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NS-Verbrecher vor Gericht: Die Nürnberger Prozesse

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Nürnberger Prozesse Blitzschlag im Gerichtssaal

Nach dem Grauen des NS-Regimes sollten ab 1945 in den Nürnberger Prozessen Recht und Ordnung in Deutschland wiederhergestellt werden. Doch die Urteile gegen Kriegsverbrecher erregten auch Widerstand.

Inmitten der Trümmerwüste, die einmal Nürnberg war, herrschte an diesem Tag das Gefühl, dass alles gut wird. Journalisten aus aller Welt waren angereist, den Beginn einer neuen Zeit hier in Nürnberg am 20. November 1945 ab zehn Uhr mitzuerleben. »Warm, luxuriös, alles glänzt in seidigem Licht«, beschrieb der aus den USA angereiste Schriftsteller John Dos Passos, die Stimmung im notdürftig reparierten Justizpalast: Vor dem »Internationalen Militärtribunal« der alliierten Siegermächte würde jetzt der »Hauptkriegsverbrecherprozess« gegen die Führungsspitze der Nazis beginnen.

»Die Neuordnung der Welt durch Recht«, so der amerikanische Chefankläger Robert Jackson, »die Wiederherstellung der Menschheit, zu der auch wir gehören«, so der deutsche Schriftsteller Alfred Döblin, der wegen seiner jüdischen Wurzeln vor dem NS-Regime nach Frankreich geflohen war: Das hätte eine ganz große Sache werden können. Doch das Festtagsgefühl an diesem Tag sollte alsbald einer bleiernen Beklemmung weichen. Die großen Ideen von Nürnberg wurden verschüttet von der zunehmenden Schmerzunempfindlichkeit der Deutschen, die ihre mörderische Vergangenheit nicht wahrhaben wollten, vom Verfolgungs-Übereifer der Siegermächte, von der aufkommenden Hysterie des Kalten Krieges, in dem die Kriegsverbrecher von gestern als Kämpfer gegen den Weltkommunismus von morgen gefragt waren.

20 Angeklagte wurden am 20. November in das seidige Licht der Filmscheinwerfer geschubst. Richter und Ankläger der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs würden hier die überlebenden Hauptverantwortlichen der Hitler-Diktatur zur Rechenschaft ziehen. Hermann Göring, der »Reichsmarschall«, saß auf der Anklagebank, ebenso führende Militärs wie Alfred Jodl und Wilhelm Keitel, Menschenschinder wie Ernst Kaltenbrunner, Chef des Reichssicherheitshauptamts, Politiker wie Reichsinnenminister Wilhelm Frick, Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, Hitlers Vertrauter und Rüstungs-Beschaffer Albert Speer. Außerdem kleine Lichter wie Hans Fritzsche, Verfasser von Durchhalte-Kommentaren im Radio.

Drei Freisprüche sollte es im Oktober 1946 geben, als die Urteile fielen, sieben Angeklagte erhielten lange Freiheitsstrafen, auf die übrigen wartete der »Tod durch den Strang«. Zehn der zwölf Todesurteile wurden am 16. Oktober 1946 vollstreckt. Hermann Göring tötete sich in der Nacht vor der Hinrichtung mit einer Zyankali-Kapsel selbst; NSDAP-Funktionär Martin Bormann wurde in Abwesenheit verurteilt und war bereits tot, wie sich erst später herausstellte.

Der Blitzschlag der Nürnberger Urteile erschütterte tatsächlich, wie Chefankläger Jackson das gewollt hatte, die Weltordnung in ihren Grundfesten. Erstmals in der Geschichte war durch den Spruch von Nürnberg der Angriffskrieg zum Verbrechen erklärt worden, erstmals waren Politiker und führende Militärs persönlich dafür zur Verantwortung gezogen, an den Galgen gebracht worden.

