Krankheitsbild Neurasthenie
Der Burnout des frühen 20. Jahrhunderts
Diagnose Burnout - ein Phänomen des 21. Jahrhunderts? Wohl nicht. Schon vor hundert Jahren bekamen vor allem Berufstätige schweren Stress, der ihnen auf die Nerven schlug. Damals hieß das Krankheitsbild Neurasthenie. Wie eine Epidemie überzog die sogenannte Nervenschwäche Mitteleuropa.
Schriftsteller Robert Musil: Ein Fall von Neurasthenie
Foto: Ullstein/ dpa
Der österreichische Schriftsteller Robert Musil war eigentlich ein starker und eitler Mann. Doch im März 1913 ging er zu einem Nervenarzt. Dem Doktor schilderte er, dass er an Anfällen von Herzklopfen mit jagendem Puls leide, Zuckungen beim Einschlafen, Verdauungsstörungen verbunden mit Depressionszuständen, körperlicher und psychischer Ermüdung. Musil quälte der Stumpfsinn seiner damaligen Arbeit als Bibliothekar an der Technischen Hochschule in Wien.
"Heute würde man es Burnout nennen", schreibt der Autor Florian Illies in seinem Bestseller "1913" in einem Kapitel über den österreichischen Literaten. Damals lautete die Diagnose: Neurasthenie. Ein weit verbreitetes Phänomen ab Ende des 19. Jahrhunderts. Bereits um 1900 wurde dieses Krankheitsbild in Mitteleuropa wie eine Epidemie wahrgenommen; in den Jahren vor 1914 war sie eine der häufigsten Diagnosen überhaupt. "Spötter sangen: 'Raste nie und haste nie, sonst haste die Neurasthenie'", schreibt Illies.
Das Leiden wurde vielfach mit den Auswirkungen der "elektrischen Revolution" jener Zeit in Verbindung gebracht
War die Neurasthenie das Burnout des frühen 20. Jahrhunderts? Der Bielefelder Historiker Joachim Radkau sieht zumindest auffällige Analogien zwischen dem rasanten Anwachsen der Klagen über Burnout in den beiden vergangenen Jahrzehnten und der Neurasthenie-Welle ein Jahrhundert zuvor. Bei beiden Diagnosen handele es sich um Importe aus den USA, in beiden Fällen seien sie besonders im deutschen Kulturraum eingeschlagen.
Bekannt gemacht hatte den Begriff Neurasthenie der New Yorker Nervenarzt George Beard, etwa um 1880. Das Leiden sei vielfach mit den Auswirkungen der "elektrischen Revolution" jener Zeit in Verbindung gebracht worden - "ähnlich wie heute Burnout mit der elektronischen Revolution, der Reizüberflutung durch das Internet und der ständigen Erreichbarkeit über das Mobiltelefon", sagt Radkau.
Krankheitsgrund: "Hetzen und Jagen"
Als gängige Ursache der Neurasthenie galt in der zeitgenössischen Literatur das "Hetzen und Jagen" des modernen Wirtschaftslebens. "Damalige Patientenakten deuten jedoch darauf hin, dass sexuelle Frustrationen mindestens ebenso stark im Spiel waren", sagt Radkau. Auch Sigmund Freuds Fixierung auf sexuelle Ursprünge der Neurosen seien vor diesem Hintergrund zu verstehen. Ein weiteres prominentes Beispiel sei der Soziologe Max Weber, in dessen Korrespondenzen es von Nervenklagen nur so wimmelte.
Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges gelangte der "Nervendiskurs" dann auch in die Politik - als Mittel der Diskreditierung des politischen Gegners. "Der Vorwurf der Nervenschwäche flog hin und her, gerade unter solchen Politikern, die selber im Verdacht der Nervosität standen. Wilhelm II. galt Insidern als der Oberneurastheniker des Reichs", sagt Radkau. Dass der deutsche Kaiser in der Juli-Krise 1914 den Kriegstreibern nachgegeben habe, erkläre sich auch aus dem Bestreben, dem Verdacht der Nervenschwäche keine Nahrung zu geben.
"Wilhelm II. galt Insidern als der Oberneurastheniker des Reichs"
Hundert Jahre später sieht der Historiker eine Parallele: "Auch heute droht das Nerven-Palaver auf die Politik überzuspringen: Da liest man, zwischen der EU und Russland werde um die Ukraine ein "Nervenkrieg" geführt, so als ob die EU durch Härte gegenüber Moskau ihre Nervenkraft unter Beweis stellen müsse." Eine solche "Medikalisierung der Politik" sei jedoch gefährlich "und läuft einem nüchternen Abwägen der eigenen Interessen zuwider", meint Radkau.