
Die beste Schule der Nation: "Militärische Manneszucht"
Militarismus im Kaiserreich Die Stolzen und die Toten
Es ist eine sehr feine Ballgesellschaft, die da im kaiserlichen Potsdam das Ende eines erfolgreichen Manövers feiert. Eine Kapelle spielt, die Damen tragen Robe, die Herren überwiegend Ausgehuniform. Eine blonde Sängerin im blauen Rock der Gardegrenadiere schmettert ein Liedchen auf die Wehrkraft der Kürassiere. Die Herrschaften sind amüsiert, der stolze Herr Papa applaudiert. Die Offiziere eilen mit Champagner herbei.
Nur Willy, der Bruder der blonden Künstlerin, trägt zwischen Schulterstücken und Kragenspiegeln die reine Melancholie im Gesicht, zum Missfallen seines Vaters. Mit hängenden Schultern hockt er abwesend am Tisch, die dunklen Locken von einem Mittelscheitel in zwei Hälften getrimmt, die traurigen Dackelaugen gesenkt - da ist so gar nichts Soldatisches an dem jungen Mann. "Willy, steh auf, da kommt der Herr Kommandeur." Willy springt auf. "Willy, setz dich." Willy sinkt wieder zusammen. "Los Willy, schenk ein." Willy zittern die Hände. Und dann kommt's. "Sitz nicht so rum Willy", schnauzt der Vater, "siehste denn nicht, dass der Herr Oberleutnant rauchen will? Auf die Art wirste nie Reserveoffizier."
Und das wäre schlecht. Denn Vater Wormser ist zwar Kommerzienrat und ein angesehenes Mitglied der Potsdamer Bürgerschaft. Aber Aristokrat, wie die meisten höheren Offiziere, ist der Aufwärtsstrebende nicht. Um diese Scharte auszuwetzen, käme ihm das Reserveoffizierspatent seines Sohnes gerade recht, als Eintrittskarte in bessere Kreise. Davon träumt der Herr Kommerzienrat. Womöglich könnte die kecke Tochter am Ende einen Adligen heiraten. Das wäre der Ritterschlag für die Familie.
So sah sie aus, die wilhelminische Ständegesellschaft, als der gelernte Schuhmacher und mehrfach vorbestrafte Wilhelm Voigt 1906 in der Verkleidung eines Hauptmanns des preußischen Ersten Garderegiments ein bühnenreifes Gaunerstück ablieferte und es als "Hauptmann von Köpenick" zu Weltruhm brachte. Mühelos marschierte der falsche Offizier an niederen Diensträngen vorbei, die bei seinem Anblick salutierten und ihm unterwürfig halfen, das Rathaus von Köpenick zu besetzen, den Bürgermeister in Gewahrsam zu nehmen und die Stadtkasse zu beschlagnahmen. Alles was er brauchte, damit die auf Befehl und Gehorsam eingeschworenen preußischen Verwaltungsbeamten vor ihm stramm standen, war eine halbwegs passende Uniform. Die war nach dem Auftritt der Sängerin beim Trödel gelandet, wo der kleine Schuster sie nebst weiteren dienstgradgemäßen Utensilien erstand.
Gewiss hat Regisseur Helmut Käutner die historische Köpenickiade in seinem Film nach dem Theaterstück von Carl Zuckmayer unterhaltsam ausgeschmückt. Und doch illustrieren Figuren wie der tragikomische Hauptmann und der drangsalierte Willy in traurigster Wahrhaftigkeit, wie schnell jemand, der im soldatisch durchwirkten Deutschen Kaiserreich unangepasst erschien, zum Deppen wurde.
Wenn er Glück hatte. Wer im Inneren von Kompanie und Regiment unangenehm auffiel, war der Willkür diensthöherer Ränge hilflos ausgeliefert. Soldaten konnten seelisch und körperlich gequält, drakonisch bestraft und für ihr Leben beschädigt werden.