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Indem die Urteile auf ein von den Alliierten extra für Nürnberg vereinbartes Völkerstrafrecht gestützt wurden und von einem Supra-Nationalen »Völkerstrafgericht« verhängt wurden, stand das Heiligste zur Disposition, was sich seit 300 Jahren in der Welt der Staaten entwickelt hatte: Die staatliche Souveränität, das Recht des Souveräns, andere Staaten jederzeit mit Krieg zu überziehen und mit den eigenen Untertanen nach selbstgesetztem Recht umzuspringen, und sei es mörderisches Unrecht. Die alte »Westfälische Staatenordnung« wurde von den Richtern des internationalen Militärtribunals gekündigt. »Das Völkerrecht«, urteilte die »Süddeutsche Zeitung« an jenem Oktobertag, da der Blitz in Nürnberg einschlug, »hat eine neue, tiefe Bedeutung bekommen.«

Und nun, alles gut? Viele Deutsche hatten irgendwie gehofft, dass mit der Aburteilung der Obernazis unter dem Beifall der ganzen Welt das Jahrtausendverbrechen der Nazis erledigt sei. »Nach so furchtbarem Leid«, schrieb damals der Philosoph Karls Jaspers, wollten die Menschen »getröstet werden, aber nicht noch mit Schuld beladen werden«. Doch genau das taten die Siegermächte.

Sühne für ein Jahrtausendverbrechen

Besonders die US-Besatzer hatten sich vorgenommen, die bequeme Erklärung der Besiegten, dass nur einige wenige in Nazideutschland das Grauen, den Weltkrieg, den Völkermord zu verantworten hatten, als gefährliche Geschichtsfälschung zu entlarven. Als die Verurteilten des Nürnberger Tribunals am Galgen in der Gefängnisturnhalle hingerichtet, die Überlebenden in das Viermächtegefängnis in Berlin-Spandau eingesperrt worden waren, ging es erst richtig los: Nicht mehr die Neuordnung der Welt, sondern Sühne für ein Jahrtausendverbrechen und »Umerziehung« der Deutschen, die Hitler zugejubelt hatten – das war nun das Programm, das sich mit dem Gerichtsort Nürnberg verband.

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NS-Verbrecher vor Gericht: Die Nürnberger Prozesse

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Im Nürnberger Justizpalast starteten, unter alleiniger US-Regie, bald die »Nachfolgeprozesse«. Die Sowjets hatten sich längst mit den US-Juristen für alle Zeiten zerstritten und begannen in ihrer Ostzone mit eigenen Prozessen, die nach stalinistischem Muster zu Terroreinrichtungen des Ulbricht-Regimes wurden. Sie dienten überwiegend dazu, vermeintliche Gegner als »Nazi-Schergen« in die sibirische Zwangsarbeit zu schicken.

In Nürnberg, im gut geheizten Justizpalast, standen nun von den US-Anklägern handverlesene Nazi-Eliten zur Aburteilung: Im »Juristenprozess« ging es gegen führende NS-Richter, im »Ärzteprozess« um mörderische Mediziner und ihr Euthanasieprogramm, im »Einsatzgruppenprozess« um Massenmord von SS-Offizieren. Auch die für Krieg und Holocaust verantwortlichen Politiker des Auswärtigen Amtes kamen vor Gericht. Prominenter Delinquent: Ernst von Weizsäcker, AA-Staatssekretär unter Hitler, Urteil: sieben Jahre Haft.

Von der Entnazifizierung zum Persilschein

Das war noch lange nicht alles. Überall in den Westzonen verurteilten Militärtribunale auf der Grundlage des alliierten »Kontrollratsgesetz No. 10« Kriegsverbrecher, Menschenschinder, KZ−Wächter. Über 5000 Angeklagte saßen in den Nachkriegsjahren vor Militärtribunalen der West-Alliierten, mehr als 800 Todesurteile fielen. Die Säuberung schien kein Ende zu nehmen: Allein in US-Internierungslagern waren anfangs 100.000 Deutsche eingesperrt, einkassiert von den Besatzern unter Mittäter-Verdacht. Niemand wusste so recht, was mit ihnen geschehen sollte.

Zugleich rollte eine »Entnazifizierungs«-Welle über das Land, die nahezu jeden ergriff. In Millionen von Spruchkammer-Verfahren versuchten die Sieger, das Volk der Besiegten systematisch auf Nazi-Verstrickung zu screenen – ein Vorhaben, das sich als undurchführbar erwies, und, schließlich in deutsche Regie übergeben, als rein symbolische »Persilschein«-Vergabe endete.

Der Verfolgungseifer der Besatzer löste bei den schwer erziehbaren Deutschen überwiegend Widerstand aus. In der langsam wieder erwachenden deutschen Politik entwickelte sich, so der Jenaer Historiker Norbert Frei, »eine beispiellose Strategie der Verharmlosung, Leugnung und Irreführung« über die Schuld an den NS−Verbrechen. Dazu gehörte, so Frei, »die aggressive Instrumentalisierung des Kollektivschuldvorwurfs«.

