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Montagsdemonstration am 4. September 1989: "Wir mussten uns dieses Land zurückerobern"

Foto: RAINER KLOSTERMEIER/ ASSOCIATED PRESS

Erste Montagsdemonstration 1989 "Wir mussten uns dieses Land zurückerobern"

Sie wurde bespitzelt, gedemütigt, weggesperrt - und hat trotzdem gesiegt: Als 20-Jährige startete Katrin Hattenhauer gemeinsam mit ihren Mitstreitern die Proteste vom 4. September 1989 - und düpierte den DDR-Staat vor laufenden Westkameras.

Sechs Sekunden, vielleicht auch sieben. Länger dauerte es nicht, um ein ganzes System bis auf die Unterhose zu blamieren. Die zwei jungen Frauen kamen aus der Leipziger Nikolaikirche und entrollten ein Banner: "Für ein offenes Land mit freien Menschen" stand darauf. Hinter ihnen liefen weitere Protestler, auch sie hielten selbst gemalte Plakate in die Höhe.

Kaum waren die beiden jungen Frauen losgelaufen, stürzten sich zwei Stasi-Beamte auf sie und rissen hektisch das Bettlaken herunter. Das Mädchen mit der großen Brille hielt sich hartnäckig an dem Laken fest, fiel zu Boden und wurde ein paar Meter mitgeschleift.

Die BRD-Kamerateams, die hier an jenem Montag, dem 4. September 1989, wegen der Leipziger Messe filmten, fingen den historischen Moment ein. Er flimmerte am Abend als Top-Meldung der "Tagesschau" über Millionen West-Bildschirme. Ein hilfloses Unrechtsregime, zutiefst gedemütigt von zwei jungen Frauen an der Spitze einer Protestbewegung, die als "Montagsdemonstrationen" Berühmtheit erlangte - und der siechen DDR den Todesstoß versetzen sollte.

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Eine der Frauen war Gesine Oltmanns, die andere, jene, die sich bis zuletzt ans Banner geklammert hatte, heißt Katrin Hattenhauer. "Ich wollte mir meine Botschaft nicht einfach entreißen lassen", erinnert sich die heute 45-Jährige.

Blumensamen gegen die DDR-Tristesse

Die Künstlerin sitzt am Fenster eines Hausbootes auf dem Londoner Regent's Canal und lächelt nachdenklich, sachte schaukelt das Boot hin und her. "Für ein offenes Land mit freien Menschen": Der Slogan auf dem Laken bedeutete weit mehr als die politische Forderung nach Versammlungsfreiheit oder freien Wahlen. "Es war mein ganz persönlicher Traum", sagt sie. Ein Traum, der die gebürtige Nordhäuserin seit ihrer Jugend umtrieb.

Mit 15 Jahren trat Katrin Hattenhauer einem Umweltschutzkreis in ihrer Heimatstadt bei. Hier hörte sie zum ersten Mal von Tschernobyl, vom Uranbergbau, von all den Krebstoten: Fakten, die das DDR-Regime totzuschweigen versuchte. Die Teenagerin streute Blumensamen aus und pflanzte Bäume, um der grauen Tristesse etwas Blühendes entgegenzusetzen.

1988, mit 19 Jahren, ging Katrin Hattenhauer nach Leipzig, um Theologie zu studieren. Sie hoffte, die Kirche böte ihr eine Heimat: außerhalb des DDR-Systems, das für sie, so Hattenhauer, "offenkundig keinen Platz hatte". Als eines der jüngsten Mitglieder wurde die Nordhäuserin in den oppositionellen "Arbeitskreis Gerechtigkeit" aufgenommen.

Deckname "Meise"

Bald begann sie gemeinsam mit Gleichgesinnten, etwa Jochen Läßig und Rainer Müller, aktiv gegen das System zu rebellieren. Sie demonstrierten für Menschenrechte und gegen die Einschränkung der Kirchenpresse. Zur Leipziger Dokumentarfilmwoche ließen sie Luftballons steigen, auf denen die Titel verbotener sowjetischer Filme standen.

