
NS-Täterkinder: Eine Kiste Wahrheit
NS-Täterkinder Eine Kiste Wahrheit

Helga Hübner, geboren 1947 in Oberhausen, studierte Theologie in Bethel und Heidelberg, schloss anschließend ein Psychologie-Studium ab und arbeitet seit 1978 als Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin. Sie ist verheiratet, lebt in Bammental bei Heideberg und hat drei Kinder.
Sie stand in unserem Keller, fest verschlossen und unzugänglich. Die alte Seemannskiste war Sinnbild für Unausgesprochenes in unserer Familie. Auf mich übte diese "Schatzkiste" eine große Anziehungskraft aus. Wir Kinder durften sie nicht anrühren, wohl aber dabei sein, wenn unser Vater sie hin und wieder öffnete und Erinnerungsstücke hervorkramte. Seinen alten Offizier-Paradehut. Die Gasmaske. Dokumente. "Mein Kampf". Oft bin ich um sie herumgeschlichen in dem festen Glauben, dass sie ein Geheimnis verbirgt. Und ich hatte recht. Doch aus der kindlichen Sehnsucht nach Abenteuer wurde nach dem Tod meines Vaters bitterer Ernst. Die Kiste sollte mir mehr über das Leben meiner Eltern verraten, als mir lieb war.
Ich war etwa 13 Jahre alt, als ich das "Tagebuch der Anne Frank" zum ersten Mal las. Das Leben dieses jungen Mädchens berührte mich, sein Schicksal wühlte mich auf. Ich begann, meinen Eltern Fragen zu stellen, wollte wissen, wie es ihnen während des Zweiten Weltkriegs ergangen, wie ihre damalige Einstellung zum Nazi-Regime gewesen war. Ich interessierte mich für ihre Nachkriegssicht auf das Erlebte. Denn obwohl ich als Kind noch täglich an Trümmerresten vorbeilief und im Bunker herumtobte, schien mir der Krieg schon lange zurückzuliegen. Vielleicht nahm ich es deshalb zunächst hin, dass viele meiner Fragen, insbesondere die zur Ermordung der Juden, mit mangelnder Erinnerung abgewimmelt wurden. Sie hätten "davon" nichts gewusst, sagten meine Eltern, sie hätten "es" für Feindpropaganda gehalten. Die immer gleiche Flucht ins Unausgesprochene.
Alles, was ich damals erfuhr, war, dass meine Großfamilie gespalten war in Nazi-Anhänger und "Rote", weshalb es immer noch keine Kontakte zu manchen Verwandten gab. Beide Großväter waren frühe Parteigenossen und saßen nach Kriegsende in Haft, warum, war nicht zu eruieren, blieb vage, wurde auf die Zeitwirren, Verdächtigungen, Denunziationen geschoben. Mein Vater war in der SA, ging freiwillig und begeistert direkt nach dem Abitur zur Marine, wurde U-Boot-Offizier, schwärmte von seinen Auslandseinsätzen auf dem Segelschulschiff "Horst Wessel" vor Kriegsausbruch und erzählte gerne "Döntjes" über diese Zeit. Er berichtete, dass unmittelbar nach seiner letzten Feindfahrt und Abmusterung sein U-Boot im Hafen von Trondheim versenkt wurde und ein weiterer Einsatz kurz vor Kriegsende wegen einer Erkrankung nicht mehr zustande kam. Ansonsten distanzierte er sich weitgehend von der Nazi-Ideologie. Auch wenn er, manchmal unbemerkt, kleine Gegenbeweise erbrachte. Zum Beispiel, als er uns erzählte, er habe kurz nach Kriegsende noch ein Exemplar von Hitlers "Mein Kampf" gekauft und darin gelesen.
Kriegsromantik, die uns zusammenhielt
Meine Mutter glorifizierte ihre Zeit beim Bund Deutscher Mädel nur gelegentlich, blieb dabei immer vage. Der Standardsatz, es sei eben nicht alles schlecht gewesen, entschuldigte ins Blaue und erstickte weitere Fragen, die sie ohnehin verärgert als "selbstgerecht" abtat. Lieber sprachen meine Eltern über ihre Trennung in den Kriegswirren, die Bombennächte, die "Überrollung" und ihre Flucht. Im Zentrum dieser Familiensaga stand immer die Erinnerung an das glückliche Ende, dass beide am gleichen Tag den Heimatort meiner Mutter erreichten, nachdem sie vier Monate nichts voneinander gehört hatten, nicht wussten, ob der andere überhaupt noch lebte und wo er gewesen war. Kriegsromantik, die uns zusammenhielt.