Ein Beispiel gab August Bebel 1890 in einer Reichstagsrede zum Militarismus. Einem Rekruten, dem beim Exerzieren die Hand angeschwollen war, befahl der Unteroffizier, warme Bäder zu nehmen. Als das nichts half, zwang der Vorgesetzte den Untergebenen mit vorgehaltenem Knüppel, seine Hand in Anwesenheit der Kameraden eine Stunde lang in einen Kessel heißes Wasser zu legen, bis das Fleisch von den Fingern hing.

Die beste Schule der Nation: "Militärische Manneszucht"
Die entsetzliche Misshandlung war nicht etwa eine einzigartige Entgleisung. Es war eine alltägliche, charakteristische Begebenheit für die Verhältnisse jener Zeit. Wie alltäglich, das zeigt die Entscheidung des Militärgerichts in dem Fall: Das Opfer wurde als Invalide mit monatlich neun Mark Pension aus dem Militärdienst entlassen. Der Unteroffizier wurde mit drei Monaten Haft bestraft. Und durfte weiter schikanieren.
Er durfte. Denn möglich wurde die Gewalt innerhalb des Militärs, weil die wilhelminische Gesellschaft die Zustände nicht nur akzeptierte, sondern sogar glorifizierte. Das Alltagsbewusstsein war bestimmt von einem "fast fanatischen Glauben an den Wert der Armee, an ,soldatische Tugenden'", analysierte der in Köln geborene Kulturanthropologe Emilio Willems, der Emil hieß, bis er Deutschland 1931 verließ und später in den USA Soziologie lehrte.
In der Überzeugung, die Armee sei die beste Schule der Nation, fieberten junge Männer ihrer Einberufung entgegen. "Methode und Ordnung, Mäßigkeit und Ausdauer, Vereinigung und Unternehmungsgeist", wie sie die "militärische Manneszucht" hervorbringe, "das sind die Tugenden, die in Werkstätte, im Studierzimmer, in Contoir oder im Feldlager den Erfolg im Leben fördern". So schwärmte 1885 der Offizier und Militärhistoriker Max Jähns.
Dabei schien es nur die SPD zu stören, dass die Zustände in der Armee allen Regeln eines menschenwürdigen Zusammenlebens widersprachen. Bis zu 20.000 junge Männer flüchteten laut Bebel Jahr für Jahr - und wurden vor Gericht gestellt. Wer dem Drill nicht gewachsen war oder am Sinn von Peinigungen zweifelte, konnte von Glück sagen, wenn er mit dem Leben davonkam.
Woher wohl "die ungeheure Zahl der Selbstmörder" komme, fragte Bebel in seiner Reichstagsrede rhetorisch, "die wir allmonatlich in unserer Armee aufzuweisen haben". Und er verwies zur Antwort auf Zeitungsberichte über "Soldatenmisshandlungen, die geradezu haarsträubender Natur" seien.
Selbst wer, wie so viele, freiwillig und voller Idealismus seinen Dienst antrat, war vor Schikane nicht sicher. So wurde in Magdeburg ein 18-jähriger Musketier von seinem Unteroffizier dermaßen geschlagen und gewürgt, dass er sechs Wochen ins Lazarett musste. Nach der Entlassung prügelte der Vorgesetzte mit der Peitsche weiter, zwei Gefreiten wurde befohlen, auf ihren Kameraden einzuschlagen - sie gehorchten. Der so gedemütigte und schwerverletzte junge Mann erhängte sich.
Im Mittelalter, erklärte Bebel den Abgeordneten, war das Tragen von Waffen "das Zeichen eines freien Mannes, ein wehrfähiger Mann zu sein"; im Kaiserreich hingegen laufe das militärische System "auf die Unterdrückung jeder selbständigen Tugend hinaus".