"Meise" lautete der Deckname, unter dem die Staatssicherheit begann, Katrin Hattenhauer systematisch zu bespitzeln. Erschien sie nicht zu Vorladungen, wurde die junge Frau "zugeführt", so der verharmlosende Begriff für den 24-Stunden-Arrest. Um die Systemkritikerin zu schikanieren, nahmen Beamte ihr bei der Fahrscheinkontrolle in der Bahn das Ticket ab: Kontrollierten sie dann erneut, stellten sie sie vor allen Mitfahrern bloß und weideten sich an ihrem Unbehagen.

Und an besonderen Tagen, etwa dem 13. August oder dem Wahltag, durfte Katrin Hattenhauer gar nicht erst vor die Tür ihrer Dachwohnung in der Meißner Straße treten. Doch auch wenn sie sich am System der DDR störte - ausreisen kam für die Dissidentin nie infrage. "Ich war der Meinung: Dies ist auch mein Land, und ich habe das Recht, dort zu sein", sagt sie.

"Die Probe zur Revolution"

Ihren Mut, sich gegen das Unrechtsregime zu stemmen, bezahlte die Studentin mit ihrer Exmatrikulation: Der Prorektor setzte sie so stark unter Druck, dass sie die Universität verließ. Von da an ging sie auf offene Konfrontation.

Schon am 10. Juni 1989 forderten Katrin Hattenhauer und andere Protagonisten des friedlichen Umsturzes das DDR-Regime gezielt heraus: mit der Organisation des ersten Straßenmusikfestivals in Leipzig. "Das war die Probe zur Revolution", sagt sie.

Überall in der Stadt musizierten junge Leute - der ohnmächtige Staat reagierte mit 84 Festnahmen. Auch Katrin Hattenhauer wurde "zugeführt", was sie nicht davon abhielt, am 4. September 1989 noch einen Schritt weiterzugehen. "Wir mussten uns dieses Land zurückerobern", sagt sie.

Die SED-Führung schäumte vor Wut

Im Anschluss an das traditionelle 17-Uhr-Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche zogen sie und ihre Mitstreiter vier sorgsam unter den Pullovern versteckte Transparente hervor. Die Aufmerksamkeit der Westmedien war ihnen sicher - schließlich hatten die Dissidenten die BRD-Journalisten vorab informiert.

Das Kalkül ging auf: Die Bilder der selbst gemalten Plakate sowie der rund 600 Protestler gingen um die Welt - und die SED-Führung schäumte vor Wut. Nur die laufenden Westkameras hielten die Polizisten davon ab, die Demonstranten sofort festzunehmen. Die Rechnung folgte genau eine Woche später: Kaum war die 20-Jährige nach dem Friedensgebet auf den Vorplatz der Kirche getreten, stürmte ein Mann auf sie zu, wickelte sich ihre langen Haare ums Handgelenk und schleifte sie auf einen Lastwagen. Ähnlich verfuhr man mit knapp hundert weiteren Oppositionellen. Was nun begann, war der brachiale Versuch, Katrin Hattenhauers Willen zu brechen.

"Zusammenrottung" lautete der Vorwurf im Stasi-Gefängnis an der Dimitroffstraße, die Beamten drohten ihr mit bis zu zehn Jahren Haft. "Sie wissen ja, ich stehe auf langhaarige Frauen", sagte ihr Vernehmer süffisant. Man durchleuchtete jede ihrer Körperöffnungen und zwang sie - so wurde jede Inhaftierte gedemütigt - zu einer gynäkologischen Untersuchung.

Katrin Hattenhauer schwieg. Starrte ihr Gegenüber einfach an. "Ich wusste: Wenn ich anfange zu sprechen, bin ich erledigt", sagt sie heute und lacht ihr helles, ansteckendes Lachen. Je mehr entwürdigende Details sie preisgibt aus ihrer Haftzeit, desto öfter lacht sie.

