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"Entweder der Film fliegt raus oder ich fliege heim" - der Berlinale-Eklat

Foto: Houwer-Film/ ddp images

Filmskandal 1970 Als ein bayerisches Vietnam die Berlinale sprengte

Sein Antikriegsfilm "o.k." führte vor 50 Jahren zum ersten und einzigen Abbruch der Berlinale. Hier spricht Regisseur Michael Verhoeven über verbohrte Lügner und poetische Ärzte.

Fünf GIs langweilen sich im Wald. Bis ein Mädchen auf einem Rad vorbeifährt. Es wird angehalten, betatscht, vergewaltigt. Und ermordet. Nur einer der Soldaten macht nicht mit, kann die Untat aber auch nicht verhindern. Sein Captain befiehlt ihm zu schweigen. Die Täter werden später verurteilt, die Urteile jedoch in Berufungsverfahren immer weiter abgemildert.

Michael Verhoevens verstörendes Schwarz-Weiß-Opus "o.k." beruht auf einem realen Kriegsverbrechen : Am 18. November 1966 verschleppten vier GIs einer Patrouille die junge Südvietnamesin Phan Thi Mao, vergewaltigten sie stundenlang und ermordeten sie am nächsten Morgen. Der fünfte Soldat versuchte über Wochen vergebens, das Verbrechen zu melden. Der Fall wurde erst aufgerollt, als er sich einem Militärkaplan anvertraute.

Regisseur Verhoeven holte das Thema Vietnamkrieg nach Deutschland, indem er die Handlung nach Bayern verlegte. Wegen der Kontroverse um "o.k." wurde die Berlinale 1970 abgebrochen - einmalig in der Geschichte des Filmfestes. Am Freitagabend wird "o.k." im Rahmen der Berlinale erneut aufgeführt, viele damals Beteiligten werden sich wiedertreffen. Im Zentrum: Regisseur Michael Verhoeven, 81 Jahre alt, verheiratet mit der Schauspielerin Senta Berger.

SPIEGEL: Bei der Berlinale 1970 wurden keinerlei Preise vergeben, Ihr Film "o.k." führte zum Aus des Filmfestivals.

Verhoeven: Stimmt nicht ganz. Die Berlinale ging nicht an meinem Film zugrunde, sondern an den Lügen des Dr. Bauer. Der Festivaldirektor hatte alle getäuscht. Als das rauskam, zogen die Regisseure ihre Filme aus Protest zurück.

SPIEGEL: Bitte erklären Sie das genauer. 

Verhoeven: Als "o.k." am 30. Juni 1970 im Zoopalast gezeigt wurde, waren die Zuschauer begeistert. Die vor allem jungen, gegen den Vietnamkrieg eingestellten Menschen haben den Film enthusiastisch gefeiert. Beseelt von unserem Erfolg wollte ich am Abend mit den Schauspielern essen gehen. Doch in der Brasserie wies man uns ab mit den Worten: "Hier kommen Sie nicht rein."

SPIEGEL: Warum?

Verhoeven: Es stellte sich raus, dass das Restaurant dem Filmemacher Manfred Durniok gehörte, einem Jury-Mitglied der Berlinale, er hatte meinen Film wutschnaubend verlassen. Eine Cutterin beobachtete die Szene vor dem Restaurant und steckte mir die Information zu, dass etwas gegen "o.k." im Gange sei. Wie wir erfuhren, lehnte der Jury-Präsident, "Giganten"-Regisseur George Stevens, den Film als antiamerikanisch ab. Ein Missverständnis.

SPIEGEL: "o.k." ist eindeutig ein Film gegen den Vietnamkrieg.

Verhoeven: Ja, aber doch nicht antiamerikanisch! Es ging nicht nur um die USA, sondern auch um die Deutschen, um unsere viel zu gleichgültige Haltung zu diesem Krieg. Im SPIEGEL las ich vom Verbrechen an der jungen Südvietnamesin und machte ein Theaterstück daraus. Das habe ich dann fast 1:1 verfilmt, nach elf Drehtagen waren wir fertig. Ich habe das Thema bewusst in den Grünwalder Forst südlich von München verlegt, wo ich lebe, alle Schauspieler sprechen Bayerisch.

SPIEGEL: George Stevens wollte "o.k." dennoch verhindern.