Wie war es möglich, ein halbes Jahrhundert nachdem liberale und demokratische Ideen viele Bürger bewegt hatten, dass die krude Wertewelt des Militarismus nicht nur die Armee, sondern die deutsche Gesellschaft beherrschen konnte? Warum machten sich weite Teile der Bevölkerung aller sozialen Schichten die Willkürgesetze und den Machtanspruch einer selbstherrlichen Kaste zu eigen, deren Privilegien auf Unterdrückung und Erniedrigung gründeten?
Die Revolutionäre von 1848 hatten der Institution des Militärs demokratische Strukturen aufzwingen wollen. Soldaten und Offiziere sollten danach ihren Treueeid auf die Verfassung, nicht mehr auf den Monarchen schwören und somit vom Parlament kontrolliert werden. Die oberen Dienstgrade wären nach den Reformplänen von Untergebenen gewählt worden, alle Heeresangehörigen sollten an allgemeinen Wahlen teilnehmen. Die radikalsten Forderungen der 48er: Auflösung der königlichen Garde, Abschaffung der Militärakademien und der Ehrengerichte. Und eine aus heutiger Sicht kurios anmutende Praxis sollte entfallen: die restriktiv gehandhabte Heiratsbewilligung für Offiziere.
Derart umstürzlerische Ansinnen gingen Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. zu weit. Der blutige Sieg seiner Truppen über die Revolutionäre stärkte die Rolle des Militärs als Hüter von Recht und Ordnung - und zementierte die zahlenmäßig ohnehin überlegene Einheitsfront aus Monarchie, Adel, Klerus und Beamtenschaft gegen jedwede Demokratisierung.
Von Militarismus war um die Mitte des 19. Jahrhunderts dennoch keine Rede. Die Bourgeoisie, die seit dem Tod Friedrichs des Großen stetig an Einfluss gewonnen hatte, hielt Distanz zum Militär, das in höheren Dienstgraden noch immer überwiegend adlig war. Die aristokratischen Offiziere ihrerseits pochten gegenüber bürgerlichen Begehrlichkeiten auf ihre Vormachtstellung.
Die Wende kam mit den Einigungskriegen zwischen 1864 und 1871. Die triumphalen Siege über Dänemark, Österreich und Frankreich steigerten das Selbstbewusstsein der Militärs zur Selbstherrlichkeit und entfachten im Volk, das begierig nach Symbolen einer neuen, deutschen Identität suchte, einen Begeisterungstaumel für die siegreiche Armee. Die Angehörigen dieser Schicht mitsamt ihren fragwürdigen Umgangsformen avancierten zu einer eigenen kultur- und wertestiftenden Klasse.
Den preußischen Junkern, daran gewöhnt, an der Spitze von Gesellschaft und Militär zu stehen, kam dies gelegen: 1500 von ihnen wurden zwischen 1888 und 1914 in einflussreiche Ämter berufen. Die neue Geldelite aus Industriellen, Bankiers und Kaufleuten unterschied sich zwar von den traditionellen Eliten; wer jedoch nach Höherem strebte, wie der literarische Kommerzienrat Wormser, äffte die Aristokratie nach. Der Reserveoffizier, so der Historiker Eckart Kehr, wurde zum zentralen "Mittel sozialer Assimilation an den Militärstaat".
Umgekehrt wirkten die Errungenschaften der Offizierserziehung zurück in die zivile Gesellschaft. Stramme Haltung, eine scharfe Stimme, zackige Begrüßungen, kurz: der Schneid eines Uniformträgers bestimmte auf Generationen das Männlichkeitsbild - und das Bild des typischen Deutschen in der Welt. Noch 1961, im Jahr des Mauerbaus, genügte es Filmregisseur Billy Wilder in seiner Ost-West-Komödie "Eins, zwei, drei" vollkommen, den deutschen Assistenten jedes Mal die Hacken zusammenschlagen zu lassen, wenn sein amerikanischer Boss "Schlemmer!" rief, um das deutsche Manneswesen auf den Punkt zu bringen.
Absolut einig waren sich die Angehörigen der heterogenen wilhelminischen Oberschichten allemal darin, wie das Deutsche Reich politisch zu führen sei: monarchistisch, antidemokratisch, militaristisch. Unter allen Umständen galt es, die Sozialisten in Schach zu halten.