Doch immer wieder blitzte die Wahrheit hervor. Und sie verstörte mich jedes Mal und belastete die Familienbande. Die zunächst unkritische Verehrung meiner Großeltern als vorbildliche Gutmenschen bekam einen ersten Knacks, als ich erfuhr, dass mein Großvater als Arzt im örtlichen Arbeitserziehungslager gearbeitet hatte. Doch auch hier übte sich meine Familie in Beschwichtigung. Er habe sich "nichts zu Schulden kommen lassen", sei bloß ein Mitläufer gewesen. Wieder ließ ich das Thema auf sich beruhen. Vorerst.
Als er älter und schwächer wurde, sprach mein Vater immer wieder davon, die Briefe und Dokumente aus der "Schatzkiste" verbrennen zu wollen. Ich protestierte heftig. Neben dem persönlichen Bezug, den seine Nachkommen dazu hätten, seien sie schließlich auch Zeitzeugnisse, die nicht einfach vernichtet werden dürften, erklärte ich ihm. Mein Vater sträubte sich, es gab viele Debatten. Erst kurz vor seinem Tod willigte er ein, mir die Kiste zu vererben, unter der Bedingung des achtsamen und nicht denunziatorischen Umgangs damit.
Sie wurden mir extrem fremd
Was ich in der Kiste fand, veränderte sehr viel.
Da war das Paket mit Liebesbriefen meiner Eltern, das mich in ein heftiges Gefühlswirrwarr riss: Einerseits erlebte ich sie plötzlich als junge Menschen mit all ihren Plänen, Sehnsüchten, ihrer Verliebtheit, ihrem Trennungsschmerz - sie kamen mir ganz nah. Andererseits wurden sie mir extrem fremd, weil ich nun mit eigenen Augen las, wie enthusiastisch, vorbehaltlos, ja, gläubig sie Hitler verehrten, sich ihm zur Treue verpflichtet gefühlt hatten. Wie stolz sie auf ihn gewesen waren, alles bejahend, weit darüber hinaus, was ich bis dahin für möglich gehalten hatte. Selbst nach Kriegsende verherrlichte mein Vater in einem Tagebucheintrag "den Führer", der es doch nur gut gemeint, sich für das deutsche Volk aufgeopfert habe und nun den Heldentod gestorben sei. Er trauerte um ihn. Und erregte sich noch 1946 über Leute, die nun abfällig über Hitler sprachen, hielt sie für treu- und ehrlose Verräter, die ihr Fähnchen nach dem Wind hängten.
Neben den Briefen und Tagebucheinträgen stieß ich auf allerlei andere Dokumente, die widerlegten, dass sich meine Eltern nicht mehr an das Geschehene erinnern hatten können. Dafür hatte die NS-Ideologie in unserer Familie einen zu hohen Stellenwert gehabt. Den ganzen Irrsinn dieser Zeit spiegelt ein Brief meines schwerstbehinderten Onkels wider, den er im April 1945 an meinen Vater schickte.
Jeder Deutsche, schrieb dieser körperlich stark eingeschränkte Mann, sei verpflichtet, "alle seine körperlichen und geistigen Kräfte restlos und ausschließlich für den Kampf und damit für unseren Endsieg" einzusetzen: "Wer hierzu nicht fähig oder nicht gewillt ist oder wer sich dieser Verpflichtung gar feige zu entziehen versucht, ist ein Volksverräter und unnützer Fresser, der aus der schwer ringenden Volksgemeinschaft rücksichtslos und ohne Ansehung der Person auszumerzen und physisch zu vernichten ist." Er, nach den Schilderungen meines Vaters ein sanftmütiger, intellektueller Poet, wäre vermutlich selber der "Aktion T4" zum Opfer gefallen, wenn mein Großvater ihn nicht bei sich behalten und gepflegt hätte. Ich war erschüttert.
