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Erinnerungen an '89: Was wurde aus den Demonstraten?

Foto: transit/ Christiane Eisler / transit

Montagsdemonstranten Gesichter der Revolution

Sie rangen die Diktatur nieder, doch was wurde dann aus ihnen? im Herbst 1989 brachten Zehntausende Montagsdemonstranten die SED-Herrschaft zu Fall. Vier Fotografen haben mutige Leipziger von damals auf alten Bildern ausfindig gemacht - und ihre Lebensläufe seither begleitet.
Von Gundula Lasch

Alles begann in einer regnerischen Oktobernacht 1998: In Leipzig sitzen vier Fotografen um einen runden Tisch und erinnern sich an den Beginn ihrer gemeinsamen Arbeit im Wende-Herbst 1989. Viele Fotos von den Montagsdemonstrationen liegen in den Archiven von Christiane Eisler, Thomas Härtrich, Peter Hirth und Martin Jehnichen, den Gründern beziehungsweise Mitgliedern der damals mitten im Umbruch ins Leben gerufenen Leipziger Fotoagentur transit. Die Gesichter der Demonstranten auf den Bildern, die damals in Leipzig für die Freiheit auf die Straße gingen, spiegeln Freude und Euphorie, Unsicherheit und Angst. Beim Betrachten der Aufnahmen fast zehn Jahre später stellen sich fast zwangsläufig Fragen: Was ist aus den Menschen, die gemeinsam auf die Straße gingen, geworden? Haben sich ihre Träume erfüllt? Wie blicken sie heute die Zeit der "Wende"?

Aus diesen Fragen entsteht eine Idee - und aus der Idee ein Projekt, das die vier Fotografen sofort in Angriff nehmen: Nur wenige Wochen nach dem Treffen am Küchentisch stellen sie auf dem Leipziger Augustusplatz - 1989 noch Karl-Marx-Platz und Zentrum der Montagsdemonstrationen - unter dem Motto "Bitte melde Dich!" die Fotos aus den Wendetagen 1989/90 aus. Die Situation an den beiden Ausstellungstagen erinnert ein wenig an die Herbsttage von 1989: Es regnet, und die Fotos, aufgezogen auf große Tafeln, wirken wie Transparente und Plakate einer Demonstration; dazwischen viele hundert Menschen. Und tatsächlich: Einige Besucher entdecken Bekannte oder sogar sich selbst auf den Bildern wieder und melden sich bei den Fotografen.

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Erinnerungen an '89: Was wurde aus den Demonstraten?

Foto: transit/ Christiane Eisler / transit

Nun beginnt eine spannende Rückschau: Ein Jahrzehnt nach der historischen Zäsur von 1989 lassen sich Demonstranten von den Fotos von 1989 und 1990 noch einmal ablichten. Die Leipziger Journalistin Gundula Lasch interviewt die Protagonisten und schreibt ihre Erinnerungen auf, die ein Kaleidoskop von unterschiedlichen Antworten auf die Ausgangsfragen geben.

Schlaglicht auf mutige Menschen

Pünktlich zum zehnjährigen Wende-Jubiläum wird im Herbst 1999 die Ausstellung "WendeWände" eröffnet, wieder auf dem Augustusplatz. Im Mittelpunkt stehen zehn ehemalige Demonstranten, deren Geschichten, Einsichten und Erinnerungen eine Brücke zwischen 1989 und 1999 schlagen. Das Interesse an diesem Erinnerungsversuch ist überwältigend. Die Gegenüberstellung der Fotos von 1989 und 1999 zusammen mit den sehr persönlichen Geschichten der Porträtierten bricht die Anonymität der Masse auf, die 1989 auf die Straße gegangen war. Die Schau, der 2000 ein Buch folgt, wirft ein Schlaglicht auf mutige Menschen in der Menge, die als friedlichen Demonstrationen die politische Wende ermöglichten - und deren Leben sich durch die von ihnen bewirkte Herbstrevolution gravierend und auf sehr unterschiedliche Weise verändert hat. Was die Porträtierten verbindet, ist einzig, dass sie sich 1989 an den Montagsdemonstrationen in Leipzig beteiligten. Schon damals waren sie aus den unterschiedlichsten Lebensumständen heraus auf die Straße gegangen. Sie verband nur, gegen die alte Diktatur zu sein. Als wenig später die Frage aufkam, wofür sie eintreten wollen, trennten sich ihre Wege wieder.

