
Mord an Jitzchak Rabin: Tiefe Trauer und das Lächeln des Mörders
Rabin-Ermordung vor 25 Jahren "Gestern wachte ich in einem Albtraum auf"
Nein, ein geborener Sänger war Jitzchak Rabin nicht. Aber in dieses Lied wollte er einstimmen, es war der Soundtrack zu seiner Politik. Also nahm Rabin den Liederzettel und sprach ehrfurchtsvoll den Refrain von "Shir laSchalom", dem "Lied für den Frieden":
"Darum singt das Lied des Friedens, flüstert keine Gebete, trotz allem singt das Lied des Friedens, mit einem großen Schrei!"
Kurz darauf, am 4. November 1995 gegen 21.45 Uhr, lag Israels Premier und Hoffnungsträger in einer Blutlache, von hinten niedergestreckt mit zwei Schüssen. Der nationalreligiöse, jüdische Jurastudent Jigal Amir wollte Rabins Friedenspolitik mit den Palästinensern verhindern.
Blut und Frieden
Rabins blutgetränkter Liederzettel wurde zum Symbol des Terroraktes und des Traumas, das Israel bis heute beschäftigt: Ein Jude hatte einen Juden ermordet, weil er selbst sich als Werkzeug Gottes wähnte – und Frieden für Verrat am Heiligen Land hielt.

Liederzettel mit dem Text eines berühmten israelischen Friedensliedes, den Rabin am Abend seiner Ermordung in seiner Jackentasche hatte
Foto: National Photo Collection Israel State ArchiveStunden zuvor hatten sich an diesem verhängnisvollen Abend mehr als 100.000 Israelis auf dem "Platz der Könige Israels" in Tel Aviv versammelt. Bei milden Temperaturen tanzten sie ausgelassen in T-Shirts. Die Volksfeststimmung war, trotz massiver Sicherheitsvorkehrungen mit Scharfschützen und Hubschraubern, eine beeindruckende Unterstützung der Politik Rabins. Dafür hatte er zusammen mit seinem Außenminister Shimon Peres und PLO-Chef Jassir Arafat im Vorjahr den Friedensnobelpreis erhalten.
Ein fairer Ausgleich zwischen Palästinensern und Israel, die heute so illusorisch klingende Zweistaatenlösung – das alles schien nach den von Rabin vorangetriebenen Osloer Abkommen greifbar wie nie. Erstmals hatten sich PLO und Israel als Verhandlungspartner anerkannt und das Prinzip der palästinensischen Selbstverwaltung vereinbart. Ein großer Teil der israelischen Bevölkerung stand dahinter und sehnte sich nach Frieden.
Radiosender spielten "Shir laSchalom" rauf und runter, es war die Hymne der damals einflussreichen Friedensbewegung. Das Lied machte Miri Aloni noch populärer. Die blonde Sängerin hatte es schon seit Jahren auch im Fernsehen vorgetragen und sollte am 4. November auftreten. Noch nie hatte Aloni live vor so vielen Menschen gesungen.
"Lasst die Sonne aufgehen"
"Diese Regierung hat sich entschieden, dem Frieden eine Chance zu geben", erklärte Rabin in seiner Rede am Abend und prophezeite, die Aussöhnung mit den Palästinensern werde "die meisten Probleme Israels lösen".
Das sagte der Mann, der als Held des Sechstagekriegs von 1967 eine lange militärische Karriere hinter sich hatte. Der als Verteidigungsminister während der ersten Intifada noch gedroht hatte, steinewerfenden Palästinensern "Hände und Beine zu brechen". Das alles ist kein Widerspruch in Israel, wo Spitzenpolitiker traditionell aus dem Militär kommen. Rabins Wandel vom Hardliner zum Verhandler und Versöhner empfanden nicht nur politische Freunde als aufrichtig.

Rabin und PLO-Führer Arafat mit US-Präsident Bill Clinton (M.) in Washington 1993
Foto: Gary Hershorn / REUTERSEs folgte Alonis Auftritt, eine symbolische Untermalung von Rabins Politik.
"Lasst die Sonne aufgehen, den Morgen zu erleuchten."
Geigen und Gitarren begleiteten die Sängerin, die ihr Lied in zwei Sprachen vortrug: auf Arabisch und Hebräisch.