Der Kollektivschuld-Trick ging so: Weil die Westmächte das Volk der Deutschen vernichten wollen, versuchen sie, es »kollektiv« mit der Schuld an den NS-Verbrechen zu belasten. Die Argumentation, die für heutige Ohren stark nach Pegida klingt, war, so drückt es Frei aus, »Geschäftsgrundlage jeglichen vergangenheitsbezogenen Redens und Handelns der politischen Klasse in der Bundesrepublik«. Allen voran die Kirchen: Die »Ausrottung« der Deutschen sei von den Alliierten intendiert, wütete der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen. Der Wiesbadener Kirchenpräsident Martin Niemöller – selbst von Nazis verfolgt – rief seine Pfarrer zum passiven »Widerstand« gegen die Entnazifizierung auf.

Kriegsverbrecher oder Kriegsgefangene?

Die weltlichen Eliten waren nicht einsichtiger. Im »Heidelberger Kreis« fanden sich Rechtsintellektuelle, Staatsrechtslehrer mit Verteidigern der NS-Angeklagten zusammen, um die Begnadigung der verurteilten Nazi-Offiziere zu erreichen. Das Hauptargument vor allem der Juristen gegen die Nürnberger »Siegerjustiz«: Die Urteile seien ungerecht, weil sie mit dem »Angriffskrieg« Taten als Verbrechen bestraften, die über Jahrhunderte, bis zum Blitzschlag von Nürnberg, als Heldentaten galten. Das Argument der rechtsstaatswidrigen »Rückwirkung« von Strafrecht war nicht ohne Weiteres vom Tisch zu wischen. Doch es wurde, ebenso wie die Kollektivschuld−Behauptung, missbraucht, um systematisch Täter zu Opfern umzulügen.

Bald mischte sich Verzweiflung über die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten mit Hass auf die vermeintliche Ungerechtigkeit der Nürnberger Nazi-Verfolgung. Der »Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten« (BHE) formierte sich, »Entrechtete« – das war die Abteilung »Nürnberg-Opfer«. Mit der Parole »Schluss mit der Entnazifizierung« schaffte es der BHE, ein Sammelbecken alter SS-Kameraden, bei den Bundestagswahlen bis in Adenauers Regierungskoalition.

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In Bonn fanden solche Parolen viele Freunde. Als sich dort im Januar 1951 herumsprach, dass im Gefängnis des bayerischen Landsbergs, wo viele von den Alliierten zum Tode Verurteilte untergebracht waren, mehrfach verschobene Hinrichtungen anstanden, machte die CSU mobil. Bundestagsabgeordnete eilten nach Bayern, Landsbergs Oberbürgermeister organisierte eine Kundgebung auf dem Hauptplatz. Alle kamen, zu demonstrieren für die Freilassung der »Kriegsgefangenen«.

»Kriegsgefangene«: Das war auch so ein Trick der Politik. Natürlich saßen da nicht – von internationalen Konventionen vor Bestrafung geschützte – gefangene gegnerische Soldaten, sondern wegen Massenmorden verurteilte Kriegsverbrecher.

Begnadigt wurden die meisten dennoch: Der Beginn des Korea-Krieges machte es wahrscheinlich, dass West−Deutschland demnächst mit den USA gegen den Kommunismus kämpfen müsste. Sollten die Amerikaner da wirklich den Verbündeten von morgen noch wegen der Verbrechen von gestern böse sein?

Adenauer erreichte nach langen Verhandlungen einen »Schlussstrich«. Das war 1952 der »Deutschlandvertrag« mit den Westmächten. Darin bekam der Staat einen Teil seiner Souveränität zurück. Und ganz versteckt ist festgehalten, was hierzulande schon lange galt: Die Nürnberger Urteile werden von Deutschland nicht anerkannt.

Es sollte mehr als ein Jahrzehnt dauern, bis Deutschlands Justiz mit den Auschwitzprozessen die Strafverfolgung von Nazi-Mördern selbst in die Hand nahm, und fast ein halbes Jahrhundert, bevor die Deutschen die Gründungsdokumente für den Völkerstrafgerichtshof in Den Haag unterschrieben − der auf den Prinzipien aufgebaut ist, die am 20. November 1945 in Nürnberg verkündet wurden.

Hinweis: In einer früheren Version dieses Textes wurde Göring fälschlicherweise als »Reichsfeldmarschall« statt, wie nun korrigiert, als »Reichsmarschall« bezeichnet.

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