Verhoeven: "Entweder der Film fliegt raus oder ich fliege heim", drohte er der Berlinale-Leitung. Das erzählte uns Jury-Mitglied Dušan Makavejev, ein serbischer Regisseur und Befürworter von "o.k.". Wir konfrontierten Bauer am Morgen nach der Aufführung des Films damit, ohne freilich Makavejev bloßzustellen. Doch Bauer leugnete alles.

SPIEGEL: Wieso log er?

Verhoeven: Bauer wollte einen Eklat innerhalb der Jury vermeiden. Es kam zu Dutzenden Pressemitteilungen, die ganze Stadt war im Aufruhr. Vietnam war ein Aufreger wie derzeit das Klima, ein Thema, das alle bewegte. Auch die Filmfestspiele in Cannes platzten ja im Mai 1968 wegen Vietnam, überall gärte es.

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"Entweder der Film fliegt raus oder ich fliege heim" - der Berlinale-Eklat

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SPIEGEL: In Frankreich forderten die Regisseure den Festspiel-Abbruch, um ihre Solidarität mit den demonstrierenden Arbeitern und Studenten kundzutun. In Berlin 1970 indes wurden Sie von wildfremden Menschen angefeindet, als "Kommunist" beschimpft, bespuckt.

Verhoeven: Es ging ja nicht gegen mich, sondern gegen einen, der vermeintlich Amerika angreift. Gerade in der geteilten Stadt Berlin waren viele der Meinung: Die Amerikaner haben so viel für uns getan. Denken Sie etwa an die Luftbrücke.

SPIEGEL: Wie ging der Streit weiter?

Verhoeven: Wir warfen der Festivalleitung Täuschung vor, die bezichtigte uns der Lüge. Es stand Wort gegen Wort. Schließlich outete sich unser Informant Makavejev und bestätigte per Telegramm unsere Vorwürfe. Die Stimmung in diesem großen Saal nach der Verlesung des Telegramms war einfach wunderschön. Fremde Menschen lagen sich in den Armen, man hatte das Gefühl: Endlich kommt die Wahrheit ans Licht!

SPIEGEL: Die überführte Festivalleitung trat zurück, die Regisseure zogen ihre Filme zurück - die Berlinale war am Ende.

Verhoeven: Was auch sein Gutes hatte. Endlich wurde diskutiert, das veraltete Konzept der Berlinale infrage gestellt. Und das Internationale Forum des Jungen Films gegründet, eine gleichberechtigte Parallelveranstaltung, offener für das innovative, politisch-provokante Kino.

SPIEGEL: Im Januar 2020 schrieb die "Zeit" über die Position Bauers im NS-Machtapparat. Die Berlinale gab daraufhin ein Gutachten in Auftrag, um die Rolle ihres Gründungsdirektors näher zu erforschen, zudem will man den nach Bauer benannten Preis aussetzen. Hat seine SA-Vergangenheit Sie überrascht?

Verhoeven: Nein, das ist eine schöne Pointe, geradezu filmreif (lacht). Überrascht hat mich, dass Bauer so lange durchkam mit seiner erlogenen Biografie. Das ist nur möglich, wenn man Getreue hat, die einen decken. Nach 1945 gab es viele Nazis in wichtigen Funktionen, nicht nur in der Filmbranche. Das "Dritte Reich" war erst mit der Studentenbewegung so richtig am Ende.

SPIEGEL: Auch Ihr Vater, der Schauspieler und Regisseur Paul Verhoeven, war zwischen 1933 und 1945 für den deutschen Film tätig.

Verhoeven: Er galt als Komödienspezialist, der für Propagandafilme nicht infrage kam - es fiel nicht einmal unangenehm auf, dass er nicht in die Partei eintrat. Allerdings hatte ich in den Fünfzigerjahren Auseinandersetzungen mit meinem Vater. Ich hielt ihm vor, dass er auch mit den harmlosen und geistreichen Komödien, die ihn vor einem Mitmachen bewahrt haben, das Nazisystem nicht infrage gestellt, sondern indirekt unterstützt habe.

SPIEGEL: Ihr Vater war empört, als Sie den Wunsch äußerten, Medizin zu studieren. Wieso?

"Du hast doch dieses Talent", sagte mein Vater, "das bist du dem doch schuldig!"