Und dann wieder: der emotionale Spagat. Denn gleichzeitig lösten die Briefe meines Großvaters, der Stadtrat für die NSDAP war und gleichzeitig seinen behinderten Sohn vor der Gesinnung seiner eigenen Partei schützte, trotz aller Abwehr auch tiefes Mitgefühl in mir aus.
Es bleiben weitere Geheimnisse
Diese Zerrissenheit ließ mir keine Ruhe. Ich recherchierte immer intensiver, um den Familiengeheimnissen weiter auf den Grund zu gehen und die "doppelte Buchführung" meiner Eltern irgendwie zu verstehen. Wenn ich spätabends von der Arbeit nach Hause kam, transkribierte ich die Briefe und Dokumente aus der Sütterlinschrift ins Hochdeutsche, um sie auch anderen Lesern, vor allem meinen Kindern, zugänglich zu machen.
Rund drei Jahre kostete mich diese Arbeit, mehr als 1500 Seiten sind zusammengekommen. Das vorläufige Ergebnis ist genauso zwiegespalten wie es meine Gefühle waren, als ich die "Schatzkiste" zum ersten Mal öffnete: Da ist diese persönliche Betroffenheit, ich fühlte mich mit jedem weiteren Dokument zerrissener als zuvor. Gleichzeitig spüre ich aber auch Erleichterung für die Aufklärung, die es mir ermöglicht, meine Familiengeschichte und meine eigene Position darin besser zu verstehen.
Trotzdem wird noch viel Zeit vergehen, bis ich die Kiste endgültig schließen kann. Denn die entdeckten Spuren und Hinweise drängten mich zu weiterer Erforschung. So fand ich heraus, auf welchen U-Booten mein Vater im Einsatz war, der von einem seiner Freunde als "Jäger des Eismeers" bezeichnet wurde. Mir lief ein Schauer über den Rücken bei der Vorstellung, er könnte für den Tod vieler Menschen verantwortlich sein. Ich stellte dann aber fest, dass es während seiner Einsätze zu keiner "erfolgreichen" Feindberührung kam.
Ich nahm daraufhin Kontakt zu Experten auf, die mir weitere Möglichkeiten der Recherche eröffneten. Dabei stieß ich unter vielem anderen auf das Aktenzeichen der Vernehmung meines Großvaters im Jahr 1945 durch eine belgische Kommission zur Verfolgung von Kriegsverbrechen. Sie beschäftigte sich damals mit seiner Tätigkeit im Arbeitserziehungslager. Auf Anforderung wurde mir dieses Dokument tatsächlich von den National Archives in London zugeschickt. Plötzlich konnte ich mir ein authentisches Bild von seiner Funktion machen und mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass meine Eltern mich in dieser Hinsicht zumindest nicht belogen hatten.
Es bleiben noch weitere Geheimnisse zu entschlüsseln. Wenigstens ansatzweise zu erfahren, "wie es wirklich war", hat mich sehr entlastet und ist ein Ansporn für weitere Bemühungen zur "Entmythologisierung". Auch im Interesse der nächsten Generation.
Aufgezeichnet von Lena Steeg.
Wenn auch Sie die Lebenswege Ihrer Vorfahren während der Zeit des Nationalsozialismus nachverfolgen möchten, finden Sie hier eine Aufstellung der in den Protokollen erwähnten Dokumente und Archive für Ihre eigene Spurensuche.
Leider gibt es nicht nur eine Anlaufstelle, in der alle relevanten Unterlagen für diese Zeit gelagert sind. Durch Kriegsverluste variiert die Wahrscheinlichkeit, in Archiven Antworten auf Fragen zu erhalten.Militärdienst, Militäreinsätze, Auszeichnungen, Verwundungen, Kriegsgefangenschaften:
Die "Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht" kurz "WASt" (http://www.dd-wast.de/ ) erteilt Auskünfte über alle Aspekte im Zusammenhang mit dem Militärdienst in der Wehrmacht. Angaben zu Beginn und Ende des Wehrdienstes, über Zugehörigkeiten zu verschiedenen Truppenteilen, Beförderungen, Auszeichnungen, etc. Darüber hinaus können auch Informationen über mögliche Verwundungen oder Kriegsgefangenschaften vorhanden sein, oftmals sogar mit Fotos.
Weitere Unterlagen zu Kriegsgefangenschaften, Verhören, etc. können sich eventuell auch in den Hauptarchiven der alliierten Streitkräfte, z. B. in den National Archives in London oder Washington, DC befinden.