Stundenlang in einen Blechspind gesperrt

Um die Dissidentin kleinzukriegen, ersann ihr Vernehmer immer neue Schikanen: Mal ließ man Katrin Hattenhauer ihre eigene Entlassung unterzeichnen - und führte sie dann doch zurück in ihre Zelle. Mal sperrte man sie stundenlang in einen Blechspind oder weckte sie nachts zur Vernehmung auf.

Doch Katrin Hattenhauer knickte nicht ein. Sie forderte Papier an, damit ihr Vernehmer hoffte, dass sie ein schriftliches Geständnis ablegen würde. Auf die leeren Seiten schrieb sie nur: "Ich wünsche mir meine baldige Freilassung. Und auf jeden Fall besseres Essen."

Nur wenige Nachrichten drangen zu der jungen Bürgerrechtlerin, die überwiegend in Einzelhaft einsaß. Katrin Hattenhauer lauschte auf Klopfzeichen, um mit dem Häftling im Stockwerk unter ihr reden zu können, schöpfte die junge Frau Wasser aus der Toilette. Nicht zu überhören waren die Ereignisse vom 9. Oktober: jenem Montag, an dem 70.000 Leipziger auf die Straße gingen.

Katrin Hattenhauer und ihre Mithäftlinge wussten nicht: Fahren da Panzer auf den Straßen auf, oder warum herrscht ein solcher Tumult? Im Gefängnis brach ein regelrechter Tumult aus. Per Klopfzeichen erhielt die Dissidentin die Botschaft "Blumen und Kerzen vor der Nikolaikirche". Sie fragte sich: Feierten die Menschen da draußen - oder trauerten sie?

Geburtstagsgeschenk Mauerfall

Fassungslos, wie benommen stand Katrin Hattenhauer am 13. Oktober, dem Tag ihrer Entlassung, auf dem Hof vor dem Gefängnis. Nach all dem Psycho-Terror traute sich die Dissidentin nicht zu glauben, dass sie nun endlich frei war. Erst jetzt erfuhr sie, dass die Montagsdemonstrationen sich zu einer Massenbewegung ausgeweitet hatten.

In der Nacht nach ihrer Freilassung malte Katrin Hattenhauer Dutzende Bilder, um die Schrecken der 32-tägigen Haft abzuschütteln. "Rückkehr in die Freiheit" heißt eines: Es zeigt einen gesichtslosen Menschen, dem ein Schatten zu folgen scheint. Schnell läuft der Mensch davon, die Arme in die Höhe gereckt.

Erst Jahre später konnte sie die Bilder aus jener Zeit wieder anschauen. Und akzeptieren, dass die politische Haft ihr einen Teil der Jugend geraubt, ihr Leben unwiederbringlich verändert hat. "Du ziehst in eine Schlacht. Du hast gewonnen. Aber du kommst nicht unverletzt wieder raus", resümiert sie von dem schaukelnden Hausboot aus, auf dem sie derzeit arbeitet.

Am 9. November 1989 reiste Katrin Hattenhauer nach Ost-Berlin, um mit Freunden in ihren Geburtstag zu feiern. Spät am Abend liefen Menschen herbei und riefen, die Mauer sei offen. Das Geburtstagsgrüppchen eilte zum Grenzübergang Bornholmer Brücke, rannte gen Westen und tanzte in Kreuzberg der neuen Freiheit entgegen.

Katrin Hattenhauer war soeben 21 Jahre alt geworden - und die Mauer gefallen.

Zur Person

Katrin Hattenhauer (Jahrgang 1968) lebt als freischaffende Künstlerin in Berlin und Pella (Norditalien), derzeit arbeitet sie an einem Projekt in London. Die Mutter eines erwachsenen Sohnes engagiert sich nach wie vor: in der Kreisau-Initiative, einem Verein, der politische Bildung für Jugendliche sowie internationale Begegnungen in Kreisau/Krzyzowa (Polen) fördert.

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