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Patrick Mariathasan / DER SPIEGEL

Neues von gestern – der Geschichte-Newsletter Der unbekannte Widerstand

Liebe Leserin, lieber Leser,

was wissen Sie eigentlich über den jüdischen Widerstand gegen Hitler? Ich muss gestehen: Ich weiß immer noch nicht genug. In meiner Schulzeit (Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre) haben wir zwar den Holocaust ausführlich behandelt. Dass aber der Widerstand jüdischer Männer und Frauen gegen die Nazis jemals vorgekommen wäre, daran erinnere ich mich nicht. Auch in meinem Geschichtsstudium (zweite Hälfte der Neunzigerjahre) kam das Thema offenbar nicht zur Sprache (jedenfalls finde ich in meinem Gedächtnis nichts darüber).

Gefragt nach Widerstand im Nationalsozialismus, fallen den meisten wohl die Weiße Rose und die Verschwörer vom 20. Juli 1944 ein. Und vielleicht noch der Hitler-Attentäter Georg Elser.

Juden und Jüdinnen hingegen werden vorwiegend als Opfer wahrgenommen, denen Schreckliches angetan wurde, die unendliches Leid erleiden mussten oder die, viel zu wenige, gerettet wurden – aber eben nicht als aktive Kämpferinnen, als wehrhafte, widerständige Helden, als selbst Handelnde.

Unser Bild von der Vergangenheit und vielleicht sogar unsere gesamte Erinnerungskultur ist an dieser Stelle unvollständig, einseitig, sogar verfälschend. Lange herrschte diese verzerrte Sicht sogar in der historischen Forschung vor, wie die Historikerin Karina Urbach vor einiger Zeit für uns aufgeschrieben hat : Die vielfältigen Formen des jüdischen Widerstands wurden übersehen, weil sie einfach nicht ins gängige Bild passen.

Wehrhaft: Auch im Ghetto Białystok (Aufnahme des Eingangs von 1943) entschlossen sich Jüdinnen und Juden zum Widerstand

Wehrhaft: Auch im Ghetto Białystok (Aufnahme des Eingangs von 1943) entschlossen sich Jüdinnen und Juden zum Widerstand

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AW

Erst seit einiger Zeit ändert und weitet sich die Perspektive. Inzwischen weiß man um Geschichten wie jene der jüdischen Berliner Widerstandsgruppe Chug Chaluzi , die jüdischen Teenagern half. Oder jene der jüdischen Schwestern Janny und Lien Brilleslijper, die in den deutsch besetzten Niederlanden andere Juden versteckten, bis sie verraten wurden.

Vielleicht am bekanntesten ist der Aufstand im Warschauer Ghetto, bei dem sich im Frühjahr 1943, also vor genau 80 Jahren, Jüdinnen und Juden gegen ihre Deportation in Vernichtungslager wehrten. Der Widerstand wurde von den Deutschen brutal niedergeschlagen.

Weltbekannt: Dieses Bild wurde zu einem Symbol des Holocaust

Weltbekannt: Dieses Bild wurde zu einem Symbol des Holocaust

Foto: U.S. National Archives and Records Administration

Ziemlich sicher haben Sie Fotos von dem Aufstand schon gesehen, zum Beispiel das berühmte Bild des Jungen mit erhobenen Armen. Es wurde zu einem Symbol für den Holocaust. Aber wussten Sie, dass dieses und andere bekannte Fotos aus Warschau Propagandabilder der SS sind? Und sie zum Teil inszeniert wurden, um die Nationalsozialisten besonders mutig aussehen zu lassen?

Die Wissenschaftler Tal Bruttmann und Christoph Kreutzmüller haben zum Jahrestag des Aufstands die Aufnahmen der SS genau analysiert – und erklären hier , warum diese nicht einmal die halbe Wahrheit zeigen.

Und sie haben den Propagandabildern Fotos von jungen Widerstandskämpfern aus dem Ghetto gegenübergestellt:

Dvora Baran, eine junge Frau, die sich den Deutschen entgegenstellte.

Jurek Blones, ein 23-jähriger Mechaniker.

Zygmund Friedrich, der die Vorgänge im Lager Treblinka auskundschaftete.

Die Schneiderin Pola Elster, die den Aufstand im Ghetto überlebte und im Jahr darauf im Kampf gegen die Deutschen starb.

Oder Salek Hazenszprung, der Rettungswege nach Ungarn aufbaute.

Widerstandskämpferin Dvora Baran (ca. 1922 bis 21. April 1943): Als Mitglied einer von Hanoch Gutman befehligten Einheit nahm Dvora Baran an den Kämpfen im »Gebüschsektor« teil, dann an der Schlacht in der Franciszkańska-Straße 30. Sie fiel am dritten Tag des Kampfes.

Widerstandskämpferin Dvora Baran (ca. 1922 bis 21. April 1943): Als Mitglied einer von Hanoch Gutman befehligten Einheit nahm Dvora Baran an den Kämpfen im »Gebüschsektor« teil, dann an der Schlacht in der Franciszkańska-Straße 30. Sie fiel am dritten Tag des Kampfes.

Mich hat dieser Blickwechsel – von der Sicht der Täter zum Angesicht derer, die gegen sie kämpften – nachdenklich gemacht. In Zukunft, das habe ich mir vorgenommen, werde ich noch genauer hinschauen, aus welcher Perspektive wir Geschichte(n) erzählen und welche Geschichtsbilder wir damit transportieren.

Und: Ich will noch mehr erfahren zum jüdischen Widerstand. Wenn Sie Bücher oder Websites kennen, die ich dafür lesen sollte, schreiben Sie mir gern unter spiegelgeschichte@spiegel.de .

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