Kategorie I: Hauptschuldige (Kriegsverbrecher)
Kategorie II: Belastete (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer)
Kategorie III: Minderbelastete
Kategorie IV: Mitläufer
Kategorie V: Entlastete
Die Akten der Kategorien IV und V werden meist in den regionalen Stadt-, Staats- oder Landesarchiven aufbewahrt, abhängig vom Wohnort zum Zeitpunkt der Erhebung. Die Akten der Personen, die in die Kategorien I - III befinden sich ausschließlich im Bundesarchiv Berlin (http://www.bundesarchiv.de/bundesarchiv/dienstorte/berlin_lichterfelde/index.html.de ).
Prozessakten:In Spruchkammerverfahren wurden zwischen 1946-1949 in den drei westlichen Besatzungszonen Personen, die in die oben erwähnten Kategorien I und II eingeteilt waren, verurteilt. Oftmals endete ein Verfahren mit einer Einstufung als Mitläufer. Diese Akten werden im Bundesarchiv Koblenz (http://www.bundesarchiv.de/bundesarchiv/dienstorte/koblenz/index.html.de ) verwahrt.Als zentrale Anlaufstelle für Akten zu Nachkriegsprozessen aller bundesweiten Staatsanwaltschaften und Gerichte seit 1958 sollte jedoch das Bundesarchiv Ludwigsburg (http://www.bundesarchiv.de/bundesarchiv/dienstorte/ludwigsburg/index.html.de ) (Zentralstelle für Aufklärung von NS-Verbrechen) kontaktiert werden. Hier gibt es neben vielen Originalakten auch Kopien der sonst regional aufbewahrten Akten. Des Weiteren können Originale einiger Verfahrensakten Nationalsozialistischer Gewaltverbrechen auch in den Archiven am Ort der jeweiligen Prozesse recherchiert werden.Personalakten von Offizieren:Im Bundesarchiv Freiburg (http://www.bundesarchiv.de/bundesarchiv/dienstorte/freiburg/index.html.de ) existieren Personalakten der Offiziere. Diese Akten können Unterlagen wie persönliche Führungszeugnisse, Aufstellungen der Dienstlaufbahn, mit Beförderungen, Auszeichnungen, Einsätze in Truppenteilen enthalten. Aber auch Fotos sowie Angaben zu Lehrgängen, Beurteilungen von Charakter und Persönlichkeit, Führungsqualitäten können hier überliefert sein.Zusätzliche Hintergrundinformationen:Wer den Werdegang des Vorfahren in historischen Zusammenhang setzen möchte, wird in der weiterführenden Fachliteratur fündig, die man im Fachhandel und über das Internet bekommt oder in regionalen Archiven oder Universitätsbibliotheken einsehen kann. Dort ist auch eine Recherche in historischen Zeitungen möglich.
Die Historiker und Mitarbeiter der vielen Gedenkstätten, die meist an Plätzen der Gräueltaten der Nationalsozialisten angesiedelt sind, geben ebenfalls Auskunft oder bieten Seminare zu verschiedenen Themen der NS-Zeit an. Hier sei beispielsweise die Gedenkstätte des KZ-Neuengamme (http://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/index.php?id=424 ) genannt.Trotz der Kriegswirren sind verhältnismäßig viele Dokumente bis zum heutigen Tag erhalten geblieben. Die Recherche kann kostspielig sein und ist vor allem langwierig. Zur Zeit dauert die Bearbeitung einer Anfrage bei der WASt mehr als 12 Monate. Die einzelnen Archive und Gedenkstätten sind sehr hilfreich und verweisen an andere Stellen für die Fortsetzung der Recherche.
Diese Aufstellung ist nur eine kleine Auswahl der möglichen Quellen, die personenbezogenen Unterlagen aus der Zeit des Nationalsozialismus preisgeben. Auch wurden hier nur die Unterlagen über Täter, nicht jedoch die für die Recherche nach Opfern erwähnt.Andrea Bentschneider bietet seit 2004 mit ihrer Agentur Beyond History professionelle Ahnen- und Familienforschung an. Sie ist Vorsitzende des Berufsverbandes der deutschen Berufsgenealogen.(http://www.beyond-history.de/de/index.php )