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Mythos antiautoritäre Siebziger: Zur Freiheit geprügelt

Mythos antiautoritäre Siebziger Zur Freiheit geprügelt

Verständnis, Rücksicht, Gürtelhiebe: Torben Kesselring erlebte seine Kindheit in den siebziger Jahren als ständiges Paradox. Denn zwischen den modernen Theorien der Reformpädagogik und der erzkonservativen Erziehungspraxis in den Elternhäusern lagen oft Welten.

Das "Antiautoritäre Jahrzehnt" - so werden die siebziger Jahre heute oft genannt. Doch hinter dem klangvollen Titel verbirgt sich ein Tabu, über das kaum geredet wird: Nicht nur unsere Elterngeneration, auch wir Babyboomer waren mehrheitlich noch mit dem konfrontiert, was man verniedlichend den "versohlten Hosenboden" nannte.

Ganz falsch war die Bezeichnung "antiautoritäres Jahrzehnt" sicher nicht: In den siebziger Jahren drängten die Konzepte, die in früheren Jahrzehnten von einer Avantgarde aufgeklärter Pädagogen erarbeitet worden waren, zum ersten Mal mit Macht in den pädagogischen Mainstream. Das war natürlich gut so. Aber für die überwiegende Mehrheit von uns blieb diese dramatische Veränderung in den Erziehungswissenschaften noch ohne direkt spürbare Folgen: Unter all meinen Freunden - Menschen, die zwischen 1964 und 1969 geboren wurden - gab es nicht einen Einzigen, der nicht auch mal übers Knie gelegt wurde. Und das, obwohl die bleierne Adenauer-Zeit längst vorbei war.

So mancher Pädagoge wurde erst durch uns Schüler unsanft darauf gestoßen, dass der Wandel seiner Disziplin noch lange nicht in allen Familien angekommen war: Zum Beispiel Frau B., unsere Philosophielehrerin. Im Grundkurs Philosophie, es muss so etwa 1985 gewesen sein, besprachen wir Rousseau. Frau B., die selber Kinder in unserem Alter hatte und offenkundig zur Minderheit der damaligen praktizierend antiautoritären Eltern gehörte, erzählte frei von der Leber weg, wie Kinder "früher" erzogen worden seien: "Da schlug man noch, zum Teil sogar mit einem Stock! Na, das kennen sie nicht mehr, sie sind ja antiautoritär aufgewachsen."

Verdroschen mit der Hundeleine

Als sie unser gequältes Lächeln wahrnahm, fragte sie nach - und konnte gar nicht glauben, was sie alles zu hören bekam: Von der Imke, bei der der Ledergürtel "tanzte". Von meinem Freund Thomas, bei dem bis zum 14. Lebensjahr ein Schuhanzieher für "Ordnung" sorgte. Ich fragte sie nur: "Frau B., wissen Sie eigentlich, wie fies so ein langer Plastikkochlöffel ziehen kann?" Denn mit dem hatte ich noch, bis ich 13 war, meine "Senge" bezogen. Eine Schulfreundin von mir bekam sogar immer schon auf bloßen Verdacht hin Schläge - auf die denkbar erniedrigendste Weise: Mit der Hundeleine ihres Vaters. Stellte sich hinterher ihre Unschuld heraus, hatte sie "einen gut". Einmal allerdings vergaß ihr Vater den Kontostand. Sie kauerte sich, wie immer, in Erwartung der Hiebe in die Ecke und rief: "Ich hab noch einen gut! Ich hab noch einen gut!", während die Hundeleine immer wieder auf sie niedersauste.

Die Schläge kamen übrigens keineswegs, wie oft vermutet, in erster Linie aus Unterschichtfamilien, sondern aus der Mitte der Gesellschaft: Ausnahmslos alle Eltern der hier geschilderten Kinder waren Akademiker, alle waren Eigenheimbesitzer. Die geprügelten Kinder wuchsen in genau dem auf, was man in den siebziger Jahren als "geordnete Verhältnisse" bezeichnete. Ihre Eltern waren keine Stützeempfänger, sondern Stützen der Gesellschaft. Heute wäre vermutlich jeder einzelne von uns vom Jugendamt aus seiner Familie herausgenommen worden.