Verhoeven: Mein Vater, meine Mutter, meine Schwester, mein damaliger Schwager Mario Adorf, alle in meinem Umfeld hatten mit dem Schauspielberuf zu tun. Ich wollte aber noch suchen, meinen eigenen Weg gehen. Es kam zu einer großen Krise in der Familie.

SPIEGEL: Und Sie sind zurückgekehrt zum Film.

Verhoeven: Na ja, bis Ende 1972 habe ich ja beides gleichzeitig gemacht, noch während der Olympischen Spiele in München war ich als Notarzt im Einsatz. Ich war auch 1969 ein halbes Jahr lang als Mediziner in Hollywood tätig, während Senta mit Orson Welles gedreht hat, eine herrliche Zeit. Allerdings war ich verwundert, dass der Vietnamkrieg damals kaum ein Thema war im Alltag. Im US-Fernsehen kam der Krieg so gut wie nicht vor, meine Arztkollegen waren nicht sehr informiert.

SPIEGEL: Parallel zu Ihrer Tätigkeit als Mediziner drehten Sie 1969 bereits ein erstes Anti-Vietnam-Statement.

Verhoeven: Der absurde Streit über die Form des Verhandlungstisches verzögerte 1969 die Vietnam-Gespräche in Paris. Ich sah das als zynisch an und machte spontan den Kurzfilm "Tische".

SPIEGEL: Was haben Ärzte und Filmemacher gemeinsam?

Verhoeven: Beides sind die Berufe von Suchenden, beide erfordern eine große Passion. Sie blicken in die Seele und ins tägliche Leben der Menschen. Denken Sie an all die schriftstellerisch tätigen Ärzte: Arthur Schnitzler, Anton Tschechow, Alfred Döblin, Georg Büchner - und natürlich der gute alte Friedrich Schiller.

SPIEGEL: "o.k." war nicht der einzige Film, mit dem Sie für Schlagzeilen sorgten. "Die weiße Rose" wurde 1982 sogar fürs Ausland verboten.

Verhoeven: In meinem bewusst provokanten Nachspann griff ich den Skandal auf, dass der Bundesgerichtshof die Verurteilung der Widerstandsgruppe Weiße Rose durch den sogenannten Volksgerichtshof nie revidiert hat. Das nahmen mir einige Eliten als Angriff auf ein Verfassungsorgan übel. Das Auswärtige Amt und das Justizministerium griffen ein, der Film wurde fürs Ausland verboten. Im Bundestag wurde gelogen, bis Menschen aus dem Familienumfeld der Weißen Rose bei Außenminister Genscher protestierten. Die SPD brachte eine Entschließung für meinen Film ein, am 25. Januar 1985 erklärte der Bundestag endlich, dass der Volksgerichtshof kein ordentliches Gericht war, sondern ein Terrorinstrument in juristischer Hülle.

SPIEGEL: Die NS-Diktatur und deren Verdrängung gehört zu Ihren großen, immer wiederkehrenden Themen.

Verhoeven: Allerdings konnte ich ganz aktuell ein mir sehr wichtiges Kinoprojekt dazu nicht realisieren, an dem ich zehn Jahre gearbeitet habe. Die Geschichte spielt 1944 in Budapest und schildert, was dort nach dem deutschen Einmarsch mit einem jüdischen Mädchen passierte. Vorlage war der US-Bestseller von Magda Denes, eine Autobiografie namens "Brennende Schlösser".

SPIEGEL: Woran ist die Verfilmung gescheitert?

Verhoeven: Im Ausland gab es ein großes Interesse an Kooperationen - in den Redaktionen der deutschen TV-Anstalten jedoch hielt man das Thema offenbar für auserzählt. Und weil Projekte fürs Kino ohne Beteiligung eines Senders nicht förderungswürdig sind, hatten wir nicht genug finanzielle Mittel.

SPIEGEL: Weil man des NS-Themas überdrüssig war?

Verhoeven: Genau. Aber die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte wird nie zu Ende sein, darf nie zu Ende sein. Denn das würde ja heißen, dass man das Thema verleugnet. Woran ja gerade in letzter Zeit eine wachsende Anzahl von Menschen in diesem Land ein starkes Interesse haben. Das ist fatal.

SPIEGEL: Zeit für einen neuen Verhoeven-Film?

Verhoeven: (lacht) Ja, wahrscheinlich muss ich mich da noch mal einmischen.

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