"Auch das stärkste Gebet wird ihn nicht wiederkehren lassen, den, dessen Licht ausgelöscht, der im Staub begraben liegt. Bitteres Weinen wird ihn nicht erwecken und nicht zurückbringen. Niemand wird uns je antworten aus der Grube unter Asche. Da helfen weder Siegestaumel noch Lobeslieder."
"Wir schrien und weinten"
Der düstere Text wandelt sich mit dem Refrain. Der zweite Teil feiert die Hoffnung und Liebe, fordert den Mut, nach vorn zu schauen und Kriege hinter sich zu lassen.
"Sagt nicht: 'Der Tag wird kommen'. Bringt ihn her, diesen Tag, denn es ist kein Traum. Dann wird man auf allen Straßen und Plätzen nur den Frieden besingen."
Der 4. November aber ging als der Tag in die Geschichte ein, an dem auf Israels Straßen und Plätzen getrauert wurde. Als Aloni spätabends zu Hause den Fernseher anschaltete, war Rabin schon seinen Verletzungen erlegen. Er hatte so viel Blut verloren, dass die Ärzte im Krankenhaus ihn nicht retten konnten.
"Wir sind zusammengebrochen", erinnerte sich Aloni 2015 in der "Süddeutschen Zeitung". "Wir schrien und weinten so laut, bis unsere Söhne uns anflehten aufzuhören. Unser Herz war gebrochen."
Das ganze Land weinte – der Mörder nicht. Der verlangte beim Polizeiverhör gut gelaunt nach Kuchen und Wein. Einige nationalreligiöse Gleichgesinnte feierten seine Tat am Grab von Baruch Goldstein: Der jüdische Siedler hatte 1994 in einer Moschee in Hebron 29 Muslime erschossen.
Bewegende Worte der Enkelin
Die absolute Mehrheit Israels stand dagegen unter Schock. Staatschefs, darunter zahlreiche aus der arabischen Welt, bekundeten ihr Beileid. Niemand aber berührte die Israelis mehr als Noa Ben Artzi. Rabins 18-jährige Enkelin kämpfte in ihrer Grabrede mit den Tränen, als sie um den Menschen Jitzchak Rabin trauerte:
"Verzeiht mir, dass ich nicht über den Frieden sprechen möchte. Ich möchte von meinem Großvater sprechen. Gestern wachte ich in einem Albtraum auf. Das Leben ohne dich, das kann man nicht verkraften. Deine Bilder werden im Fernsehen ständig ausgestrahlt. Du bist so plastisch, dass ich dich fast berühren kann – fast, weil ich es nicht mehr kann. Opa, du warst mein Feuer vor dem Lager, jetzt sind wir das Lager ohne Feuer, ohne Fackel in der Finsternis."

Rabin-Enkelin Noa Ben-Artzi bei der Trauerfeier für ihren ermordeten Großvater am 6. November 1995
Foto: David Ake / AFPDas Land trieben nun drei Fragen um: Warum dieser Mord? Wie konnte der Sicherheitsapparat derart versagen? Und was wird aus dem Friedensprozess, den Rabins Nachfolger Shimon Peres fortzuführen versprach?
Nicht wenige Kommentatoren trauten ihm das nicht zu. Zu groß die Bürde, zu schwach sein Rückhalt. Andere Journalisten erinnerten an das Gift, das lange schon die israelische Gesellschaft zersetzte. An die politischen Gegner Rabins wie Benjamin Netanyahu, ein Gegner der Osloer Verträge.
Ein Klima des Hasses
Wochen vor dem Attentat hatte Netanyahu in Jerusalem einer aufgepeitschten Menge an Rabin-Gegnern zugewunken: Siedlern, Nationalreligiösen, Anhängern seiner rechtskonservativen Likud-Partei. Es war die Zeit, in der Demonstranten Rabin als Verräter beschimpften, ihn symbolisch im Pappsarg zu Grabe trugen oder auf Fotomontagen in SS-Uniform zeigten.
Ein "Idiot" habe das Attentat ausgeführt, sagte 2015 Adi Eldar, ein einstiger Weggefährte Rabins. "Aber man muss sich immer daran erinnern, dass es neben dem Finger, der den Abzug gedrückt hat, noch viele andere Finger gibt, die heute in Israel an der Macht sind." Er meinte besonders Dauer-Premier Netanyahu.
