Augenblick mal! Henkersmahlzeit

Für einen von ihnen würde es die letzte Mahlzeit aus dem klappernden Blechgeschirr sein. Zwischen 2 und 3 Uhr morgens käme einer der Gefängniswärter in den kargen Raum mit den vergitterten Fenstern. Drohend würde er mit dem Gummiknüppel in die Handfläche schlagen. Er würde zu dem klobigen Holztisch gehen, um den sich die Ganoven und Taschendiebe, vor Angst schlotternde Mitläufer, Zuhälter und Prostituierte versammelt hatten. Er würde einen Delinquenten auswählen, ihn packen und zu dem Stuhl zerren, der wegen seiner Armschlaufen und Stromkabel unschwer als Hinrichtungsstätte zu erkennen war. Die Anwesenden würden johlen und pfeifen, sie würden mit den Füßen stampfen, während sich der Ausgewählte gequält in seinen Fesseln windet. So ging das jede Nacht. Und immer morgens gegen 6 Uhr war Schluss.
Zu dieser Stunde schloss das Gefängnis-Restaurant an der Berliner Chausseestraße 11. Die Einrichtung des 1927 eröffneten Lokals war dem Speiseraum der Berliner Haftanstalt Plötzensee nachempfunden. Seinen Namen "Sing-Sing" hatte es von dem für seine brutalen Strafen bekannten Gefängnis in der Kleinstadt Ossining im US-Bundesstaat New York.
Die im Zuchthausstil geführte Kneipe gehörte zu den schillerndsten Etablissements des Berliner Nachtlebens der zwanziger Jahre. 1928 schaute hier der Berliner Presse- und Milieufotograf Willy Römer vorbei. Er dokumentierte unter anderem den elektrischen Stuhl, der dem im echten "Sing Sing" ähnelte - hier allerdings nur eine Attrappe war, die zur Erheiterung der Gäste diente.
1933 war der Spaß vorbei. In Berlin übernahmen die Nationalsozialisten die Macht. Sie bereiteten dem zwielichtigem Nachtleben für lange Zeit ein Ende. Das preußische Innenministerium ließ Lokale schließen, die in Verdacht standen, die "Unsittlichkeit" zu fördern. Das "Sing-Sing" in Berlin verschwand.