen, wie Harris schrieb: "Er erinnerte sie daran, dass er seine Zeit nicht weiter mit lästigen Menschen vergeuden wolle und dass er anordnen würde, sie einzusperren, sollte ihr Name ihm gegenüber noch einmal erwähnt werden."
Fortan hielt Araceli Gonzales still. "Garbo" konnte weiterhin unbehelligt seine Falschinformationen streuen und die Alliierten konnten an ihrer "Operation Fortitude" tüfteln: jenem gigantischen Täuschungsmanöver zur Verschleierung der Invasion in der Normandie.
Der D-Day war gerettet - die Ehe des Doppelagenten und seiner Frau ruiniert. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte Pujol Garcia, dem die Nazis in ihrer Dankbarkeit das Eiserne Kreuz verliehen hatten, mit Hilfe des MI5 außer Landes. Er inszenierte seinen eigenen Malaria-Tod, tauchte in Venezuela unter und arbeitete dort als Buchhändler. "Garbo" starb 1988.
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Schlüsselrolle: Schiffe liegen 1944 vor einem Brückenkopf an der Küste der Normandie. Juan Pujol Garcia spielte den Nazis gezielt Falschinformationen des MI5 zu, gaukelte ihnen so vor, die Alliierten würden eine Landung in Calais planen - und ermöglichte dadurch das Gelingen des D-Day.
Massenaufgebot: Einige der Alliierten-Schiffe, die sich zu Tausenden im Juni 1944 vor der französischen Küste versammelten, aufgenommen am 9. Juni. Das Gelingen der Militäraktion war nicht zuletzt dem MI5 zu verdanken, dem es gelungen war, Juol Pujol Garcias hysterische Frau wieder unter Kontrolle zu bekommen - mittels eines Tricks.
Leichtgewicht: Nach dem D-Day nutzten die Allierten zum Teil kuriose Tricks, um die deutsche Wehrmacht einzuschüchtern. Hierzu gehört etwa der Einsatz einer sogenannten "Geisterarmee", die mit aufblasbaren Panzern und Trucks eine größere Truppenstärke suggerieren sollte, als tatsächlich vorhanden war.
Luftnummer: Das aufblasbare Modell eines Sherman-M4-Panzers, aufgenommen 1944. Indem sie taktisch Gummipanzer aufstellten, wollten die Allierten bei der deutschen Luftaufklärung den Eindruck erwecken, die Landung der Alliierten erfolge nicht in der Normandie.
Juan Pujol Garcia: Um seine wütende Frau in den Griff zu bekommen, die seine Arbeit aufzudecken drohte, musste er hinter Gitter - wenn auch nur zum Schein.
Landung im Feindesland: US-Truppen gehen am D-Day in der Normandie an Land. Es sei "ziemlich hart zur Sache gegangen", beschrieb William E. Jones, US-Soldat in der 4. Infanteriedivision, später das blutige Gefecht.
Operation "Overlord": Am Morgengrauen des 6. Juni 1944 hatten die Alliierten und ihre Verbündeten mit der Operation "Overlord" begonnen, dem größten Landungsunternehmen der Geschichte. Das Foto zeigt US-amerikanische Infanteristen, die an der Küste der Normandie an Land gehen.
Schlachtfeld in der Normandie: Teil des US-amerikanischen Landungsabschnitts im Raum Cherbourg - Blick auf einen Teil der Invasionsflotte und bei Ebbe anlandende Kräfte, darüber Sperrballons (Foto von Juni 1944). Zunächst an den Stränden, dann in der normannischen Landschaft lieferten sich die Alliierten und die deutschen Truppen am 6. Juni 1944 einen der erbittertsten Kämpfe des Zweiten Weltkrieges.
D-Day: Britische Truppen bei der Landung am 6. Juni 1944 im Abschnitt "Gold" an der Küste der Normandie.
Gefechtsübung: US-amerikanische Fallschirmjäger üben in England in Vorbereitung der Landung in der Normandie. Foto von März 1944.
Über dem Feind: Ein US-Zerstörer wirft am 6. Juni 1944 vor dem Landungsabschnitt in der Normandie Wasserbomben gegen ein geortetes deutsches U-Boot.
Landung der Alliierten: Britische Elitetruppen, Royal Marine Commandos der "4. Special Services Brigade", verlassen am D-Day im Abschnitt "Sword" ihre Landungsschiffe.
Erste Kämpfe nach der Landung: US-Infanteristen nehmen Deckung vor deutschen Scharfschützen. Alliierte Soldaten sollen in einem größeren Ausmaß als bisher angenommen Kriegsverbrechen in der Normandie begangen haben.
Nach der Landung: Britische Kriegsgefangene unter der Bewachung von Angehörigen der Waffen-SS, aufgenommen im Juni 1944 in der Normandie.
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