Die waren zwar insofern unbequem, als sie die Privilegien der oberen Zehntausend in Frage stellten. Auch verstanden sie sich im Prinzip als antimilitaristisch; das Militär als Institution jedoch lehnten die meisten Arbeiter keineswegs ab. Schließlich waren es ebenso die Schuster und Maurer, die Söhne kleiner Leute gewesen, die den legendären siebziger Feldzug mitgemacht hatten. Stolz berichteten die Veteranen von ihren Kriegserlebnissen, bewahrten die Insignien ihrer Heldentaten auf und organisierten sich zu Hunderttausenden in Kriegervereinen. Bis weit ins 20. Jahrhundert standen auch in Arbeiterhaushalten die Fotografien uniformierter Väter und Söhne auf Kommode und Schreibtisch.
Der Militarismus sei "keine Angelegenheit der Verhältnisse innerhalb des Militärs", definierte der DDR-Historiker Jürgen Kuczynski. Vielmehr liege sein Kern "in den Beziehungen des Militärs zu den zivilen Institutionen und Menschen". Die fasste ein wilhelminischer Zeitgenosse, der national-liberale Reichstagsabgeordnete und Wegbereiter des Antisemitismus, Heinrich von Treitschke, bündig zusammen: Die Armee eine das Volk und "gewiss nicht der Deutsche Reichstag". Die allgemeine Wehrpflicht sei das "Fundament der politischen Freiheit, die Erziehung zu blindem Gehorsam" die "beste Charakterschule".
Es blühte jener Geist, den Heinrich Mann in seinem von Wolfgang Staudte meisterhaft verfilmten Roman "Der Untertan" als repräsentativ für den Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieb. Frisch eingezogen zum Militärdienst, gesteht der Untertan seinem Unteroffizier, der ihn wie alle anderen Rekruten quält, dass er sich nichts mehr wünsche, als dabeibleiben zu dürfen. Ganz begeistert sei er vom Soldatenleben, vom "Aufgehen im großen Ganzen". Durch und durch erfüllt vom militärischen Ideal der Unterwerfung erkennt der junge Mann, wie im Kasernenhof alles darauf hinzielt, die persönliche Würde auf ein Mindestmaß herabzusetzen. "Und das gefiel ihm."
Nicht nur durchdrangen repressive Maßstäbe von Zucht und Ordnung das zivile Leben von der Familie über die Volksschule bis zur Universität; nicht nur verpesteten Befehl und Gehorsam das Betriebsklima in der Werkstatt wie im Großkonzern. Es entwickelte sich mit der wachsenden Industrialisierung und einer zunehmend offensiven Rüstungspolitik des Reichs ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen Heereswesen, Wirtschaft und Politik.
Dabei half, schrieb der linke Sozialdemokrat Karl Liebknecht, "die persönliche Versippung der militärischen Bürokratie und der hohen Angestellten des privaten Rüstungskapitals". Einflussreiche Bankiers und Unternehmensführer schickten ihre Söhne zum Militär und betrieben in den Offizierskasinos wie im Parlament intensive Lobbyarbeit für eine massive Aufrüstung. Allein der Krupp-Konzern, seinerzeit größter Waffenfabrikant, beschäftigte Hunderte Offiziere, die beurlaubt oder verabschiedet waren.
So arbeitete die Rüstungsmaschinerie mit beeindruckendem Erfolg. Vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs stiegen die militärischen Ausgaben Deutschlands um mehr als das Doppelte auf 2,4 Milliarden Reichsmark - knapp fünf Prozent des Volkseinkommens. Die mit Kriegsbeginn zusätzlich nötigen Kredite bewilligte das Parlament mit den Stimmen der Sozialdemokraten.
So konnte das clausewitzsche Diktum, wonach der Krieg "eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" sei, 1914 in die Tat umgesetzt werden. Und große Teile des Volkes jubelten.