Wir Babyboomer, wir heutigen 40-somethings sind eine Generation des Übergangs: Als erste Generation, die die Anforderungen des postindustriellen Zeitalters von Beginn an bewältigen musste, hätten wir eigentlich zur Kritikfähigkeit, sozialen Kompetenz, zur Flexibilität, Kreativität und vor allem zur Selbstverantwortung erzogen werden müssen. Aber die große Mehrheit von uns wurde noch an der kurzen Leine gehalten - oder gleich mit ihr verdroschen. Und was man uns einprügelte, war: "Tu, was man Dir sagt!".

Adenauer-Deutsche im Globalen Dorf

Bis heute verfolgt uns die Diskrepanz der Erziehung, die wir "genossen" haben, und der Lebenswelt, in die wir entlassen wurden: Man gibt uns Zeitverträge, aber erzogen worden sind wir für eine Lebensstellung. Vielleicht dürfen wir unseren Eltern keine gar zu großen Vorwürfe machen. Sie selber kannten es einfach nicht anders. Sie hatten ihre Lebensstellung, ihre klaren, überschaubaren Befehle, ihre eindeutigen Hierarchien. Bei ihnen hat die autoritäre Erziehung in mancher Hinsicht gepasst. Bei uns nicht.

Das soll weder eine Ausrede für meine Generation sein noch eine Anklage an unsere Eltern. Meine Generation hat die Fackel ja auch angenommen. Die siebziger genau wie die frühen achtziger Jahre waren zweifellos auch eineinhalb antiautoritäre Jahrzehnte - mit Joints, die so langsam ihre Subversivität verloren, mit Sex weit vor der Volljährigkeit auch für das Bürgertum, mit Bands wie Led Zeppelin, die unsere Eltern nicht mehr verstanden. Aber wer uns Babyboomer verstehen will, muss eben wissen: Wir wurden von Adenauer-Deutschen für das Globale Dorf erzogen.

Viele der Unvereinbarkeiten zwischen uns und unseren Eltern, die wir austarieren mussten, wirken aus heutiger Sicht unvorstellbar: Dass etwa Schwulsein nichts "Schmutziges" ist, sondern einfach eine von unzählig vielen Möglichkeiten des Menschseins - heute ist das eine klägliche Binsenweisheit, die zu erwähnen man sich schon schämt. Damals war diese Erkenntnis für mich als 15-Jährigen eine krachende Neuerung. Bis heute ertappe ich mich dabei, wie ich auf Familienfeiern älteren Damen und Herren klar zu machen versuche, dass es zum Beispiel bei Guido Westerwelle nicht um seine sexuelle Orientierung geht, sondern einzig und allein um seine Politik.

"Was ist ein versohlter Hosenboden?"

Meine Generation wurde quasi mit dem Rohrstock zur Freiheit erzogen. Noch heute zappeln wir hilflos in den Paradoxien unserer Erziehung herum - zwischen "Tu das! Sprung auf Marschmarsch!" und "Du, sag mir Deine Ideen! Bring Dich ein!". Weil wir genau so sozialisiert wurden.

Meine Tochter, inzwischen 14, fragte mich vor einigen Jahren, was um alles in der Welt ein "versohlter Hosenboden" eigentlich sei. Sie hatte es in einem alten Kinderbuch gelesen. Ich war voller Stolz - darauf, dass sie es selbst nicht wusste.

Da der Verfasser sich mittlerweile mit seinen Eltern ausgesöhnt hat und seinen Text nicht als Anklageschrift instrumentalisieren möchte, sondern lediglich die damaligen Verhältnisse wiedergeben, wurde der Artikel unter Pseudonym veröffentlicht

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