
Ermordeter Fußballstar: Todesstrafe für ein Eigentor
Ermordeter Fußballstar Todesstrafe für ein Eigentor
Am Fußball liebte Andrés Escobar, dass niemand wie beim Stierkampf sterben muss, dass sich auf dem Fußballfeld alles ums Leben dreht, nicht um den Tod - doch er irrte sich. Am 2. Juli 1994 wurde der kolumbianische Nationalspieler mit mehreren Kugeln hingerichtet. "Goooool", Tor, soll der Mörder dabei höhnisch gerufen haben - eine Anspielung auf Escobars unglückliches Eigentor im WM-Vorrundenspiel gegen die USA ein paar Tage zuvor, bei dem die kolumbianische Nationalmannschaft aus dem Wettbewerb ausgeschieden war.
Die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Andrés Escobar ist zugleich auch die des kolumbianischen Fußballs, der Ende der achtziger bis Mitte der neunziger Jahre einen kometenhaften Aufstieg aus der Bedeutungslosigkeit hinlegte - und auf dem Höhepunkt alles verlor. Vor allem aber ist es die Geschichte der kolumbianischen Drogenbosse und ihre Herrschaft über den Fußball.
Aufstieg mit Drogengeldern
Andrés Escobar, 1967 in Medellín geboren, war ein Idol für viele Kolumbianer. Schon als Schüler trieb er sich nach dem Unterricht jeden Tag auf den Straßen seines Viertels Calasanz herum, um möglichst viel Fußball zu spielen.
Früh entdeckten Trainer sein Talent, ab 1985 spielte er beim Fußballclub Atlético Nacional. Als es 1987 zum Streit zwischen einem Spieler und Francisco Maturana, Trainer von Atlético Nacional und der kolumbianischen Nationalmannschaft, kam, wurde Escobar, bis dahin Reservespieler, eingewechselt - und debütierte 1988 in der Nationalmannschaft, wo er sich als exzellenter Abwehrspieler einen Namen machte.
Ende der achtziger Jahre begann die goldene Zeit des Clubs, der 1989 etwa als erster kolumbianischer Fußballverein beim südamerikanischen Copa Libertadores de América siegte. Und Andrés Escobar, dieser schlaksige junge Mann mit der Vokuhila-Frisur, hatte dazu beigetragen, indem er als Erster seiner Mannschaft beim Elfmeter antrat und traf.
"Wir sind so schnell aufgestiegen, dass die Leute misstrauisch wurden, sich fragten, wie wir das schaffen konnten", so Trainer Francisco Maturana. Und tatsächlich ging nicht alles mit rechten Dingen zu: Finanziert wurde der Aufstieg nämlich mit Drogengeschäften. Kokain-Papst Pablo Escobar, einer der Bosse des mächtigen Medellín-Kartells und nur zufällig Namensvetter von Andrés Escobar, war der Patron des Clubs. "Das Drogengeld ermöglichte uns, Spieler einzukaufen und unsere besten Spieler zu halten", so Maturana.
Jedem Boss seine Mannschaft
Fußball schien ideal für die Geldwäsche der Drogenkartelle: Beim Spielertransfer wurde eine Million mehr deklariert als der Spieler tatsächlich kostete, die Erlöse aus Ticketverkäufen, damals stets in Bargeld, wurden nach oben korrigiert, auch hohe Wetteinsätze mit Geldscheinbündeln waren en vogue.
"Pablo war aber nicht der einzige, der nach einer Möglichkeit suchte, sein Geld zu legalisieren - und er war auch nicht der einzige Narco, der Fußball liebte", enthüllte Jaime Gaviria, Cousin von Pablo Escobar, nach dessen Tod. Gaviria behauptete: "Das war der Anfang des Narco-Fußballs."
Jedes Team hatte seinen Patron, der hinter den Kulissen die Fäden zog, die Mannschaften hochrüstete, Talente einkaufte oder verkaufte, Schiedsrichter mit Drohungen und Geschenken bestach - oder sie aus dem Weg räumen ließ. Die Fußballclubs Atlético Nacional und Independiente Medellín gehörten Pablo Escobar, der Drogenmilliardär "El Mexicano" José Gonzalo Rodríguez Gacha finanzierte die Millionarios, Miguel Rodríguez stand hinter América de Cali.
Auf der Ranch von Escobar
Es ging um viel Geld - aber auch um den Sieg an sich. Pablo Escobars erste und seine letzten Schuhe sollen Fußballschuhe gewesen sein. Beim Fußball wurde sogar der sonst stets eiskalte Drogenbaron hochemotional. Die Könige der kolumbianischen Unterwelt, die tonnenweise Koks verschoben und Menschen zerstückeln ließen, verwandelten sich am Fußballfeld wieder in kleine Jungs - sie jubelten ihren Mannschaften zu, beschenkten die Spieler und ließen ihre Lieblingsspielzeuge bei privaten Freundschaftsspielen gegeneinander antreten.
Handverlesene Top-Spieler, darunter auch Andrés Escobar, wurden für ein paar Stunden auf die Ranch von Pablo Escobar eingeflogen, die Drogenbosse wetteten zur Unterhaltung ein oder zwei Millionen gegeneinander, und entlohnten die Spieler mit großzügigen Gagen.
Während Kolumbiens Fußballer Erfolge feierten, machte die Regierung Jagd auf Pablo Escobar: Nachdem der, um seine Auslieferung an die USA zu verhindern, am 18. August 1989 den Präsidentschaftskandidaten Luis Carlos Galán ermorden ließ, eskalierte der Krieg zwischen dem Drogenhändler und der Regierung. Escobars Leute terrorisierten den Staat mit Bombenanschlägen, Straßenschlachten, Morden. Das Land versank im Chaos.