Im Frühjahr 2009 sitzen die Initiatoren von "WendeWände" wieder zusammen. Ihr Plan: die Aktion von 1999 als Langzeitstudie fortzusetzen. Noch einmal wollen sie ihre Protagonisten von 1989 aufsuchen, um sie aus Anlass des 20. Jubiläums der Friedlichen Revolution zu fotografieren und zu befragen. Tatsächlich sind die meisten der damals beteiligten Leipziger bereit, wieder Auskunft über ihr Leben in den letzten zehn Jahren seit 1999 zu geben. Inzwischen haben sie ihren Platz in der neuen Gesellschaftsordnung gefunden, haben beruflichen Erfolg, gründeten Familien. Nach wie vor aber haben die Demonstranten von einst ein waches und kritisches politisches Bewusstsein - ganz gleich, wo sie sich selbst im demokratischen Spektrum einordnen.

"Das Volk sollte sich seiner Kraft wieder bewusst werden"

Zum Beispiel Jens Eßbach. Er war im Wendeherbst 24 alt, kam aus dem kirchlichen Umfeld, gehörte zu den Demonstranten der ersten Stunde und wurde Mitglied des Neuen Forums. "Das neue System ist toleranter, aber es ist ungleich härter: Die Starken setzen sich durch, und die Schwachen verlieren", hatte Eßbach 1999 eingeschätzt. Damals wünschte er sich, "dass in unserer Gesellschaft wieder mehr menschliche Werte und Ziele in den Vordergrund gerückt werden", und verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, dass die bundesdeutsche Ordnung "nicht der letzte Staat ist, in dem ich leben muss". Andererseits erkannte er zehn Jahre nach dem Ende der SED-Herrschaft an, dass ihm persönlich "das Ende der DDR Entwicklungsmöglichkeiten gebracht" hatte, die vorher nicht bestanden. Eßbach hatte 1994 ein Studium der Sozialarbeit begonnen und anschließend eine Anstellung im Bereich soziale Dienste bei der städtischen Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft (LBW) bekommen. "In diesem Job finde ich ein Stück Selbstverwirklichung, und dies betrachte ich als absoluten Gewinn", war 1999 Eßbachs zwiespältiges Resümee. "Ich sehe aber auch, was sich zum Schlechten gewandelt hat. Viele Menschen haben Angst vor der Zukunft."

Wiederum zehn Jahre später ist Jens Eßbach Leiter des Sozialmanagements bei der LWB. "Meine Arbeit füllt mich aus, und ich habe das Gefühl, das Richtige zu tun", sagt er. Als Rucksacktourist war er im letzten Jahrzehnt viel unterwegs, lernte unterschiedliche Menschen und Kulturen kennen. "Das hat meine Sicht auf unser Leben hier relativiert. Die Nöte von Menschen anderswo sind viel existenzieller als hier", sagt er heute. Auf einer Reise durch Burma erlebte er die Folgen eines vernichtenden Wirbelsturms und gründete daraufhin im September 2009 mit einigen Mitstreitern den Verein Burma-Hilfe Leipzig. Sich so über den Beruf hinaus gesellschaftlich zu engagieren, sieht der 44-Jährige als seine Bürgerpflicht.

Sein Blick auf die Wende von 1989 ist nach wie vor kritisch. "Wir wollten Veränderung für dieses Land, doch spätestens ab Ende Oktober 1989 dominierten die Forderungen nach dem Anschluss an die BRD", meint Eßbach. "Und das hat den Ideen von der Neugestaltung das Genick gebrochen." Für die Gesellschaft im vereinten Deutschland wünscht sich Jens Eßbach 20 Jahre nach den Montagsdemonstrationen: "Das Volk sollte sich seiner Kraft, die 1989 alles veränderte, wieder bewusst werden. Bringt euch aktiv ein, statt nichts zu tun und nur zu meckern!"

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