20 Jahre zuvor klagte Ben Artzi in ihrer Grabesrede weiter:
"Ich weiß, dass Menschen in Begriffen von einem nationalen Unglück sprechen, aber versuch mal ein ganzes Volk zu trösten oder es am privaten Schmerz teilnehmen zu lassen, wenn Großmutter nicht aufhört zu weinen und wir ganz stumm die Leere bemerken, die sich hier aufgetan hat."
Shimon Peres konnte diese Leere nicht füllen. Das Attentat hatte gezeigt, dass Israel neben den Problemen mit seinen arabischen Nachbarn auch eines mit sich selbst hatte. Das Land aber flüchtete sich kollektiv in die Verdrängung.
Bomben statt Friedenshymne
Kein Radiosender spielte mehr das Lied für den Frieden. Rabins Mord wurde so auch zum Wendepunkt in Miri Alonis Karriere. Sie bekam in den folgenden Jahren kaum mehr Auftritte, geriet in finanzielle Not und lebte später eine Zeit lang in Deutschland.
Derweil wurde die Neuwahl 1996 in Israel zur Chance für Hardliner auf israelischer und palästinensischer Seite, Rabins Erbe zu torpedieren. Palästinensische Selbstmordattentäter sprengten sich in die Luft und halfen damit letztlich Netanyahu, der Ängste vor den Oslo-Abkommen schürte und einen "sicheren Frieden" versprach. Knapp schlug er den Favoriten Peres.
Seitdem lebt das Land in einem ewigen Konjunktiv: Was wäre gewesen, wenn Rabin überlebt hätte? Endete mit ihm eine einmalige, historische Chance? Oder wäre selbst Rabin an Vertragsdetails und Widerständen gescheitert? Führte seine Ermordung zu einer Verklärung seiner Politik?
Bis heute steht Rabin jedenfalls für eine Sehnsucht nach Frieden, die längst zur Nostalgie geworden ist. Seine Enkelin sagte in ihren emotionalen Abschiedsworten:
"Ich habe kein Gefühl der Rache, weil der Schmerz und der Verlust in mir so groß sind. Ich verabschiede mich von dir, und ich hoffe, dass du in Frieden ruhst und dass du Sehnsucht nach uns hast. Weil wir, hier unten, dich so gernhaben. Die Engel, die dich jetzt begleiten, bitte ich, dass sie dich bewahren und dich gut beschützen, weil du so einen Schutz brauchst. Wir haben dich so lieb, Opa."
Unzählige Straßen sind in Israel nach dem ehemaligen Premier benannt, auch der Platz seiner Ermordung trägt heute Rabins Namen. An Jahrestagen des Attentats versammeln sich noch immer Zehntausende. Damit mobilisiert ein Toter weit mehr Israelis, als es der verbliebene Rest der Friedensbewegung inzwischen vermag.
Den Hass weitergegeben
In diesem Jahr hat das Gedenken an Rabin besondere Zugkraft. Seit Monaten schon gehen viele Israelis aus allen Schichten auf die Straße, um Netanyahus Rücktritt zu erzwingen. Sie bezeichnen den Premier, gegen den seit Mai ein Verfahren wegen Untreue und Bestechlichkeit läuft, als "Crime Minister".
Zum 25. Jahrestag der Ermordung, in Israel schon vergangene Woche begangen, trugen Demonstranten Sticker mit Rabins Antlitz. So könnte er vielleicht heute noch jenem Mann politisch gefährlich werden, den viele Israelis für das Klima des Hasses von 1995 verantwortlich machen. Derweil stilisiert Netanyahu sich selbst zum vermeintlichen Opfer: "25 Jahre nach dem Mord an Rabin dauert das Aufhetzen zum Mord am Ministerpräsidenten und seiner Familie an – und niemand sagt ein Wort."
Auch Rabins Mörder setzt im Kampf um die Erinnerung auf Symbole. Jigal Amir, der in Haft ein Kind zeugen durfte, gab seinen Sohn Jinon den Beinamen Schalom, Frieden. Am 4. November 2007 ließ er ihn rituell beschneiden. So wurde der zwölfte Jahrestag seines Mordes zum religiösen Festtag, an dem er seinen Hass an ein unschuldiges Kind weitergab.