Spielen gegen die Gewalt
Nur das Stadion vereinte Präsident und Drogenbarone, Arme, Reiche und Mittelschicht - dort war Kolumbien für die Dauer der Spiele eine vereinte Fußballnation. 1990 schaffte die Nationalmannschaft erstmals seit 28 Jahren wieder eine Endrundenteilnahme bei der WM. "Wir waren nicht länger Medellín oder Cali, wir waren Kolumbien", erinnert sich Trainer Maturana. "Wir spielten, um unser Land zu verteidigen."
1991 ging Pablo Escobar in das luxuriöse Privatgefängnis La Catedral. Er lebte dort mit Leibwächtern, organisierte weiter Drogengeschäfte - und hatte auch einen Fußballplatz anlegen lassen. Als Reporter entdeckten, dass der Nationalspieler René Higuita Escobar im Gefängnis besucht hatte, kam es zum Medienskandal, Higuita wurde unter einem Vorwand inhaftiert. Das Team verlor seinen meisterhaften Torwart, der Bälle etwa mit dem "Skorpion-Kick" pariert hatte, indem er sich wie beim Handstand nach vorne fallen ließ und den Ball mit den Hacken konterte.
Dabei hatte die komplette Nationalmannschaft Pablo Escobar im Gefängnis besucht, mit ihm gegessen, Fußball gespielt. Andrés sei damit nicht einverstanden gewesen, sagt seine Schwester - eine Wahl hätte er nicht gehabt. Trainer Francisco Maturana drückte es so aus: "Falls Don Vito Corleone mich zu einem Teller Pasta in ein Restaurant einlädt, gehe ich natürlich hin."
Andrés Escobar und seine Kollegen qualifizierten sich für die WM 1994. Beim Spiel gegen Argentinien wurden sie von deren Fans erst als "Drogendealer" ausgebuht, doch als Kolumbien 5:0 siegte, jubelten ihnen sogar die Argentinier zu. Die Fußballer wurden zu Botschaftern eines Landes, das weltweit nur für Gewalt und Drogenhandel stand. Alle hatten Werbeaufträge, Andrés die meisten. Experten trauten den Außenseitern zu, den Weltmeistertitel 1994 zu holen - selbst für den brasilianischen Fußballkönig Pelé waren sie die Favoriten.
Ende des Siegestaumels
Doch das Spiel gegen Rumänien am 19. Juni 1994 wurde zum Debakel. Die Rumänen siegten mit 3:1. Viele hatten Geld verloren, weil sie auf die Kolumbianer gesetzt hatten. In Medellín wurde der Bruder des Torwarts ermordet, das ganze Team erhielt Morddrohungen, sogar eine Hexe rief an und verfluchte mehrere Spieler. In den Zimmern der Mannschaft wurde die Fernseher umprogrammiert, jemand drohte, alle Spieler zu ermorden, wenn Barrabás Gomez, ein wichtiger Schlüsselspieler, bei der WM antreten würde. Vielleicht sollte die Mannschaft geschwächt werden, vielleicht wollten Paten ihre eigenen Spieler ins Feld schicken, um deren Wert zu steigern. Die Familien der Spieler in Kolumbien wurden unter Polizeischutz gestellt.
Das nächste Spiel gegen die USA war die letzte Chance der Kolumbianer. Sie wussten, dass sie um ihr Leben spielten. Mit den Morddrohungen und der Niederlage im Hinterkopf, die Hoffnungen einer ganzen Nation auf den Schultern, liefen sie am 22. Juni 1994 aufs Feld. Andrés Escobar, angespannt wie alle, passierte schließlich in der 13. Minute das Unglück, das er mit seinem Leben bezahlen sollte: Der Ball prallte von ihm ab und knallte geradewegs ins Tor, ein Eigentor, durch das Kolumbien mit 1:2 verlor. Sein kleiner Neffe, der zusah, sagte intuitiv: "Sie werden ihn töten!"
Escobar kehrte trotz Drohungen nach Kolumbien zurück. Er war niedergeschmettert, aber er fand: "Das Leben endet hier nicht." Der 27-Jährige wollte seine Freundin heiraten, hatte Chancen, nächster Kapitän der Nationalmannschaft zu werden - und er plante, zum AC Milan nach Italien zu wechseln.
Am 2. Juli 1994 besuchte er mit Freunden eine Bar in Medellín, wurde von Männern wegen des Eigentors angepöbelt. Auf dem Heimweg erschoss man Andrés Escobar. Es soll ein spontaner Streit gewesen sein, als Täter wurde Humberto Muñoz Castro verhaftet. Doch der arbeitete als Fahrer und Leibwächter für die Gallón-Brüder, kriminelle Größen. Santiago Escobar, der Bruder von Andrés, vermutet, dass Andrés sterben musste, weil sein Eigentor viel Geld gekostet hatte. Hunderttausende trauerten um Escobar. Mit dem Mord an dem beliebten Fußballer hatte selbst der Fußball, die letzte Hoffnung Kolumbiens, seine Unschuld verloren.
Zum Weiterschauen:
"The Two Escobars", Dokumentation von Jeff Zimbalist und Michael Zimbalist, 2010. Sehen Sie den Trailer auf YouTube.
"Pablo Escobar - The King Of Coke", Dokumentation von Stephen Dupler, 2008. Sehen Sie den Film auf YouTube.
Zum Weiterlesen:
Ricardo Silva Romero: "Autogol", Verlag alfaguara, 2013.